Spritze zur Migräne-Prophylaxe als Kassenleistung: Welche Voraussetzungen gelten?
Das Beispiel einer teuren Migräne-Spritze zeigt, wie kompliziert die Regeln und Zuständigkeiten im Gesundheitswesen sein können.

Lotte H.* ist wütend. Sie hat häufig schwere Migräne, sodass bei ihr Medikamente zur Vorbeugung nötig sind. Dafür bekommt sie den monoklonalen Antikörper Fremanezumab, den sie sich einmal im Monat als Spritze gibt. Seitdem hat sie deutlich seltener Migräne als vorher. Wäre da nicht ein kleines Problem: Ihr Neurologe besteht darauf, dass sie das Medikament alle sechs Monate absetzt, um „zu prüfen, ob doch eine Wunderheilung eingetreten ist“, wie es Lotte H. spöttisch formuliert. „Erst wenn es mir dann wieder nachgewiesen schlecht geht, bekomme ich ein neues Rezept.“
Was sie besonders empört: „Wie oft ich meine Prophylaxe gegen meine schwere Migräne aussetzen muss, bestimmen weder ich noch mein Neurologe noch die Leitlinie der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, sondern die Vorgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses.“ Das sagt zumindest der Neurologe.
Stimmt das? Kann es sein, dass die gesetzlichen Krankenkassen beziehungsweise der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der über Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entscheidet, wirklich so etwas fordern? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist in unserem komplizierten Gesundheitswesen gar nicht so leicht.
Welche Regeln gelten bei monoklonalen Antikörpern zur Migräneprophylaxe?
Fremanezumab ist einer von mehreren Antikörpern, die für die Vorbeugung von Migräne zugelassen sind. Diese Medikamente sind aber nicht das Mittel der ersten Wahl. Bei häufiger Migräne sollen Betroffene zunächst probieren, ob Prophylaxe ohne Medikamente möglich ist, also zum Beispiel herausfinden, welche Auslöser bei ihnen relevant sind und diese vermeiden. Falls das nicht reicht, gibt es eine Reihe von etablierten Medikamenten, die zur Migräneprophylaxe eingesetzt werden, zum Beispiel Metoprolol.
Die Antikörper werden nur eingesetzt, wenn die anderen Optionen nicht ausreichend helfen oder nicht infrage kommen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen:
Weil die Antikörper noch relativ neu sind, gibt es weniger Erfahrungswerte als für die älteren Medikamente.
In der frühen Nutzenbewertung, der sich alle neuen Arzneimittel in Deutschland unterziehen müssen, wurde für Fremanezumab nur für eine spezielle Gruppe von Betroffenen einen Zusatznutzen gegenüber den bisherigen Optionen nachgewiesen: Nämlich wenn alle anderen Medikamente nicht ausreichend helfen, die Betroffenen diese aus medizinischen Gründen nicht nutzen können oder sie nicht vertragen.
Hinzu kommt: Die Antikörper sind deutlich teurer als die anderen Medikamente zur Migräneprophylaxe. Pro Jahr kann die Behandlung mehrere Tausend Euro kosten, die anderen Medikamente zur Vorbeugung kosten meist nur ein Zehntel davon oder noch weniger.
Grundsätzlich gehören viele Medikamente zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Es sei denn, sie sind explizit ausgeschlossen oder es gelten bestimmte Einschränkungen. Solche Details finden sich etwa im Gesetz (Sozialgesetzbuch V) oder in der Arzneimittel-Richtlinie, über die der G-BA entscheidet. Dort gibt es keine Ausnahmen für Fremanezumab, das heißt also: Grundsätzlich übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Migräne-Spritze. In der Arzneimittel-Richtlinie finden sich für Fremanezumab auch keine Vorgaben für verbindliche Auslassversuche, so der Fachbegriff für die Pause, die Lotte H. regelmäßig machen soll. Dass der G-BA verantwortlich für diese Regelung wäre, stimmt also schon mal nicht.
Allerdings sind Kassen-Ärzt:innen zu einer wirtschaftlichen Verordnungsweise angehalten. Das heißt konkret zum Beispiel: Keine teuren Medikamente verordnen, wenn günstigere Alternativen genauso gut helfen. Und sorgfältig prüfen, ob die Verordnung überhaupt notwendig ist.
