Naturhistorische Sammlungen: Biodiversität aus der Schublade hilft dem Artenschutz

Permanent entdecken Forscherinnen und Forscher neue Arten. Oft müssen sie dafür nicht einmal mehr auf Expedition gehen – sondern nur eine Schublade öffnen. Durch neue Methoden der Genomsequenzierung werden auch alte Tierproben noch wichtiger für den Artenschutz.

vom Recherche-Kollektiv Tierreporter:
9 Minuten
Eine Sammlung von Käfern aus dem Museum für Natur in Hamburg

Sechs, vielleicht sieben Jahre ist es her, da hatte Martin Husemann einmal mehr dieses Hier-ist-irgendwas-komisch-Gefühl. Er war mit seinem Team unterwegs in Iran. Auf der Suche nach neuen Arten waren sie stundenlang über ein Hochplateau in der Provinz Ghom gefahren, immer tiefer in eine Salzwüste hinein. Nun sind Salzwüsten nicht gerade bekannt für ihre Artenvielfalt; einige scheinen sogar eher Krieg gegen jedes Leben zu führen. In der Dasht-e Kawir etwa – der berühmtesten Salzwüste Irans – flimmert die Luft an Sommertagen mehr als 50 Grad Celsius heiß, in den Nächten schneidet sie kalt in die Lunge. Die Temperaturen schwanken innerhalb von 24 Stunden um bis zu 70 Grad.

Nur einige Autostunden westlich von dort waren Husemann und sein Team unterwegs, als sie an den Ausläufern einer Bergkette inmitten der Wüste auf eine Insel des Lebens stießen. Husemann entdeckte dort Heuschrecken, die anders waren als alle, die er bisher gesehen hatte. Später bestätigte die Analyse des Erbguts: eine völlig neue Art!

»Ich glaube, alle Taxonomen kennen diese Intuition, dass an einem Fund irgendetwas anders ist, die einen auf die richtige Spur bringt«, sagt Martin Husemann. Der 39-Jährige leitet die Sektion Hemimetabola & Hymenoptera am Museum für Natur Hamburg, das sich im Sommer 2021 mit dem Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn zusammengeschlossen hat. Dem neuen Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) geht es unter anderem darum, die Artenvielfalt des Planeten besser zu kartieren; also exakt festzuhalten, welche Arten es gibt und in welchen Regionen der Erde sie vorkommen. Bei den Insekten zum Beispiel sind erst rund eine Million Arten beschrieben – obwohl wenigstens fünfmal so viele existieren dürften. Einigen Schätzungen zufolge könnten es sogar bis zu 30 Millionen sein.

Forscher wie Martin Husemann entdecken neue Arten auf zwei möglichen Wegen. Entweder sie gehen ins Feld, wie damals in der Salzwüste im Iran. Solche Reisen sind wichtig. Sie verschlingen aber auch viel Geld und Zeit, und am Ende kann es sein, dass ein Team mit 100 neuen Arten zurückkommt – oder mit kaum einer Neuigkeit. Der andere Weg führt weder in Wüsten noch in den Wald, sondern tief in von Regalen gesäumte Räume. Seit mehr als 100 Jahren sammeln Naturforschende: Heuschrecken, Fische, Schildkröten, aber auch Greifvögel und Wildkatzen. Diese lagern seitdem in Sammlungen rund um den Globus – zum Beispiel in Hamburg und Bonn. Ein großer Teil dieser Funde ist bis heute nicht bestimmt.

Der Forscher Martin Husemann steht vor Regalen der biologischen Sammlung des Museum für Natur Hamburg.
Martin Husemann leitet die Sektion »Hemimetabola & Hymenoptera« am Museum für Natur Hamburg.

Das ist dann schon eine große Entdeckung.

Martin Husemann, Evolutionsbiologe und Entomologe

Eine rotflügelige Schnarrschrecke sitzt zwischen zwei Grashalmen.
Die Rotflüglige Schnarrschrecke wird bis zu 40 mm lang. Während die Männchen fast schwarz aussehen, tragen die Weibchen braungelbe Farben.

Will man den Biodiversitätswandel über die Zeit erforschen, sind Sammlungen unabdingbar.

Martin Husemann, Evolutionsbiologe und Entomologe

Verschiedene Schlangen werden in Glasbehältern des Museums für Natur Hamburg ausgestellt.
Seit mehr als hundert Jahren sammeln Naturforscher Arten, um ihre Eigenschaften zu dokumentieren. Dank Äther, Alkohol und anderer Präparationsflüssigkeiten sehen die Tiere »frischer aus als jedes Käsebrötchen«, sagt Wissenschaftler Martin Husemann.

Wir schauen über Artengrenzen hinweg: Wie geht es den frei lebenden Populationen? Hat sich das Genom einer Art im Laufe der Zeit verändert – und falls ja, wie? Und hängt das mit den Umweltveränderungen in ihren Lebensräumen zusammen?

Astrid Böhne, Molekular- und Evolutionsbiologin am Museum Koenig

Eine rotflügelige Schnarrschrecke sitzt auf weichem Erdboden.
Die Rotflüglige Schnarrschrecke verdankt ihren Namen ihren Hinterflügeln. Oder genauer: Dem klappernden Schnarren, das sie mit ihnen erzeugen kann. Sie Schrecke versucht damit Fressfeinde abzuschrecken.