Seltene Krankheiten: Neue Medikamente oft nicht besser als die Standardtherapie

Vereinfachte Bewertung von Orphan Drugs verzerrt Wissen um den Zusatznutzen

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
6 Minuten
Ein Mann in Freizeitkleidung vergleicht zwei Medikamentenschachteln.

Stell’ dir vor, ein neues Medikament bringt keine Vorteile für Patient:innen im Vergleich zu bisherigen Behandlungsmöglichkeiten – und niemand will das wissen.

Klingt schräg? Bei einer bestimmten Gruppe von Medikamenten ist das in Deutschland aber die Regel und sogar gesetzlich so gewollt: bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen, im Fachjargon „Orphan Drugs“ genannt. Wie problematisch das sein kann, zeigt eine aktuelle Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Neue Medikamente müssen auf den Prüfstand

Um herauszufinden, ob neue Arzneimittel tatsächlich besser sind als bisherige Behandlungsmöglichkeiten, gibt es in Deutschland seit gut zehn Jahren die frühe Nutzenbewertung.

Dazu muss der Hersteller entsprechende Daten zusammenstellen, der Gemeinsame Bundesaussschuss (G-BA) lässt das IQWiG in der Regel ein Gutachten erstellen und entscheidet dann nach Anhörung aller Beteiligten, ob das Medikament einen Zusatznutzen hat und wenn ja, wie groß der ist.

Zum Vergleich: Bei der Zulassung prüft die zuständige Behörde, ob das Medikament überhaupt einen Effekt hat und angesichts dessen die Risiken vertretbar sind. Für die frühe Nutzenbewertung geht es um die Frage, ob das neue Mittel besser hilft oder verträglicher ist als die bisherige Standardtherapie und wie groß der Unterschied ist. Die Nutzenbewertung liefert damit wichtige Informationen für Ärzt:innen und Patient:innen, dient aber auch als Basis für Preisverhandlungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung.

Sonderfall: Orphan Drugs für seltene Krankheiten

Die Pflicht zur frühen Nutzenbewertung gilt im Wesentlichen für alle Medikamente mit neuen Wirkstoffen oder für neue Anwendungsgebiete, sobald sie in Deutschland auf den Markt kommen. Es gibt aber eine wichtige Ausnahme: Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Erkrankungen.

Als selten gelten Krankheiten, die in der EU weniger als 5 pro 10.000 Einwohner:innen betreffen. Das umfasst zum einen Erkrankungen, die außer Betroffenen und Mediziner:innen vermutlich nur wenige kennen, etwa das Ehlers-Danlos-Syndrom. Andererseits gehören dazu auch praktisch alle Fälle von Krebs bei Kindern sowie bekanntere Krebserkrankungen wie Schilddrüsenkrebs oder ein Non-Hodgkin-Lymphom. Und in der Summe sind es eine ganze Menge: In Deutschland leben schätzungsweise etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung.

Um die Forschung bei seltenen Krankheiten zu fördern, gibt es für die Orphan Drugs Erleichterungen bei der Zulassung und auch bei der frühen Nutzenbewertung. Eine reguläre Nutzenbewertung brauchen sie im Wesentlichen nur, wenn der Hersteller damit mehr als 50 Millionen Euro Jahresumsatz macht. Bei geringeren Umsätzen gilt ein vereinfachtes Verfahren.

Zusatznutzen: Nur auf dem Papier oder echt?

Vereinfacht bedeutet vor allem: Müssen die Hersteller bei anderen Arzneimitteln erst belegen, dass ein Zusatznutzen besteht, gilt der bei Orphan Drugs mit der Zulassung automatisch als gesetzt. Fachleute sprechen deshalb manchmal auch von einem „fiktiven“ Zusatznutzen. Es geht also nicht mehr um die Frage, ob das neue Medikament besser ist, sondern nur noch darum, wie groß der Unterschied zur Standardtherapie ist. Oft lässt sich das bei den Orphan Drugs nicht sicher sagen, dann lautet das Urteil: nicht quantifizierbarer Zusatznutzen.

