Besser neue Medikamente? Besser alte Mittel? Oder grundsätzlich mehr Therapie?

Fakten statt Faustregeln: 3 Mythen rund um medizinische Behandlungen im Check

vom Recherche-Kollektiv Plan G:
7 Minuten
Weiße Tabletten auf hellblauem Grund, darauf die Wörter Mythen und Fakten

Bei der Bewertung von Therapien wird es schnell komplex. Deshalb nutzen viele Menschen dafür einfache Faustregeln. Aber helfen die tatsächlich, fundierte Entscheidungen zu treffen?

Zugegeben: Oft ist es ziemlich kompliziert, die ganze Wahrheit über Nutzen und Risiken von medizinischen Behandlungen herauszufinden. Kein Wunder also, dass sich auch in diesem Bereich Faustregeln herausgebildet haben, die bei der Einschätzung helfen sollen. Vielleicht hast du das auch schon mal gehört: „Alte Medikamente sind immer besser“, „Neue Mittel sind immer besser“ oder „Mehr ist immer besser“. Mal ganz davon abgesehen, dass sich die Faustregeln hier sogar teilweise widersprechen, stellt sich insgesamt die Frage: Stimmen sie tatsächlich? Oder sind es doch eher Mythen, die man getrost vergessen kann? In diesem Beitrag werfen wir einen kritischen Blick auf die Behauptungen und schauen uns einige Beispiele dazu an.

Das Wichtigste in Kürze

Ist alt, neu oder mehr immer besser? Das kommt ­– wie so oft – immer darauf an. Deshalb ist es so wichtig, im Einzelfall genau hinzuschauen und sich nicht auf einfache Faustregeln zu verlassen.

Medizinmythos: Alt ist immer besser

Die Grafik beschreibt ein Missverständnis bei der Bewertung von Behandlungen: Traditionelle Mittel sind nicht automatisch wirksam.
Traditionelle Behandlungen sind nicht automatisch wirksam.

Erstmal hört sich das doch sehr vernünftig an: Bei älteren Medikamenten oder anderen lange gebräuchlichen Behandlungen wissen wir mehr über Nutzen und Schaden, weil sie schon seit längerer Zeit angewendet werden. Stimmt in einigen Fällen auch und deshalb hat z.B. die Zeitschrift „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ eine Rubrik „Gute alte Pille“, in der sie solche Arzneimittel vorstellt [1].

Umgekehrt bedeutet das nicht automatisch, dass alle älteren Mittel auch tatsächlich besser sind als neuere Behandlungen. Denn es gibt oft keine systematischen Untersuchungen, in denen ältere und neuere Medikamente verglichen werden. Und in manchen Fällen haben sich in der Zwischenzeit auch die Regeln für die Zulassung verändert, sodass neuere Mittel besser untersucht sind als die älteren. Die älteren dürfen dann aber manchmal trotzdem auf dem Markt bleiben, weil für sie ein Bestandsschutz gilt.

Beispiel Ginkgo und Weißdorn

Das zeigen Beispiele bei pflanzlichen Arzneimitteln. Dazu muss man wissen, dass solche Medikamente unter anderen Bedingungen auf den Markt kommen können als zum Beispiel eine herkömmliche Kopfschmerztablette. Oft müssen keine eigenen hochwertigen Studien für die Zulassung eingereicht werden, sondern die Hersteller können sich auf europäische Gutachten (Monografien) berufen. Darin wird analysiert, wie bei bestimmten Mitteln die Studienlage aussieht und unter welchen Umständen man dann davon ausgehen kann, dass eine ausreichende Wirksamkeit für bestimmte Anwendungsgebiete vorliegt.

Jetzt wird es noch komplizierter: Solche Monografien gibt es erst seit 2004 und sie gelten erst einmal nur für Neuzulassungen. Nun gab es in Deutschland natürlich schon vor diesem Zeitpunkt pflanzliche Arzneimittel auf dem Markt und sie mussten zum Zeitpunkt ihrer Zulassung deutlich niedrigere Anforderungen erfüllen. Nach der aktuellen Gesetzeslage dürfen die Mittel aber weiter auf dem Markt bleiben und auch Anwendungsgebiete nennen bzw. dafür werben, für die sie nach heutigem Kenntnisstand keine neue Zulassung mehr erhalten würden. Das betrifft etwa Ginkgo-Präparate bei Tinnitus oder Weißdorn-Präparate bei leichter Herzschwäche [2]. Dass diese Präparate auf dem Markt sind und entsprechend werben dürfen, ist also kein Beleg für den Mythos „bewährtes Mittel“, sondern schlicht eine rechtliche Ausnahmesituation.

