Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen: Mehr wissen oder früher behandeln – oder geht doch beides?

Wenn eine Krankheit nur wenige Menschen betrifft, sind neue Arzneimitteln oft noch nicht umfassend erforscht. Aber es gibt erste Ideen, wie zu einem früheren Zeitpunkt bessere Daten entstehen könnten.

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
6 Minuten
Auf einem grünen Hintergrund liegt eine einzelne Tablette, daneben ein angebrochener Blister.

Wenn neue Medikamente gegen seltene Erkrankungen auf den Markt kommen, fehlen oft noch relevante Informationen zu den Orphan Drugs, wie diese Medikamente genannt werden. Zum Beispiel: Helfen sie Patient:innen tatsächlich besser als die Behandlungsmöglichkeiten, die bisher zur Verfügung stehen? Gleichzeitig ist der Handlungsdruck groß. Denn seltene Erkrankungen bedeuten für Patient:innen oft: Sie müssen schwerwiegende Einschränkungen hinnehmen. Im schlimmsten Fall verkürzen die Erkrankungen sogar das Leben, wenn es keine guten Therapieoptionen gibt.

Ist es möglich, etwas an dieser unbefriedigenden Situation zu ändern? Mit dieser Frage beschäftigte sich das Herbstsymposium des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Was ist das Dilemma bei seltenen Erkrankungen?

Als selten gilt in der EU eine Erkrankung, die nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen betrifft. Bekannt sind etwa 8.000 solcher Krankheiten, viele sind genetisch bedingt. In Deutschland leben schätzungsweise vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung, in Europa etwa 30 Millionen.

Damit es sich für pharmazeutische Unternehmen lohnt, an Orphan Drugs zu forschen, gelten bei der Zulassung für Orphan Drugs besondere Regeln. Auch bei der frühen Nutzenbewertung, der sich neue Arzneimittel in Deutschland unterziehen müssen, haben es Orphan Drugs leichter: Das Gesetz attestiert ihnen automatisch einen Zusatznutzen, geht also davon aus, dass sie besser helfen als die bisherige Standardtherapie. Diese Regelung verschafft den Anbietern von Orphan Drugs einen Vorteil bei der Preisverhandlung mit den gesetzlichen Krankenkassen. Nur, wenn der Anbieter pro Jahr voraussichtlich mehr als 30 Millionen Umsatz mit dem Medikament macht, müssen Orphan Drugs in die reguläre Nutzenbewertung mit strengeren Regeln.

Und dabei gibt es manchmal eine böse Überraschung: Eine Auswertung des IQWiG war 2022 zu dem Schluss gekommen, dass bei der Hälfte der Medikamente in Wirklichkeit kein Zusatznutzen festzustellen war. Das liegt oft daran, dass die Studien für die Zulassung viele wichtige Fragen offen lassen. „Damit können wir nicht unterscheiden, welche Medikamente tatsächlich einen Fortschritt bedeuten“, sagte IQWiG-Leiter Thomas Kaiser beim Herbstsymposium. Um das herauszufinden, bräuchte es aussagekräftigere Studien. Gleichzeitig benötigen Patient:innen zeitnah eine Behandlung. „Kann ich bei seltenen Erkrankungen auf bessere Evidenz warten oder muss ich den Zugang für Betroffene nicht früher ermöglichen?“, beschrieb Kaiser das Dilemma. Das sei oft eine schwierige Abwägungsfrage.

Aber es gibt auch noch ein weiteres Problem: Wenn Medikamente trotz Wissenslücken auf den Markt kommen, gibt es wenig Anreize für die Hersteller, weitere Studien durchzuführen und damit die Lücken zu füllen. „Was bedeutet das für künftige Patienten, wenn ich mit dem frühen Zugang verhindere, dass aussagekräftige Evidenz entsteht?“, gab Kaiser zu bedenken. Er plädierte dafür, dass Betroffene Zugang zu Medikamenten bekommen, aber gleichzeitig alles dafür getan werde, möglichst früh umfassendes Wissen zu Nutzen und Risiken in Studien zu gewinnen. Eine gute Balance sei auch deshalb wichtig, weil die Orphan Drugs oft mit erheblichen Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung verbunden sind, für die letztlich alle Versicherten aufkommen müssen.

