Der erste von uns in Europa
Homo sapiens erreichte unseren Kontinent Jahrtausende früher als bislang gedacht
Der moderne Mensch lebte bereits vor mindestens 45.000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien, dokumentieren neue Forschungsergebnisse. Er jagte dort Wisente und Hirsche, stellte hochwertige Steinwerkzeuge mit einer neuartigen Technologie her und fertigte Schmuck aus den Zähnen von Höhlenbären. Diese Neuerungen beeindruckten offenbar auch den bisherigen Herrscher Europas, den Neandertaler. Und das blieb nicht ohne Folgen
In den 1980er Jahren wurde eine Theorie populär, die die Geschichte der heutigen Menschheit in völlig neuem Licht erschienen ließ: Nicht in Europa oder Asien habe sich der Homo sapiens entwickelt, so hieß es, sondern in Afrika. Von dort habe er vor rund 100.000 Jahren begonnen, sich über die gesamte Erde auszubreiten und dabei alle älteren Menschenformen verdrängt – etwa den Neandertaler.
Doch wann genau erreichten die ersten Gruppen des Homo sapiens unseren eigenen, den europäischen Kontinent und besiedelten ihn dauerhaft? In den 1990er Jahren nahmen die Paläoanthropologen noch an, dies sei vor rund 35.000 Jahren geschehen, später verlegten sie das Eintreffen auf rund 40.000 Jahre vor. Aktuelle Forschungsergebnisse aus Bulgarien aber dokumentieren jetzt eine noch frühere Anwesenheit des modernen Menschen. Und werfen damit neues Licht auf das Verhältnis zwischen dem bereits ansässigen Neandertaler und dem afrikanischen Neuling.
In einer Höhle unweit der Donau siedelten die ersten modernen Menschen
Demnach war der Homo sapiens bereits vor mindestens 45.000 Jahren in Europa angekommen und hatte eine ganz neue Kultur mitgebracht. Ein internationales Forschungsteam um Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Archäologen der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia hatte seit 2015 Ausgrabungen in der Bacho-Kiro-Höhle vorgenommen, die rund 70 Kilometer südlich der Donau am nördlichen Rand des Balkangebirges liegt. Was die Forscher dabei zutage förderten, ist spektakulär.
Mehr als 11.000 einzelne Knochenfragmente hatten die Jahrtausende in einer dunklen Erdschicht überdauert. Doch da war noch mehr: Die Paläoanthropologen und Archäologen fanden zahlreiche filigran gearbeitete Werkzeuge aus Feuerstein und Knochen sowie auch Schmuckgegenstände: etwa Perlen und einen Anhänger aus den Zähnen eines Höhlenbären. Das Besondere daran: Die von den Menschen gefertigten Hinterlassenschaften wirkten moderner als alles, was Forscher bislang vom europäischen Kontinent kannten.
Erst eine Protein-Analyse verriet, welche der 11.000 Knochenbruchstücke menschlich waren
Die Analyse der Funde allerdings war eine knifflige Angelegenheit. Weil die Knochensplitter so klein waren, dass sich nicht erkennen ließ, von welcher Art sie stammten, ermittelten die Forscher die Abfolge von Aminosäuren in den Eiweißen der einzelnen Knochen. So konnten sie bestimmen, welche menschlicher Herkunft waren. Aus diesen menschlichen Fragmenten vermochten dann Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie DNA-Sequenzen zu gewinnen und zu analysieren. Das Ergebnis: Eindeutig moderner Homo sapiens und nicht Neandertaler.
Interessanterweise enthielten die DNA-Sequenzen an drei Stellen genetische Varianten, die auch heutige Menschen außerhalb des subsaharischen Afrikas in sich tragen. Sie bildeten sich erst heraus, nachdem die Menschen den Schwarzen Kontinent verlassen hatten und sich über die Erde auszubreiten begannen. Demnach stehen jene Bewohner der Bacho-Kiro-Höhle genetisch einer ursprünglichen, aus Afrika ausgewanderten Population nahe.