Alles zurück: Das Phänomen des Medical Reversal

Dass neue Erkenntnisse die bisher angenommene Wirksamkeit von Therapien in Frage stellen, ist aber nicht auf „alternative“ Behandlungsmethoden beschränkt. Zu oft in der Geschichte der Medizin findet sich ein bestimmtes Muster wieder: Neue Behandlungs- und Untersuchungsmethoden werden voller Euphorie und Hype in die Gesundheitsversorgung gebracht, obwohl sie unzureichend untersucht sind. Werden dann endlich mal ordentliche Studien gemacht, stellt sich nicht selten heraus: Die Maßnahmen waren doch nicht so hilfreich wie gedacht oder richten manchmal sogar mehr Schaden an, als sie nutzen. Und nicht immer verschwinden die Therapien dann schnell von der Bildfläche der Gesundheitsversorgung, sondern halten sich relativ hartnäckig [3].

Für dieses Problem wurde sogar ein eigener Begriff geprägt: „medical reversal“. „Reversal“ bedeutet auf Deutsch so viel wie Umkehrung oder Wende. Untersuchungen dazu zeigen, dass es keineswegs Einzelfälle sind, sondern dass es häufiger vorkommt, als man sich das eigentlich wünschen würde. Aktuell ist zu dieser Frage eine Meta-Studie [4] erschienen, die sich exemplarisch Untersuchungen (randomisierte kontrollierte Studien) in drei großen medizinischen Fachzeitschriften über einen Zeitraum von knapp 15 Jahren vorgenommen hat. Dabei konnten die Autoren fast 400 Studien identifizieren, deren Ergebnis ein „medical reversal“ war. Die Untersuchungen haben sich also scheinbar bewährte Therapien vorgeknöpft und sind bei dem Test zu dem Ergebnis gekommen, dass die Verfahren doch nicht so viel bringen, wie man immer dachte.

Medizinmythos: Neu ist immer besser

Die Grafik beschreibt das zweite von drei Missverständnissen bei der Bewertung von Behandlungen: "Neue Mittel sind immer besser"
Neue Medikamente oder Behandlungsmethoden sind nicht immer besser. Das zeigt zum Beispiel die frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln.

Auch diese Faustregel ist weit verbreitet: Was neuer, teurer oder technologisch eindrucksvoller ist, ist sicherlich auch besser. Wenn du zum Beispiel Untersuchungen der Stiftung Warentest verfolgst, weißt du, dass sie regelmäßig bei Staubsaugern, Zahnpasta oder Müsli-Sorten zu ganz anderen Ergebnissen kommt: Manchmal sind Neuentwicklungen gar nicht besser als ältere Produkte. Ähnlich ist das auch bei medizinischen Behandlungen [5].

Zwar stimmt es, dass die Regeln für die Zulassung von Arzneimitteln im Vergleich zu vor fünfzig Jahren in vielen Fällen strenger geworden sind [6]. Auswertungen zeigen jedoch, dass es eher die Ausnahme als die Regel ist, dass neu zugelassenen Arzneimittel für Patient*innen tatsächlich einen größeren Nutzen bringen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erstellt in Deutschland Gutachten für solche Nutzenbewertungen und hat kürzlich eine Übersicht aller Bewertungen von 2011 bis Ende 2018 veröffentlicht. Danach war bei mehr als der Hälfte der neuen Arzneimittel ein Zusatznutzen nicht belegt, nur bei rund einem Viertel ließ sich ein beträchtlicher oder erheblicher Zusatznutzen feststellen [7].

Bei neuartigen Arzneimitteln oder Behandlungsmethoden solltest du also nicht automatisch davon ausgehen, dass sie dir besser helfen als ältere Produkte oder Verfahren.

Medizinmythos: Mehr ist immer besser

Die Grafik beschreibt ein häufiges Missverständnis: Intensivere Behandlungen oder höhere Dosierungen helfen nicht immer besser.
Ein häufiges Missverständnis: Intensivere Behandlungen oder höhere Dosierungen helfen nicht immer besser.

Wenn eine Maßnahme nützt, dann ist „mehr“ von dieser Maßnahme doch auch besser. Hört sich logisch an, stimmt aber leider nicht. Denn oft bedeutet „mehr“ nicht „mehr Nutzen“, sondern vor allem „mehr Nebenwirkungen“ [8].

Ein Beispiel: Die Kombination aus Vitamin D und Calcium kann bei speziellen Gruppen von älteren Menschen helfen, das Risiko für Knochenbrüche zu verringern. In zu hohen Dosierungen kann Vitamin D aber der Niere schaden [9].