Sind bessere Studien vor der Zulassung von Orphan Drugs überhaupt möglich?

Studien für die Zulassung vergleichen neue Orphan Drugs nicht immer direkt mit bisherigen Behandlungsmöglichkeiten. Manchmal erhalten in einer Studie einfach alle Patient:innen das neue Medikament. Das Forschungsteam vergleicht dann die Behandlungsergebnisse mit denen früherer Patient:innen, für die das neue Medikament noch nicht zur Verfügung stand.

Allerdings sind diese sogenannten einarmigen Studien mit historischen Kontrollen nicht immer ein fairer Vergleich, stellte der Statistiker Ralf-Dieter Hilgers von der RWTH Aachen beim Herbstsymposium fest. Denn möglicherweise waren die Standardbehandlungen, die die Patient:innen außer dem Medikament erhielten, damals noch andere. Es müsste außerdem sichergestellt sein, dass sich frühere und heutige Patient:innen nicht wesentlich unterscheiden, die einen also zum Beispiel nicht schwerer erkrankt waren als die anderen. Auch müsste der Behandlungserfolg nach den gleichen Kriterien bewertet werden.

Aus diesem Grund wäre es eigentlich wünschenswert, dass – wie bei anderen Medikamenten auch – für Orphan Drugs Ergebnisse aus randomisierten kontrollierten Studien vorliegen, bei denen Patient:innen nach dem Zufallsprinzip entweder das neue Medikament (meist zusätzlich zur bisherigen Standardtherapie) oder nur die bisherige Standardtherapie erhalten. Dadurch wäre gewährleistet, dass sich die Patienten in den beiden Gruppen nicht unterscheiden, und es ist möglich, den Behandlungserfolg nach gleichem Maßstab zu beurteilen.

Wenn das nicht passiert, wird es oft damit begründet, dass es bei seltenen Erkrankungen nur wenige Patient:innen gibt – für aussagekräftige Ergebnisse in Studien häufig zu wenige. Wie Hilgers anhand einer Auswertung des US-amerikanischen Studienregisters clinicaltrials.gov zeigte, ist das in der Praxis aber eigentlich oft kein Hinderungsgrund. Denn auch bei äußerst seltenen Erkrankungen, die weniger als eine Person pro eine Million Einwohner betreffen, führten Forschungsteams bereits randomisierte Studien durch.

Obwohl inzwischen sowohl in den USA als auch in Europa rund zwei Drittel aller neu zugelassenen Orphan Drugs auf randomisierten kontrollierten Studien beruhen, sehen manche Fachleute dennoch einarmige Studien für Orphan Drugs immer noch als den Standard. Das sei jedoch manchmal eine Fehleinschätzung, so Hilgers: „Wenn man keine Kontrollgruppe will, geht man implizit davon aus, dass der neue Wirkstoff wirksam und sicher ist.“ Ob das tatsächlich stimmt, muss sich aber erst in einem fairen Vergleich zeigen. In besonderen Fällen können laut Hilgers neuere statistische Verfahren Randomisierung und historische Kontrollgruppen miteinander verbinden, um auch bei kleinen Patientenzahlen bessere Evidenz zum Nutzen zu gewinnen.

Nur in wenigen Fällen können tatsächlich einarmige Studien ausreichen, wie eine Analyse des IQWiG im British Medical Journal ausführt. Dazu gehören etwa lebensbedrohliche seltene Erkrankungen, für die es sonst keine ausreichende Behandlung gibt, oder wenn im Vergleich zu den historischen Kontrollen kein Zweifel besteht, dass das neue Medikament für Patient:innen tatsächlich einen sehr großen Mehrwert hat.