Was heißt das jetzt für Fremanezumab? Dazu gibt es Vereinbarungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), auf Bundesebene vertreten durch den GKV-Spitzenverband. In Preisverhandlungen mit dem Anbieter wurde dabei festgelegt, dass Kassenärzt:innen Fremanezumab nur für diejenigen Patient:innen verordnen sollen, für die ein Zusatznutzen festgestellt ist, sprich: bei denen die günstigeren Medikamente keine Option sind. Aber auch hier finden sich keine Festlegungen zu zwingenden Auslassversuchen nach sechs Monaten. Das bestätigt der GKV-Spitzenverband auf Anfrage: „Uns sind keine Richtlinien oder ähnliches bekannt, die einen verpflichtenden Auslassversuch nach sechs Monaten vorsehen. Die Entscheidung liegt hier im Ermessen der behandelnden Ärztin oder des behandelnden Arztes in Absprache mit der Patientin oder dem Patienten, ob dieser therapeutisch sinnvoll und für die Patientin oder den Patienten zumutbar ist.“
Auch eine Beraterin der Unabhängigen Patientenberatung, die gesetzlich Versicherte unter anderem zu Fragen der Kostenübernahme berät, kann in ihrer umfangreichen Datenbank keine verbindlichen Vorgaben für einen Auslassversuch nach sechs Monaten finden.
Wann sind Auslassversuche empfohlen?
Wenn es nicht an konkreten Vorschriften der Krankenkassen liegt: Das Gesetz verpflichtet Kassen-Ärzt:innen dazu, nach „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ zu behandeln. Findet sich hier vielleicht des Rätsels Lösung?
Ein Blick in die Fachinformation, die im Rahmen der Zulassung erstellt wird. Für in der EU zentral zugelassene Arzneimittel – das betrifft viele Medikamente mit neuen Wirkstoffen – sind auf der Website der europäischen Zulassungsbehörde die Fachinformationen auch auf Deutsch frei abrufbar. Für Fremanezumab findet sich dort der Hinweis: „Der Nutzen der Behandlung ist innerhalb von drei Monaten nach Behandlungsbeginn zu bewerten. Jede weitere Entscheidung bezüglich einer Fortführung der Behandlung ist für jeden Patienten individuell abzuwägen. Es wird empfohlen, die Notwendigkeit zur Fortsetzung der Behandlung danach regelmäßig zu beurteilen.“ Auch hier also keine verbindlichen Vorgaben für einen Auslassversuch nach sechs Monaten, wenn das Mittel den Betroffenen nachweislich hilft.
Die aktuelle Leitlinie zur Migräneprophylaxe empfiehlt, eine Migräneprophylaxe mit Medikamenten je nach Schwere und weiteren Erkrankungen nach 9 bis 12 Monaten beziehungsweise 12 bis 24 Monaten zu unterbrechen. Die Leitlinien-Empfehlungen liegen also deutlich über sechs Monaten. Eine frühere, inzwischen nicht mehr aktuelle Fassung, hatte allerdings Auslassversuche nach 6 bis 9 Monaten vorgesehen.
Diese Leitlinien-Empfehlungen sind Lotte H. bekannt: „Ich kenne selbst auch Leute, die dürfen das Medikament 18 Monate nehmen ohne Aussetzen, aber mein Neurologe besteht auf alle sechs Monate.“ Angeblich seien die neuen Leitlinien-Empfehlungen bei der Kostenübernahme nicht berücksichtigt worden.
Nur eine regionale Besonderheit?
Ein letzter Versuch: Manchmal gibt es regionale Vereinbarungen zur wirtschaftlichen Verordnung zwischen den zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und den Krankenkassen im jeweiligen Bundesland, die nur dort gelten. Und auf dieser Ebene wird regelmäßig überprüft, ob die Kassenärzt:innen die Vorgaben einhalten, also wirtschaftlich verordnen. Fallen hier Verstöße auf, sind unterschiedliche Konsequenzen möglich. Im Extremfall müssen Ärzt:innen die Mehrkosten den Krankenkassen in einem gewissen Rahmen erstatten. „Vielleicht hat mein Neurologe da mal schlechte Erfahrungen gemacht“, vermutet Lotte H.
