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Mit Katapult und Zahnrad – die Echte Käferzikade ist Weltmeisterin im Weitspringen
Weltmeister im Weitsprung: Wie Echte Käferzikaden sich per Katapult in Sicherheit bringen
Die winzigen Insekten halten bei ihren Sprüngen gewaltige Kräfte aus. Als Jugendliche wehren sich Käferzikaden mit Wachsborsten am Hinterteil gegen gefräßige Räuber.

Eigentlich ist dieser Maimorgen alles andere als optimal für die Insektenpirsch. Die Nacht brachte kühlen Regen, und zwischen dunkelgrauen Wolken lugt die Sonne nur zögerlich hindurch. Da ist es den meisten Insekten zu kalt. Sie bleiben lieber in ihren Verstecken. Viktor Hartung ist dennoch optimistisch: „Die Käferzikade ist so häufig, es würde mich wundern, wenn wir keine finden.“ Mit dem Kescher in der Hand drängt der Biologe aus seinem Büro im Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde, raus auf den kleinen Weg am Allwetterzoo vorbei.

An einer flachen Ligusterhecke streicht Hartung mit dem Kescher drei-, viermal über die Zweige. Er hebt die engmaschige Gaze mit der Hand leicht an und schaut hinein. „Da haben wir schon eine“, sagt er, „eine Nymphe, wie um diese Jahreszeit zu erwarten“.

Nymphen, so nennen Fachleute die Jugendstadien einiger Insekten. Diese junge Käferzikade ist bereits im vergangenen Jahr aus einem Ei geschlüpft und hat in der Streuschicht aus altem Laub und Holzresten am Boden oder zwischen den immergrünen Blättern des Efeus überwintert. Jetzt im Frühling sticht sie mit ihrem kräftigen Rüssel Bäume an und saugt wie durch einen Strohhalm süßen Pflanzensaft. Fünf Mal häutet sich die Zikade. Jedes Mal entsteigt sie dem alten Chitinpanzer ein kleines bisschen größer; nach der letzten Häutung ist sie ausgewachsen.
Weltrekordspringer dank Katapult
Obwohl sie so häufig ist, kennen die wenigsten Menschen Issus coleoptratus, wie die Echte Käferzikade mit wissenschaftlichem Namen heißt. Denn sie ist klein, rund sieben Millimeter misst das ausgewachsene Insekt. Zudem ist das beige-braune bis grünlich-graue Tier im Blätterwerk fast unsichtbar. Dunkelbraune Adern zaubern ein marmorartiges Muster auf die Deckflügel und lassen sie wie Leder aussehen. Die Facettenaugen schimmern rötlich-braun. Im Vergleich zum Kopf sind sie riesig.
Käferzikaden sind besonders: Ihre Flügel wölben sich über den gesamten Rücken. Dadurch sehen sie gedrungen aus, wie Käfer – daher ihr Name.
Bei den allermeisten Arten anderer Zikaden-Familien sind die schweren Deckflügel wie ein Satteldach geformt. Darunter verstecken sie ihre weichen Hinterflügel. Die klappen die Zikaden bei Bedarf aus und heben ab. Auch in dieser Hinsicht ist die Echte Käferzikade ein Sonderfall: Sie kann gar nicht fliegen.

Diesen scheinbaren Mangel macht sie spielend wett: Die beiden Hinterbeine der Echten Käferzikade arbeiten wie Katapulte. Kräftige Muskeln im Hinterleib des Insekts bauen einen Zug auf; die Energie speichern elastische Strukturen im Insektenkörper – gleich einem gespannten Bogen. Diese Energie entlädt sich beim Sprung schlagartig und beschleunigt die Zikade für den Bruchteil einer Sekunde auf mehr als die 700fache Erdbeschleunigung. Zum Vergleich: Bei einem Autounfall mit 50 Kilometern pro Stunde ist der Mensch kurzzeitig einer bis zu 200fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt. Die Folge sind schwere Verletzungen.
Die Käferzikade ist Weltrekordhalter im Weitsprung
Die winzige Zikade jedoch nutzt diese Energie, um mehr als einen Meter weit zu springen, also etwa 170fach weiter als sie selbst lang ist. „Unter den Insekten ist die Käferzikade damit momentan Weltrekordhalter im Weitsprung“, sagt Viktor Hartung. Wer braucht da schon Flügel?