Wird die Umsatzgrenze später überschritten, müssen sich aber auch die Orphans einer regulären Nutzenbewertung unterziehen. Und die hält manchmal einige Überraschungen bereit. Das belegt eine Auswertung des IQWiG, die im Januar 2022 veröffentlicht wurde.

Für ihre Analyse haben die Wissenschaftler:innen seit 2011 die Unterlagen zu allen Orphan Drugs ausgewertet, die zunächst ein vereinfachtes Verfahren und später die reguläre Nutzenbewertung durchlaufen haben. Das waren insgesamt 20 Wirkstoffe. Für diese gab es insgesamt 41 Detailbewertungen, weil Wirkstoffe manchmal für verschiedene Erkrankungen zugelassen sind und die Nutzenbewertung zusätzlich Patientengruppen unterscheidet, etwa in verschiedenen Krankheitsstadien oder mit unterschiedlichen vorherigen Behandlungen.

Bei rund einem Viertel der Detailbewertungen kamen das vereinfachte und das reguläre Verfahren zum gleichen Ergebnis. Bei 14 Prozent fiel das Urteil in der regulären Bewertung sogar besser aus als bei dem vereinfachten Verfahren. Allerdings stellte sich auch heraus, dass in mehr als der Hälfte der Fragestellungen die Annahme eines Zusatznutzens nicht gerechtfertigt war. Hier konnte der Hersteller also nicht belegen, dass die neuen Medikamente für die Patient:innen mehr nützen als die gängigen Behandlungen.

Dieses Ergebnis war nicht ganz überraschend, hatte doch ein ähnlich großer Anteil in der vereinfachten Nutzenbewertung nur einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen zuerkannt bekommen. Das ist meist ein Hinweis darauf, dass die zugrundeliegenden Studien wenig aussagekräftig sind.

Bessere Daten dringend gesucht

Mit dem erleichterten Verfahren für Orphan Drugs war eigentlich auch die Hoffnung verbunden, dass die Anbieter die Zeit nach der Zulassung für Studien nutzen, die den Stellenwert des neuen Medikaments besser ausloten. Ganz neue Studien gab es laut IQWiG-Analyse aber nur für jede zehnte Fragestellung. Immerhin für ein weiteres Viertel standen in der regulären Bewertung neue Daten aus fortgesetzten Studien oder neue Auswertungen bisheriger Studien zur Verfügung.

Ob bei Orphan Drugs überhaupt die gleichen Maßstäbe wie bei anderen Arzneimitteln gelten können, wird mitunter bestritten – so gibt es zum Beispiel deutlich weniger Patient:innen, die überhaupt an Studien mitwirken können. Die IQWiG-Analyse zeigt jedoch, dass der Status als Orphan Drug kein Hinderungsgrund sein muss, formal hochwertige Studien durchzuführen: So gab es bereits für die erleichterte Bewertung bei rund zwei Drittel aller Fragestellungen Daten aus randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), die als besonders zuverlässig gelten: Die zufällige Zuteilung der Teilnehmenden sorgt für eine gute Vergleichbarkeit von Behandlungs- und Kontrollgruppen.

Wie so häufig steckt der Teufel aber im Detail: Neben dem Studientyp beeinflusst auch die konkrete Gestaltung die Aussagekraft für die Nutzenbewertung: Erhalten die Teilnehmenden in der Kontrollgruppe tatsächlich die bisher bestmögliche Standardtherapie? Und wird wirklich das gemessen, was für Patient:innen tatsächlich relevant ist? Weil diese Bedingungen nicht immer erfüllt waren, konnten sich in der regulären Bewertung nur etwa 40 Prozent der Fragestellungen auf Daten aus RCTs stützen.