Können Daten aus der Gesundheitsversorgung das Wissen verbessern?

Wenn es vor der Zulassung oft schwierig ist, alle wesentlichen Fragen zu Nutzen und Risiken zu klären: Können dann vielleicht Daten helfen, die in der Gesundheitsversorgung entstehen? Entsprechende Konzepte stellte Lutz Nährlich, Leiter der Mukoviszidose-Ambulanz am Universitätsklinikum Gießen vor.

Bei seltenen Erkrankungen sind solche Daten etwa in Registern zu finden, in denen Ärztinnen und Ärzte bei Patient:innen den Verlauf der Erkrankung und die Behandlung dokumentieren. Allerdings gibt es sehr viele unterschiedliche Register. Dazu gehören solche auf gesetzlicher Grundlage wie die klinischen Krebsregister, einige von wissenschaftlichen Fachgesellschaften oder Verbänden wie das deutsche Mukoviszidose-Register oder auch diejenigen, die pharmazeutische Unternehmen auf Initiative der Zulassungsbehörden für die von ihnen vertriebenen Arzneimittel einrichten müssen.

Ob die Daten für Forschungszwecke zur Verfügung stehen und welche Zeiträume sie umfassen, ist bei den Registern sehr unterschiedlich – und auch, ob die Daten repräsentativ für die Patient:innen mit der jeweiligen Therapie und wirklich verlässlich sind. Denn die Daten unterscheiden sich in Qualität und Umfang manchmal deutlich. Hinzu kommt: „Bei seltenen Erkrankungen müssen wir global denken, weil wir sonst nicht die kritische Anzahl an Patienten zusammenbekommen“, sagte Nährlich. Das mache es noch schwieriger, die verschiedenen Register so aufeinander abzustimmen, dass mit den Daten aussagekräftige Studien möglich seien. In der EU gebe es entsprechende Bemühungen, so Nährlich, bei bestimmten seltenen Erkrankungen sogar weltweit.

Wenn die Voraussetzungen in den Registern stimmen und sich im Idealfall Daten aus verschiedenen Registern verbinden lassen, könnte es künftig möglich werden, noch verlässlichere Schlussfolgerungen zu ziehen. Denkbar wären sogar randomisierte Register-Studien. Wenn Arzt oder Ärztin Behandlungsverläufe bei seltenen Erkrankungen ohnehin in Register eintragen, spart das Konzept zusätzlichen Aufwand.

Wenn für bestimmte Fragen nicht klar ist, was die beste Behandlungsstrategie ist, könnten die Patient:innen in den Behandlungszentren also zentral gesteuert zufällig der einen oder der anderen Strategie zugeteilt werden. Die Studienverantwortlichen könnten die Ergebnisdaten dann direkt aus den Registern verwenden. Wenn eine Randomisierung aus verschiedenen Gründe nicht möglich ist, können auch moderne statistische Verfahren für die Datenanalyse helfen, den Nutzen der Orphan Drugs mit Daten aus den Registern besser abzuschätzen. Allerdings ist es dafür nötig, dass die Register alle nötigen Informationen enthalten, die einen fairen Vergleich ermöglichen.

Bekommen wir bald zu einem früheren Zeitpunkt bessere Daten?

„Die Diskussion um die Methoden und die Nutzenbewertung ist kein Selbstzweck“, betonte Thomas Kaiser. „Es geht immer darum, die Informationen zu bekommen, die für die Therapieentscheidung wichtig sind“.

Zwei Gesetzesvorhaben in der EU könnten die Situation in Zukunft verbessern: Eine große Pharma-Reform, die auch die Regeln für die Zulassung verändern will, sowie Pläne für eine EU-weite Nutzenbewertung. Beide Vorhaben zielen darauf ab, dass künftig möglichst früh noch bessere Daten zu Nutzen und Risiken von neuen Medikamenten zur Verfügung stehen.

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