Nymphe mit Zähnen
Die Nymphen der Echten Käferzikade warten mit einer weiteren Besonderheit auf. Wo die Hinterbeine sich unter dem Hinterleib berühren, an den sogenannten Schenkelringen, sitzen aufgereiht zehn bis zwölf Zähnchen. Die greifen ineinander wie die Zahnräder eines Uhrwerks. Bewegt sich das eine Hinterbein, muss das andere mit.
Derart synchronisiert behalten die Insekten beim Springen die Kontrolle und verhindern, dass sie taumeln oder sich um ihre Längsachse drehen. Sie erreichen zwar weder die Weite noch die Beschleunigung der erwachsenen Zikaden – einfach weil sie kleiner sind –, für eine gezielte Flucht vor Räubern reicht es aber allemal. Und es zeigt einmal mehr, dass die Natur Techniken erfindet, lange bevor der Mensch sie entwickelt.

Mit ihrer letzten Häutung verlieren die Zikaden die Zähne. Insektenforscher:innen erklären das damit, dass der Mechanismus zwar genial, aber auch anfällig ist: Bricht ein Zähnchen ab, funktioniert das Zahnrad nicht mehr. Bei Nymphen ist das nicht so schlimm – mit der neuen Haut kommen wieder zwei intakte Zahnräder. Erwachsene Tiere häuten sich aber nicht mehr und könnten die Zähnchen nicht ersetzen.
Wachsborsten gegen Räuber
Die Zikadenymphe in Viktor Hartungs Gaze-bespanntem Kescher bleibt sitzen. Offenbar ist es zu kalt. Der Entomologe zeigt auf den Hinterleib des nur wenige Millimeter kleinen Insekts. Wie ein starrer Pinsel ragen dort weiß-bläulich schimmernde Borsten heraus. Es sind feinste Wachsnadeln, die die Insekten mit Drüsen am Körperende herstellen. „Solche Wachsstrukturen schrecken Angreifer ab“, sagt Hartung. „denn das Wachs ist zäh und schmeckt nicht so gut“.

Wie die Zahnräder verlieren die Echten Käferzikaden diese Wachsanhänge mit der fünften Häutung. Warum, weiß auch der Entomologe nicht. „Möglicherweise liegt es daran, dass gerade die jüngeren Nymphen-Stadien weniger aktiv sind“, sagt er. Damit wären sie leichtere Beute als die ausgewachsenen Tiere. Zudem kämen sich bei den ausgewachsenen Zikaden unter Umständen Wachsborsten und Deckflügel in die Quere.
Ungefährliche Pflanzengäste
Vorsichtig setzt Hartung die Zikade wieder ins Gebüsch. Sowohl Nymphen als auch erwachsene Käferzikaden ernähren sich von Pflanzensäften, die die tagaktiven Tiere etwa an Eichen, Birken oder Linden saugen. Generell sind Echte Käferzikaden wenig wählerisch, was ihre Nahrung angeht. Dementsprechend leben sie in Laub- und Mischwäldern ebenso wie in Parks und Gärten. „Wenn mal ein Fenster offensteht, können Käferzikaden auch in der Wohnung landen“, sagt Hartung. Für den Menschen seien sie aber völlig harmlos.

Wie auch für die Pflanzen, an denen sie fressen. „Käferzikaden sind zwar häufig, treten aber nie in großen Mengen auf“, sagt Hartung. Selbst ein Dutzend der Insekten an einem kleinen Baum schaden nicht.
Bereits Ende Mai, manchmal auch erst im Juni, häuten sich die Käferzikaden-Nymphen das fünfte Mal. Dann sind sie ausgewachsen und machen sich auf Partnersuche. Die Weibchen legen Eier an Sträuchern, Gräsern oder Bäumen. Wenig später schlüpfen die jungen Nymphen und krabbeln in die Bodenstreu oder eine Efeu-bewachsene Hecke, wo sie die kalte Jahreszeit über ausharren.
Dies ist die vierte Folge der Geziefer-Serie „Insekt des Monats“. Hier geht es zur Ausgabe des letzten Monats über die Wildbienen-Parasiten Fächerflügler.