„Patient:innen haben ein Recht auf gute Entscheidungsunterstützung“

Wie Decision Coaches bei Gesundheitsentscheidungen helfen können: Ein Interview mit der Gesundheitswissenschaftlerin Anne Christin Rahn

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
7 Minuten
Professorin Dr. Anne Rahn

Eine Gesundheitsentscheidung steht an, die dir ganz schön kompliziert erscheint. Zum Beispiel, ob du für eine chronische Erkrankung eine bestimmte Behandlung anfangen sollst oder lieber noch wartest. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt: Für welche Therapie sollst du dich denn entscheiden? Oder wenn du hin und her gerissen bist, ob du die Einladung zur Krebs-Früherkennung annehmen solltest. Schwierig: Was ist denn jetzt die „richtige“ Entscheidung?

Für solche und ähnliche Situationen ist das Konzept von Decision Coaching gedacht. Darüber haben wir mit Anne Christin Rahn gesprochen. Sie ist Professorin in der Sektion Forschung und Lehre in der Pflege an der Universität zu Lübeck und forscht zu informierter Entscheidungsfindung mit dem Schwerpunkt Decision Coaching.

Was Decision Coaching bedeutet

Was kann ich mir unter „Decision Coaches“ genau vorstellen?

Leider gibt es keinen guten deutschen Begriff dafür. Allgemein gesagt unterstützen Decision Coaches konkrete Gesundheitsentscheidungen: Sie finden in einem strukturierten Gespräch heraus, was Patient:innen brauchen, um eine informierte Entscheidung treffen zu können und bieten dann gezielte Hilfe an.

Wie sieht diese Hilfe konkret aus?

Das ist sehr unterschiedlich. Die einen brauchen vielleicht noch mehr Informationen zu einzelnen Behandlungsmöglichkeiten. Die anderen finden es vielleicht schwierig herauszufinden, was ihnen tatsächlich wichtig ist.

Wie läuft so ein Decision Coaching ab?

Vielleicht wird das am besten an einem unserer Projekte deutlich: Wir haben in einer Studie Decision Coaching am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in der Ambulanz und Tagesklinik für Multiple Sklerose (MS) untersucht. Konkret ging es um Patient:innen mit einem schubförmigen MS-Verlauf, die vor der Frage standen: Soll ich mit einer Immuntherapie beginnen und wenn ja, mit welcher?

Wenn Gesundheitsentscheidungen komplex sind

Warum ist das eine schwierige Entscheidung?

Zunächst einmal müssen die Patient:innen entscheiden: Will ich überhaupt eine Therapie machen oder erst einmal abwarten? Je nach Krankheitsbild kann beides möglich sein. Falls sich die Person für eine Behandlung entscheidet, kann sie zwischen verschiedenen Arzneistoffen auswählen, die ganz unterschiedliche Nebenwirkungen haben. Außerdem gibt es die Immuntherapie in verschiedenen Formen: als Tabletten, als Spritzen oder als Infusionen.

Was beeinflusst die Entscheidung?

Da spielen viele Faktoren eine Rolle für die Patient:innen: Welche Einstellung habe ich zu meiner Erkrankung? Was ist meine Prognose? Wie bewerte ich Nutzen und Nebenwirkungen der verschiedenen Optionen für mich persönlich? Manchmal kommen auch Reaktionen aus dem Umfeld dazu, etwa wenn sich jemand entscheidet, erst einmal abzuwarten und keine Behandlung zu beginnen. Vielleicht drängen dann der Partner oder die Familie: „Du musst doch unbedingt etwas machen.“

Wie geht die MS-Ambulanz mit dieser Situation um?

Wenn sich abzeichnet, dass eine Entscheidung in Sachen Immuntherapie ansteht, schicken Arzt oder Ärztin die Patient:innen zu einem Decision Coaching. Die Coaches sind in diesem Fall Pflegefachpersonen oder medizinische Fachangestellte mit einer speziellen Weiterbildung im Bereich MS, die so genannten MS-Nurses. Sie sind außerdem darin geschult, Menschen bei Gesundheitsentscheidungen zu unterstützen.

