Was brauchen Menschen, um gute Gesundheitsentscheidungen zu treffen?
Ein Streifzug durch aktuelle Diskussionen zum Thema Gesundheitskompetenz

Mehr Informationen zum Projekt „Plan G: Gesundheit verstehen“ finden Sie auf der Spezialseite Besser entscheiden in Sachen Gesundheit.
Das Ziel: Menschen sollen für sich und ihre Liebsten gute Gesundheitsentscheidungen treffen können. Damit das möglich wird, braucht es Anstrengungen von vielen Seiten, um die Gesundheitskompetenz zu verbessern. Eine Online-Konferenz Mitte Februar beleuchtete aktuelle Diskussionen und Projekte zu diesem Thema.
Wenn du gute Gesundheitsentscheidungen treffen willst, ist das oft nicht so einfach. Was es dafür braucht, wird häufig mit dem Stichwort Gesundheitskompetenz überschrieben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat dafür 2013 eine Definition geprägt [1], in der du viele Aspekte wiederfindest, um die wir uns bei Plan G kümmern.
Gesundheitskompetenz umfasst das Wissen, die Motivation und die Kompetenzen von Menschen, um relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form finden zu können, sie zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsheitsbewältigung, der Krankheitsprävention und der Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die die Lebensqualität im gesamten Lebenslauf erhalten oder verbessern.
Dass das im Alltag oft nicht so einfach ist, hast du vielleicht auch schon selbst erlebt. Besonders sichtbar wird das in der Corona-Pandemie, wenn die Dinge komplex sind und sich schnell verändern. Aus diesem Anlass hat eine Online-Konferenz Mitte Februar Interessierte aus vielen Bereichen zusammengebracht, um aktuelle Aspekte und Projekte rund um das Thema Gesundheitskompetenz zu diskutieren. Veranstaltet hat das Symposium Cochrane Deutschland, der deutsche Ableger des internationalen Forschungsnetzwerks [2]. Was es mit Cochrane auf sich hat, kannst du übrigens in unserem Artikel zu systematischen Übersichtsarbeiten nachlesen.
Die Veranstaltung richtete sich zwar hauptsächlich an Forschende und beruflich am Thema Interessierte, aber auch für Menschen, die persönliche Gesundheitsentscheidungen treffen müssen oder wollen, boten die Vorträge interessante Hintergründe.
Gesundheitskompetenz in Deutschland
Das Thema Gesundheitskompetenz hat in Deutschland noch keine lange Vorgeschichte. Marie-Luise Diercks von der Medizinischen Universität Hannover präsentierte einen kurzen Abriss: 2017 gründete sich auf Initiative des Bundesgesundheitsministeriums die Allianz für Gesundheitskompetenz, 2018 wurde der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz veröffentlicht. Viele Interessierte aus den verschiedensten Bereichen haben sich im Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz organisiert.
Diese vielfältigen Initiativen sind auch eine Reaktion auf die Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung zum Thema Gesundheitskompetenz aus dem Jahr 2016: Nach ihrer Selbsteinschätzung befragt, beschrieben mehr als die Hälfte der Menschen ihre Gesundheitskompetenz als eingeschränkt. Das hat auch praktische Konsequenzen, wie zum Beispiel Orientierungsschwierigkeiten im Gesundheitssystem und einen schlechteren Gesundheitszustand. Doris Schaeffer von der Universität Bielefeld stellte Ergebnisse einer aktuellen Folgebefragung vor, auch zu Aspekten, die 2020 erstmals erhoben wurden: Drei von vier Befragten fanden es schwierig, mit digitalen Gesundheitsinformationen umzugehen. Auch fällt es vielen schwer, sich im Gesundheitswesen zu orientieren, um Patientenrechte zu wissen und sie einzufordern, die Qualität von Einrichtungen zu bewerten und mit Ärzt:innen zu kommunizieren.
Gute und schlechte Gesundheitsinformationen und der Kommerz
Verschiedene Referent:innen beleuchteten Entwicklungen rund um Gesundheitsinformationen: Nicola Kuhrt von MedWatch berichtete über ein Projekt zum Erkennen von gefährlichen Gesundheitsinformationen, die erheblichen Schaden anrichten können. Jo Anthony von Cochrane gab einen Überblick zu den allgemeinverständlichen Zusammenfassungen von Cochrane Reviews. Mina Ahmadi vom Bundesgesundheitsministerium stellte das Nationale Gesundheitsportal und die dafür geplanten Weiterentwicklungen vor.
Eine interessante Nebendiskussion, die sich durch einige Vorträge zog: Das (noch nicht rechtskräftige) Gerichtsurteil, das die Kooperation von Google und dem Nationalen Gesundheitsportal aus kartellrechtlichen Gründen vorläufig untersagt, wurde vielfach als deutlicher Hinweis darauf gesehen, dass es einigen Anbietern von Gesundheitsinformationen mehr um kommerzielle Interessen als um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung geht.
