Was an der neuen Gangelt-Studie dran ist – und was nicht

Forscherïnnen um den Bonner Virologen Hendrik Streeck haben neue Erkenntnisse aus ihrer Untersuchung im Kreis Heinsberg veröffentlich. Eine Einordnung

vom Recherche-Kollektiv Corona-Recherche-Kollektiv:
3 Minuten
Ein Ortseingangschild am Straßenrand.

Wenn die neue Studie zur Kappensitzung in Gangelt nicht so große Aufmerksamkeit in den Medien bekommen hätte, wäre sie kaum berichtenswert. Denn Überraschungen sucht man darin vergeblich. Die Forscherïnnen um den Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn bestätigen, dass sich Menschen in schlecht belüfteten Räumen leichter mit dem SARS-Coronavirus-2 anstecken. So weit so bekannt.

Zur Erinnerung: Mitte Februar 2020 feierten knapp 500 Jeckïnnen in einem Gemeindezentrum in Gangelt im Kreis Heinsberg Karneval. Fast 200 der Feiernden steckte sich allein dort mit Corona an – das erste Superspreading-Ereignis in Deutschland.

Ein Team um den Leiter des Instituts für Virologie der Universität Bonn machte sich kurz nach Bekanntwerden des Ausbruchs in den Kreis Heinsberg auf und begann eine Reihe von Untersuchungen, zum Beispiel zu Ansteckungsraten und Übertragungswegen. Eigentlich genau das, was Virenforscherïnnen in so einem Fall machen sollten.

Allerdings fielen Hendrik Streeck und seine Co-Autorïnnen im vergangenen Jahr damit auf, dass sie erste Ergebnisse ihrer Untersuchung zum Infektionsgeschehen vorschnell veröffentlichten und stärker verallgemeinerten als das gerechtfertigt gewesen wäre. Sie erweckten damit den Anschein, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) Munition für seine Argumentation für schnellere Öffnungen nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 zu liefern. Zumal etwa die Zahlen zu den Toten in Gangelt in der ersten Heinsberg-Studie einer näheren Überprüfung durch das Medizinjournalismusprojekt MedWatch nicht standgehalten haben.

Überhaupt ging Streeck aus jenem Frühjahr als gern gesehener Talkshow-Gast hervor – obwohl sich viele seiner Einschätzungen zur Corona-Krise später als Irrtümer herausstellten.

Befragung nach mehr als sieben Wochen

Aber zurück zum neuen Preprint mit Ergebnissen aus Gangelt. Wie sind sie zu bewerten?

Eine erste Unwägbarkeit der neuen Studie: Die Forscherinnen und Forscher haben die Jecken, die an der Sitzung teilgenommen haben, erst mehr als sieben Wochen nach der Feier befragt, etwa wo im Saal sie sich hauptsächlich aufgehalten und was sie getrunken haben. Zusätzlich haben sie das Blut der Befragten auf Antikörper gegen Sars-CoV-2 als Zeichen für eine Ansteckung untersucht. Ob die Erinnerung an den feucht-fröhlichen Abend dann noch zuverlässig war?

Um die neue Studie bewerten zu können, muss man außerdem wissen, wie die Forscher das Risiko für eine Ansteckung bei der Karnevalssitzung bestimmt haben. Sie haben sich lediglich angesehen, ob sich Menschen mit bestimmten Gemeinsamkeiten häufiger ansteckten als andere. Das Ergebnis sind Korrelationen, Hinweise auf statistische Auffälligkeiten, aber keine Beweise für einen Zusammenhang. Das ist bei wissenschaftlichen Untersuchungen nicht ungewöhnlich, schränkt aber die Aussagekraft der Studie ein.

Ein Beispiel: Raucherïnnen haben sich seltener angesteckt als Nichtraucherïnnen. Das kann viele Ursachen haben. Als einen Grund vermuten die Wissenschaftlerïnnen, dass Raucherïnnen häufiger die Halle verlassen haben, um sich eine Zigarette anzustecken. Sie hatten also schlicht weniger Gelegenheit, sich anzustecken. Auch Menschen, die ohne zu rauchen während der Pause vor die Tür gegangen sind, hatten ein niedrigeres Risiko, wie die Bonner Studie zeigte.

Als weitere Möglichkeit verweisen die Wissenschaftlerïnnen auf andere Studien, die nahelegen, dass einer der giftigen Bestandteile von Tabakqualm eine Corona-Infektion erschwert. Hendrik Streeck und seine Kollegïnnen raten zwar ausdrücklich davon ab, Rauchen für einen Schutz vor einer Corona-Infektion zu halten. Gleichzeitig verweisen sie zu den möglichen Hintergründen für diesen Effekt auf eine Studie, deren Hauptautor einer Untersuchung aus dem Februar 2021 zufolge von der Tabakindustrie Geld für seine Forschung erhalten hat. In der kritischen Analyse im Online-Magazin Primary Care Respiratory Medicine heißt es weiter, dass viele solcher Studien fehlerhaft seien und darum falsche Schlüsse ziehen.

Ein weiteres Puzzlesteinchen für die Corona-Forschung

Letzten Endes muss man beim Blick auf die neuen Ergebnisse aus Gangelt auch bedenken: Einige der Resultate dürften inzwischen überholt sein. Denn in Gangelt grassierte der Wildtyp des neuen Coronavirus. Inzwischen dominiert in Deutschland die Delta-Variante, die etwas andere Symptome auslöst, vor allem aber viel ansteckender ist.

Fazit also: Die Bonner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben eines der ersten Ausbruchsgeschehen in Deutschland weiter untersucht – und der Corona-Forschung mit ihren Ergebnissen ein Puzzlesteinchen hinzugefügt. Nicht mehr und nicht weniger.

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