Folgen für Betroffene

Diese Situation ist kein wissenschaftstheoretisches Problem. „Dies hat Folgen für die Qualität der Patientenversorgung“, betont Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG-Ressorts Arzneimittelbewertung. „Neue Arzneimittel werden in diesen Fällen ohne Datengrundlage bevorzugt eingesetzt. Die Patientinnen und Patienten haben dann viel Hoffnung in ein neues Arzneimittel gesetzt, für das erst Jahre später klar wird, dass es gar keinen Nachweis einer Überlegenheit gegenüber den vorhandenen Therapieoptionen gibt.“

Problematisch sei auch, so das IQWiG, dass die irreführenden Ergebnisse aus der erleichterten Nutzenbewertung Ärzt:innen suggerierten, dass die bereits vorhandenen Therapieoptionen schlechter wären als die neuen Mittel.

Die Analyse beleuchtete auch, wie lange es eigentlich dauert, bis endlich klar wird, ob das neue Medikament tatsächlich Vorteile hat: Bei den 22 Detailbewertungen, bei denen letztlich kein Zusatznutzen festgestellt werden konnte, verging bis zur Neubewertung mindestens ein Jahr, manchmal aber bis zu neun Jahren. Es kann aber auch noch länger dauern, zum Beispiel wenn neue Orphan Drugs die Umsatzgrenze nicht erreichen und es damit keine reguläre Bewertung gibt.

Wenig Zusatznutzen, hoher Preis

Da das Ergebnis der Nutzenbewertung auch den Preis beeinflusst, den die solidarisch finanzierte gesetzliche Krankenversicherung für Orphan Drugs aufbringen muss, betrifft das Problem letztlich nicht nur Menschen mit seltenen Erkrankungen, sondern alle.

So beschreibt der Arzneimittel-Kompass 2021, herausgegeben vom Wissenschaftlichen Institut der AOK, dass Orphan Drugs bei Krebsmedikamenten zu den Wirkstoffen mit den höchsten Umsätzen gehören. Der AMNOG-Report der DAK weist darauf hin, dass in den letzten Jahren die Therapiekosten mit Orphan Drugs deutlich stärker gestiegen sind als mit regulär zugelassenen Arzneimitteln. Die Abkürzung AMNOG steht für Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, in dem die frühe Nutzenbewertung geregelt ist.

„Für Orphan Drugs mit einem echten Fortschritt für die Patientenversorgung mögen die hohen Preise berechtigt sein – für jene ohne Zusatznutzen aber nicht“, kommentiert das IQWiG diese Entwicklung.

Was sich bei der Nutzenbewertung ändern müsste

„Insgesamt wird ein wesentliches Ziel des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes, nämlich die Spreu vom Weizen trennen, bei Orphan Drugs durch das Privileg des fiktiven Zusatznutzens verhindert“, heißt es in der IQWiG-Analyse. Was ursprünglich dazu gedacht war, mehr Wissen über neue Medikamente zu erhalten, wird also letztlich ins Gegenteil verkehrt.

Deshalb fordert das IQWiG, künftig von Anfang an den Zusatznutzen von Orphan Drugs regulär zu bewerten. Es gebe auch andere Mechanismen, um wirtschaftliche Anreize für die Forschung zu seltenen Erkrankungen zu setzen. Nötig sei auch, patientenrelevante und versorgungsnahe Aspekte bei der Studienplanung besser zu berücksichtigen, so dass sowohl die Ansprüche der Zulassung als auch die der Nutzenbewertung erfüllt werden.

Diese Forderung hat das IQWiG bereits früher aufgestellt, auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vertritt die Position seit vielen Jahren.

Der Bericht adressiert auch eine weitere Baustelle: Seit einigen Jahren kann der G-BA den Hersteller verpflichten, für die Nutzenbewertung weitere Daten zu Nutzen und Risiken zu sammeln („anwendungsbegleitende Datenerhebung“). Allerdings sind die Möglichkeiten dazu derzeit gesetzlich sehr begrenzt, so dass randomisierte kontrollierte Studien nicht möglich sind. Das IQWiG fordert, das zu verändern, um Evidenzlücken zu schließen und so verlässlicheres Wissen zu Orphan Drugs zu bekommen.

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