Im nächsten Schritt datierten Forscher der ETH Zürich das Alter der Knochenfragmente mithilfe eines Beschleuniger-Massenspektrometers, das eine besonders genaue Datierung erlaubt. Die Altersbestimmungen an den verschiedenen Knochen ergaben Werte zwischen 45.820 und 43.650 Jahre. Es gibt sogar eine Datierung aus einer noch älteren Fundschicht in der Bacho-Kiro-Höhle, die darauf hinweist, dass die modernen Menschen hier schon vor rund 47.000 Jahren gesiedelt haben könnten.
Wie und wovon sich die damaligen Bewohner ernährten, ließen die ebenfalls gefundenen Tierknochen und Schnittspuren daran erkennen. Demzufolge hatten die Menschen vor allem Wisente und Rotwild gejagt, aber auch andere Tiere erbeutet, etwa Ziegen und Pferde. Insgesamt fanden die Forscher Knochenfragmente von 23 verschiedenen Tierarten. Wie die Spuren daran zeigen, nutzten die Höhlenbewohner die Beute nicht nur, um ihren Hunger zu stillen, sondern auch als Rohstoffquelle, etwa um Knochenwerkzeuge herzustellen.
Es war der Beginn eines neuen Zeitalters
Vielleicht am spannendsten für die Forscher aber sind die Steinwerkzeuge und –waffen der frühen Bulgaren. Denn die Menschen nutzten für ihre Herstellung eine moderne Technik, die bis dahin auf dem europäischen Kontinent unbekannt, jedoch im östlichen Mittelmeerraum (Levante) und in Vorderasien verbreitet war. Den hochwertigen Feuerstein für ihre Geräte schafften die Bewohner aus bis zu 180 Kilometern Entfernung heran. Zu den Neuerungen gehörte auch, dass die Menschen nun persönliche Schmuckgegenstände herstellten – etwa jenen dort gefundenen Anhänger aus Höhlenbär-Zähnen.
Es könnte der Beginn einer kulturellen Umwälzung gewesen sein, die sich bald darauf über ganz Eurasien bis an die Mongolei im Osten erstreckte und den Übergang in ein neues Zeitalter markiert – die jüngere Altsteinzeit. Auch die Neandertaler blieben davon nicht unbeeindruckt. In der französischen Grotte du Renne etwa wurden verblüffend ähnliche Anhänger wie jener aus Bärenzähnen gefunden, zudem andere persönliche Schmuckgegenstände und auch feine Knochenwerkzeuge. Die Datierung der Relikte ergab ein Alter von 41.000 Jahren – doch in jener Zeit lebten an diesem Ort nachweislich Neandertaler. Offenbar hatten diese Ur-Europäer kulturelle Anregungen vom neu eingewanderten Homo sapiens übernommen und so ihre eigene Kultur bereichert.
Frühere Einwanderer aus Afrika hatten sich gegen die Neandertaler nicht durchsetzen können
Die Neandertaler hatten sich schon vor weit mehr als 200.000 Jahren in Europa entwickelt und diesen Kontinent seither beherrscht. Doch immer wieder hatte es Vorstöße des Homo sapiens nach Europa gegeben. So hatte die Tübinger Forscherin Katerina Harvati zusammen mit Kollegen ein 210.000 Jahre altes Schädelbruchstück aus dem Fundort Apidima in Südgriechenland untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Homo sapiens handeln muss. Doch konnte sich dieser nicht in Europa halten, denn – wie ein weiterer Fund aus Apidima belegt – besiedelten vor 170.000 Jahren wieder Neandertaler diesen Ort.
Bei der jüngsten Begegnung vor rund 45.000 Jahren aber ging die Begegnung anders aus: Obwohl die Neandertaler von den frisch eingewanderten modernen Menschen zunächst lernten und sich zu kulturellen Neuerungen anregen ließen, gerieten sie bald in Bedrängnis. Ihre Zahl nahm immer weiter ab und vor 39.000 Jahren verliert sich ihre Spur. Sie starben aus – warum genau, ist bis heute eine der großen ungelösten Fragen der Menschheitsgeschichte.