Wie evidenzbasierte Gesundheitsinformationen zu Rückenschmerzen aussehen können, die parallel für Ärzt:innen und Patient:innen aufbereitet werden, präsentierte Sebastian Voigt-Radloff vom GAP-Projekt (Gut informierte Arzt-Patienten-Kommunikation). Patient:innen finden im Rückenschmerz-Portal zum Beispiel Videoanleitungen und Hintergrundinformationen, Ärzt:innen können auf aufbereitete Leitlinien-Empfehlungen und Tools für die Kommunikation in der Sprechstunde zugreifen.
Organisationen in der Pflicht
Müssen und können Patient:innen und an Gesundheit Interessierte allein dafür verantwortlich sein, dass sie gesundheitskompetent werden? Nein, so die These von Corinna Schaefer vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin und Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz. Gesundheitskompetenz sei kein individueller Verdienst, sondern werde oft durch strukturelle Voraussetzungen und Probleme beeinflusst.
Schaefer nannte zahlreiche soziale und umweltbezogene Faktoren, die Gesundheitskompetenz beeinflussen können: Angefangen bei der technischen Ausstattung der Internet-User und der Barrierefreiheit digitaler Informationsangebote über schwer verständliche Gesundheitsinformationen bis hin zu widersprüchlichen Botschaften von Medien und Wissenschaft und vielem mehr. Konkret kann das zum Beispiel heißen: Wenn Menschen Probleme haben, die richtigen Ansprechpartner im Gesundheitssystem zu identifizieren oder einen Termin in der richtigen Arztpraxis zu bekommen, liegt das nicht immer an ihnen selbst, sondern manchmal auch an Faktoren, die sie nicht oder nur schwer selbst beeinflussen können: etwa Bildung, soziales Umfeld oder die Komplexität der Gesundheitsversorgung.
Schaefer plädierte deshalb dafür, ein neues Verständnis von Gesundheitskompetenz zu entwickeln und dafür eine neue Blickrichtung einzunehmen: Es gehe nicht mehr allein darum, dass Menschen befähigt werden, die Komplexität von Gesundheitsentscheidungen zu bewältigen, sondern vielmehr müsse das Gesundheitssystem fähig und willens sein, der Komplexität der Menschen und ihrer Gesundheit gerecht zu werden. Die Kernfrage laute: Wie unterstützen Organisationen im Gesundheitssystem Menschen bestmöglich dabei, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen?
Auf dieser Basis hat das Deutsche Netzwerk Gesundheitskompetenz die Definition erweitert. Allerdings, so Schaefer, sei dieser Bereich bisher noch wenig entwickelt und erforscht.
Gesundheitskompetenz ist der Grad, zu dem Individuen durch das Bildungs-, Sozial und / oder Gesundheitssystem in die Lage versetzt werden, die für angemessene gesundheitsbezogene Entscheidungen relevanten Gesundheitsinformationen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen.
Share to care: Gemeinsam entscheiden in einer Uni-Klinik
Entsprechend diesem erweiterten Konzept von Gesundheitskompetenz hat sich das Projekt Share To Care am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, das Ziel gesetzt, gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision making) flächendeckend in den Klinikalltag zu integrieren.
Fülöp Scheibler stellte die vier Bestandteile des Projekts vor, mit denen das Vorhaben gelingen soll: So entwickelt ein Team evidenzbasierte Online-Entscheidungshilfen, damit sich Patient:innen umfassend informieren und Vor- und Nachteile von Behandlungen gemeinsam mit den behandelnden Ärzt:innen abwägen können. Decision Coaches, speziell geschulte nicht-ärztliche Fachkräfte, unterstützen Patient:innen ganz praktisch dabei, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Ärzt:innen bekommen ein Kommunikationstraining. Aufsteller und Flyer sollen Patient:innen ermuntern, sich über Behandlungsoptionen zu informieren und sich an den Entscheidungen zu beteiligen.
Fazit
Am interessantesten fand ich in der Diskussion, dass sich die Perspektive in Sachen Gesundheitskompetenz in der letzten Zeit stark erweitert hat. Gerade in der Corona-Pandemie ist für Deutschland, aber auch international, noch einmal deutlich geworden, dass gute Gesundheitsentscheidungen eben nicht nur vom Wissen oder Wollen einzelner Menschen abhängen, sondern entscheidend auch davon, inwieweit ihre Lebenswirklichkeit ihnen den Raum gibt, die Entscheidungen auch tatsächlich umzusetzen.
Projekte wie „Share to care“, bei denen sich ganze Organisationen den Herausforderungen guter Gesundheitsentscheidungen stellen, halte ich deshalb für zukunftsweisend. Wie bei so vielen Modellprojekten stellt sich aber die Frage: Wie können sie nach der Startphase weiter finanziert werden? Bei erfolgreichen Modellprojekten muss das Gesundheitssystem darauf dringend eine Antwort finden.
Transparenz-Hinweis: Die Autorin ist Mitglied im Deutschen Netzwerk Gesundheitskompetenz und gehört dem Beirat an.
Zum Weiterlesen
[1] Wenn du dich für die theoretischen Konzepte hinter dem Begriff Gesundheitskompetenz interessierst, empfehlen wir dir zum Stöbern die Website des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz, das einen guten Einstieg zum Thema bietet.
[2] Noch mehr Details zu den Inhalten der Online-Konferenz findest du auf Twitter unter #cdssymposium.