Allerdings gilt hier für Fremanezumab eine Ausnahmeregelung: Bei manchen Erkrankungen stehen nur teure Medikamente zur Verfügung. Um Praxen nicht zu benachteiligen, die viele solcher Patient:innen betreuen, vereinbaren die gesetzlichen Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen für solche Wirkstoffe „Praxisbesonderheiten“: Unter den definierten Bedingungen werden die höheren Kosten dann bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung entsprechend berücksichtigt. Fremanezumab gilt bundesweit als Praxisbesonderheit zur Migräneprophylaxe bei Menschen, bei denen die günstigeren Mittel keine Option sind. Für die anderen Migräne-Antikörper gelten teils andere Vorschriften.
Gibt es hier vielleicht eine zusätzliche regionale Regelung, dass Fremanezumab nur mit Auslassversuchen alle sechs Monate verordnet werden darf? Nachfrage bei der Patientenberatung der zuständigen KV Hamburg. In ihrer Antwort verweist die KV darauf, dass es zwar aus medizinischen und wirtschaftlichen Gründen sinnvoll sein kann, regelmäßig zu prüfen, ob das Medikament noch notwendig ist. „Eine Unterbrechung einer wirksamen Behandlung mit einem monoklonalen Antikörper zur Migräneprophylaxe nach einem bestimmten Zeitpunkt ist […] auch nach den regionalen Regelungen in Hamburg nicht zwingend erforderlich, sondern lediglich ein Leitlinienvorschlag. […] Ob und gegebenenfalls wann man den Auslassversuch vornimmt, bleibt daher zum jetzigen Zeitpunkt im Ermessen der Verordnenden.“
Allerdings war bis vor kurzem auf der Website der KV Hamburg ein Schreiben mit Datum Juli 2021 zu finden, das sich zur wirtschaftlichen Verordnung der Antikörper zur Migräneprophylaxe noch auf die alten Leitlinien-Empfehlungen und damit eine Unterbrechung nach 6 bis 9 Monaten bezieht. Das ist laut KV Hamburg nicht mehr aktuell und wurde inzwischen gelöscht. Seitdem haben die Kassenärzt:innen in Hamburg laut KV allerdings kein aktualisiertes Schreiben erhalten. „Ärztinnen und Ärzte, die ihren Beruf ausüben, sind verpflichtet, sich in dem Umfang beruflich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu ihrer Berufsausübung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist“, zitiert die KV dazu aus der Berufsordnung der Ärztekammern. Zumal habe „das damalige Schreiben […] allenfalls den Status einer Empfehlung.“
Was hilft Betroffenen im Zweifelsfall?
Grundsätzlich ist es eine gute Idee, in einem solchen Fall Arzt oder Ärztin um eine Begründung zu bitten, wenn sie behaupten, dass die Krankenkasse ein Arzneimittel nicht bezahlt oder bestimmte Vorgaben machen. Denn dann können Betroffene gezielt nachfragen und auch in anderen Quellen recherchieren. Bei Lotte H. stellte sich so heraus: Weder der G-BA, noch die Krankenkassen, noch die KV fordern einen verbindlichen Auslassversuch alle sechs Monate.
Oft sind die Details wie bei Fremanezumab ziemlich kompliziert. Dann können im Einzelfall die Unabhängige Patientenberatung oder die Patientenberatungen der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen dabei unterstützen, die geltenden Regeln herauszufinden, und vielleicht auch schriftliche Unterlagen erstellen, auf die Patient*innen im erneuten Gespräch mit Arzt oder Ärztin verweisen können.
Und wenn das nicht hilft? „Im Falle, dass weiterhin Zweifel bestehen, kann eine Zweitmeinung eingeholt werden“, rät die Techniker Krankenkasse Hamburg auf Anfrage. „Ich hätte gern eine zweite Meinung“, sagt Lotte H. Allerdings ist es oft schwierig, eine andere (Facharzt-)Praxis zu finden oder dort einen Termin zu bekommen. Vielleicht kann ihr aber eine Terminservicestelle weiterhelfen, die im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen Termine vermittelt.
*Der Name wurde geändert. Der echte Name ist der Autorin bekannt.