Was für einzelne Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel gilt, ist auch für die Gesundheitsversorgung insgesamt richtig. In der Praxis werden Patient*innen oft behandelt, obwohl eigentlich keine Behandlung notwendig wäre und Abwarten genauso gut helfen würde. Fachleute bezeichnen dieses Phänomen als „Überversorgung“. Und es ist inzwischen so dringlich, dass die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) eine eigene Leitlinie dazu entwickelt hat, die die wichtigsten Probleme im hausärztlichen Bereich auflistet [10]. Die Leitlinie soll Ärzt*innen Hinweise geben, welche Maßnahmen Patient*innen mehr schaden als nutzen oder Geld verschwenden, weil sie voraussichtlich zwar nicht schaden, aber eben keinen Nutzen haben.

Wenn weniger mehr ist

Ein paar Beispiele gefällig? Die sind auch gleich schon eine gute Vorbereitung für die Erkältungszeit, die bald wieder ansteht:

  • Die meisten Halsschmerzen werden durch Viren verursacht. Deshalb sollen Halsschmerzen in der Regel nicht mit Antibiotika behandelt werden, die gegen Viren nichts ausrichten können.
  • Eine akute Bronchitis wird ebenfalls häufig durch Viren hervorgerufen. Aber selbst wenn Bakterien die Ursache sind, verkürzen bei einem unkomplizierten Krankheitsbild Antibiotika die Krankheitsdauer und die Beschwerden nur so geringfügig, dass sie in der Regel nicht eingesetzt werden sollten. Der Verzicht hilft auch, Nebenwirkungen der Antibiotika und Resistenzen zu vermeiden.
  • Für schleimlösende Mittel bei akutem Erkältungshusten gibt es keine guten Daten aus Studien, dass sie die Krankheitsdauer verringern oder die Beschwerden verbessern würden. Deshalb wird die Einnahme nicht empfohlen.

Wie immer ist natürlich auch hier eine differenzierte Betrachtung wichtig. Und deshalb soll der Hinweis nicht fehlen, dass es natürlich auch vorkommen kann, dass in der Gesundheitsversorgung sinnvolle Maßnahmen unterbleiben. Deshalb widmet sich die zitierte DEGAM-Leitlinie nicht nur dem Thema „Überversorgung“, sondern auch der „Unterversorgung“.

Transparenzhinweis

Iris Hinneburg ist freie Mitarbeiterin der Zeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen. Sie ist Mitglied des erweiterten Vorstandes im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und war an der zitierten Stellungnahme beteiligt. Für einen Vortrag beim Herbstsymposium des IQWiG hat sie ein Honorar erhalten.

Zum Weiterlesen

[1] Die Beiträge aus der Rubrik „Gute alte Pille“ lassen sich im Archiv nachlesen: Beiträge, die älter als drei Jahre sind, sind kostenfrei zugänglich.

[2] Die Hintergründe zu den Weißdorn- und Ginkgo-Präparaten sind im Bulletin für Arzneimittelsicherheit (Ausgabe 4/2016) beschrieben. Noch mehr Informationen zu Zulassungsbedingungen für pflanzliche, homöopathische und anthroposophische Arzneimittel finden sich in diesem Beitrag in „Gute Pillen – Schlechte Pillen“ (Volltext mit Abo/im Einzelverkauf).

[3] Einige historische Beispiele von solchen Therapien lassen sich auf der Webseite von „Wo ist der Beweis?“ in Kapitel 2 nachlesen „Erhoffte, aber nicht eingetretene Wirkungen“.

[4] Die vollständige Untersuchung ist frei zugänglich: Herrera-Perez et al. A comprehensive review of randomized clinical trials in three medical journals reveals 396 medical reversals. eLife 2019;8:e45183

[5] Eindrucksvolle Beispiele dafür finden sich im Kapitel 1 „Neu – aber auch besser?“ des Buchs „Wo ist der Beweis?“

[6] Allerdings gibt es Bestrebungen, die strengen Regeln immer mehr aufzuweichen. Hintergründe und Probleme beschreibt eine Stellungnahme des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin aus dem Jahr 2016.

[7] Die vollständige Auswertung des IQWiG ist frei im Netz verfügbar.

[8] Im Kapitel 3 „Mehr heißt nicht unbedingt besser“ des Buchs „Wo ist der Beweis?“ finden sich sehr anschauliche Beispiele dafür, etwa aus der Geschichte der Brustkrebs-Behandlung.

[9] Welche Ausmaße das annehmen kann, zeigt sich in zwei Fallbeispielen, über die die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 2017 berichtet hat.

[10] Die DEGAM-Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ ist im Leitlinien-Register der AWMF frei zugänglich. Übrigens gibt es dort auch Kurzfassungen für Patient*innen.

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