Die Decision Coaches versuchen dann deutlich zu machen: Es gibt nicht die eine richtige Entscheidung, sondern es geht darum, sich individuell für das zu entscheiden, was zum eigenen Leben und den eigenen Vorstellungen passt [1]. Das kann übrigens auch heißen: Ich gebe die Entscheidung über die Behandlung an den Arzt oder die Ärztin ab. Für diesen Prozess haben wir ein Arbeitsbuch entwickelt, das die Patient:innen durch den Entscheidungsprozess begleitet und in das sie ihre Überlegungen und Entscheidungen eintragen können. Hier werden auch Informationen zur Diagnose, den aktuellen Befunden und möglichen Prognose eingetragen.

Wie Decision Coaching funktioniert

Wie startet dann üblicherweise ein Decision Coaching?

Die Decision Coaches besprechen mit den Patient:innen zuerst einmal die Rahmenbedingungen. Damit also zum Beispiel klar wird: Ist die Entscheidung dringend oder habe ich dafür Zeit? Wie sicher ist überhaupt meine Diagnose? Was sind meine individuellen Prognosefaktoren: Hatte ich zum Beispiel schon mehrere Schübe, die mich sehr eingeschränkt haben, oder hatte ich erst einen Schub, von dem ich mich wieder gut erholt habe?

Wie geht es danach weiter?

Wir haben eine evidenzbasierte Informationsplattform entwickelt. Darin haben wir zum Beispiel die Zahlen zu Nutzen und Risiken der einzelnen Behandlungsmöglichkeiten aufbereitet. Die MS-Nurse geht dann mit den Patient:innen die Optionen durch, die für sie in Frage kommen. Patient:innen können dann zum Beispiel auch sagen: Spritzen sind für mich keine Option – und dann werden nur die anderen Alternativen besprochen. Im Arbeitsbuch gibt es auch Fragen, die dabei helfen, mehr über die eigenen Wünsche, vielleicht auch Sorgen und Ängste herauszufinden.

Nach diesem Gespräch gehen die Patient:innen dann erst einmal nach Hause. Sie haben auch dort Zugriff auf die Plattform, können nochmal in Ruhe nachlesen und eventuelle Fragen für ein weiteres Gespräch notieren, das dann meistens zwei Wochen später stattfindet.

Wann wird dann die endgültige Entscheidung getroffen?

In der Ambulanz schließt sich meist direkt an das zweite Gespräch mit dem Decision Coach die Entscheidung mit Arzt oder Ärztin an. Auf das Arztgespräch sind die Patient:innen dann sehr gut vorbereitet und haben oft auch schon eine starke Präferenz für die eine oder andere Behandlungsoption.

Welche Rolle Decision Coaches spielen

Könnten Ärzt:innen mit guten Kommunikationsfähigkeiten das Decision Coaching nicht direkt selbst übernehmen? Oder anders gefragt: Bräuchte es dann noch Decision Coaches?

Bei einfachen Entscheidungen braucht es vielleicht kein separates Decision Coaching. Zum Beispiel, wenn Arzt oder Ärztin sich gut auf den Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung einlassen und den Patient:innen eine Entscheidungshilfe an die Hand geben. Ein großer Vorteil von Decision Coaches ist allerdings, dass sie neutral sind, weil sie später nicht an der Behandlung beteiligt sind. Es geht also mehr darum, die Entscheidung und das Gespräch mit Arzt oder Ärztin vorzubereiten. In manchen Situationen können Decision Coaches auch am Arztgespräch teilnehmen und Patient:innen unterstützen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie ihre Fragen nicht stellen oder ihre Wünsche nicht mit einbringen können.

Das Konzept von Decision Coaches fördert aber auch, dass das ganze Behandlungsteam und nicht nur die Ärzt:innen an der Entscheidungsfindung beteiligt sind. Wir nennen das „interprofessionelles Shared decision making“. Decision Coaches können, je nach Situation, ganz unterschiedliche Berufsgruppen sein, zum Beispiel Pflegefachpersonen, Psycholog:innen oder Physiotherapeut:innen.

Sind die Decision Coaches auch eine Entlastung für Ärzt:innen?

Die Erstgespräche der Decision Coaches dauern oft eine oder zwei Stunden – einfach weil es oft um komplexe Entscheidungen geht. Das passt meist nicht in den ärztlichen Alltag, und Patient:innen haben dann vielleicht auch Hemmungen, noch mehr Fragen zu stellen, wenn sie das volle Wartezimmer sehen. Bei den Decision Coaches ist mehr Ruhe. Das kann Patient:innen helfen, sich zu öffnen.

Was Decision Coaching nützt

Was weiß man aus Studien, was Decision Coaching tatsächlich bringt?

Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Wir arbeiten gerade an einem Cochrane Review, der die Studien zu der Frage zusammenfassen soll. Es hängt auch davon ab, was man eigentlich misst und was man vergleicht. Zum Beispiel: Nach dem Decision Coaching wissen Patient:innen in der Regel mehr. Das wird in Studien am häufigsten untersucht. Wenn man allerdings Decision Coaching plus schriftliche Entscheidungshilfen mit Entscheidungshilfen allein vergleicht, gibt es hinsichtlich des Wissens keinen Zusatznutzen. Das Wissen ist für gute Gesundheitsentscheidungen aber vielleicht gar nicht der wichtigste Punkt.

Was ist es denn stattdessen?

Zum Beispiel, wie gut sich Patient:innen informiert fühlen und ob sie glauben, auf die Entscheidung gut vorbereitet zu sein. Aber das wird in Studien bisher häufig gar nicht gemessen oder zumindest viel zu selten. Neuere Studien, die gerade noch laufen, machen das aber und dann haben wir in den nächsten Jahren bestimmt auch bessere Daten dazu. In unseren Studien hat sich übrigens bestätigt: Decision Coaching führt zu mehr informierten Entscheidungen.

Was wir außerdem wissen: Die Patient:innen finden Decision Coaching gut und hilfreich für die Entscheidungsfindung. Auch wenn noch viele Daten zum Nutzen fehlen: Für mich gehört Decision Coaching zu einer guten Patientenversorgung dazu. Patient:innen haben ein Recht auf gute Entscheidungsunterstützung.

Warum Decision Coaches noch selten sind

Wo kann ich denn Decision Coaches finden?

Bisher gibt es Decision Coaching leider hauptsächlich im Rahmen von Studien wie unseren [2] oder in Modellprojekten wie „Share to Care“. In der MS-Ambulanz in Hamburg haben wir nach der Studie mit Decision Coaching weitergemacht und bekommen von Patient:innen und Ärzt:innen sehr gute Rückmeldungen dazu.

Gibt es manchmal auch Widerstände gegen Decision Coaches?

In unseren Studien haben wir größtenteils sehr gute Erfahrungen gemacht. Aus anderen Untersuchungen weiß ich, dass es manchmal aber auch ärztliche Vorbehalte gibt. Und Ressourcen spielen eine wichtige Rolle: Weil die Beratungen Zeit brauchen und auch entsprechend ausgebildetes Personal.

Wo könnten sich interessierte Fachkräfte denn ausbilden lassen?

Fortbildungen zum Decision Coach für Gesundheitsberufe gibt es in Deutschland bislang meist nur im Rahmen von Studien. Wer sich auf eigene Faust fortbilden will: Es gibt ein freies Online-Selbstlern-Angebot aus Kanada, bislang allerdings nur auf Englisch.

Was müsste passieren, damit sich das Konzept Decision Coaching weiter verbreitet?

Zuerst einmal müssten Trainings für Decision Coaching in die Ausbildungen der entsprechenden Berufsgruppen verankert werden. Und dann bräuchte es auch die Akzeptanz für die neuen erweiterten Rollen, also dass zum Beispiel auch Pflegefachpersonen Patient:innen bei der Entscheidungsfindung unterstützen, nicht nur Ärzt:innen. Und schließlich ist auch irgendwann nötig, dass diese Leistung abgerechnet werden kann: Wenn Decision Coaching nicht vergütet wird, wird sich das in der Praxis nicht durchsetzen.

Zum Weiterlesen

[1] Das Konzept der informierten gemeinsamen Entscheidungsfindung und die einzelnen Schritte, die dazu gehören, beschreibt ein Beitrag, der 2019 im Journal der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg erschienen ist.

[2] In Deutschland gab es schon einige Studien, in denen Decision Coaching untersucht wurde. Dazu gehören u.a. die Studie mit MS-Patient:innen (DECIMS) und das Projekt SPUPEO, das sich an Frauen mit Brustkrebs richtete. Im Rahmen des Innovationsfonds wird derzeit ein Projekt zu familiärem Brustkrebs gefördert.

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