Erzähl mir eine Geschichte

Was die Szenarien des IPCC über die Gesellschaft der Zukunft besagen

13 Minuten
Das Bild ist eine Collage. In der Mitte steht der IPCC-Bericht wie ein Buch aufgestellt. Darum sind wie Sprechblasen Bilder aus verschiedenen Versionen der möglichen Zukunft angeordnet: eine dichtbewohnte Großstadt mit Hochhäusern für die Wohlhabenden und Hütten für die Armen; Leihfahrräder im Depot; ein altes Kohlekraftwerk, aus dessen Schornsteinen  pechschwarze Wolken dringen; und eine geschlossene Schranke.

Wie leben wir in Zukunft mit den Klimafolgen? Und welche lösen wir noch aus? Der Weltklimarat arbeitet mit fünf Szenarien, die Narrative der künftigen Welt enthalten. In diesen Erzählungen werden Entscheidungen, Probleme und Potenziale greifbar – der Ausgangspunkt sind oft die politischen Nachrichten der Gegenwart.

Die ersten 4000 Seiten eines IPCC-Sachstandberichts sind eigentlich ein Werk der Fakten, nicht der Fantasie. Den ersten Aufschlag für den sechsten Berichtszyklus machte im Juli 2021 die Arbeitsgruppe 1 des Weltklimarats, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel auswertet: Es geht um Physik, Glaziologie und Ozeanographie, um Chemie, Mathematik und Informatik. Der Bericht (hier der Klima-Wandeln-Artikel dazu) enthält Zusammenfassungen, Berechnungen und Würdigungen, Grafiken, Wahrscheinlichkeitsangaben und sehr viele Zahlen. 1086 Seiten nennen Prozentangaben, 2155 Seiten Temperaturwerte, 1645 Seiten zeigen oder verweisen auf Tabellen. Ein gutes Fünftel der Seiten listet die ausgewertete Literatur auf.

Was aber kaum jemand ahnt und in Presseberichten und anderen Reaktionen selten vorkommt: Mindestens ein zentrales Kapitel des Berichts beruht zu einem guten Teil auch auf erfundenen Geschichten. Es handelt sich um das Kapitel 4 mit den sogenannten Projektionen, die mit Supercomputern berechnet werden und einen Blick in die Zukunft erlauben. Oder genauer: mehrere mögliche Versionen von Zukunft. Hier kommen die Geschichten ins Spiel; Hinweise darauf finden sich im ganzen Bericht auf fast 700 Seiten.

In einer der möglichen Zukunftsversionen meistert die Menschheit gemeinsam die Herausforderungen der Klimakrise und hält die in Paris vereinbarte Grenze der Erwärmung von 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit so eben ein. In einer anderen scheitern die Staaten der Welt auf fatale Weise, weil sie sich nicht einigen können, und vielen Bürger:innen der momentane Wohlstand und Komfort wichtiger sind als die Lebensbedingungen künftiger Generationen: Dort heizt sich die Erde zum Ende des 21.Jahrhunderts um etwa 4,7 Grad auf. Drei weitere Visionen der Zukunft liegen zwischen diesen beiden Extremen.

Die Erderhitzung bis 2100

Diese Zukunftsszenarien dienen dazu, eine der am meisten betrachteten Grafiken zusammenzustellen. Sie zeigt den möglichen künftigen Verlauf der globalen Durchschnittstemperaturen. Fünf verschiedenfarbige Linien und Bänder streben von der Gegenwart in die Zukunft und heben sich dabei unterschiedlich weit in die Höhe zu immer größeren Werten der Erderhitzung.

Die Grafik zeigt Temperaturwerte der kündigten Erderhitzung (in Relation zur Zeit vor der Industrialisierung) über der Zeit. Für die Zeit von 1950 bis 2015 belegen historische Messdaten in Grau die Temperaturzunahme von etwa 0,3 auf 1,1 Grad Celsius. Danach setzen fünf farbige Linien ein, die bis zum Jahr 2100 eine Erwärmung von 1,4 bis 4,7 Grad erreichen.
Diese Grafik aus der „Zusammenfassung für politsche Entscheidungsträger“ des jüngsten IPCC-Berichts fasst die Erkenntnisse über die künftige Erderhitzung zusammen. Die fünf Linien stehen für fünf verschiedene Versionen der Zukunft, zwischen denen die Menschheit noch wählen kann.

Wenn es dazu in den Nachrichten heißt, der Weltklimarat erwarte eine Erwärmung um 1,4 bis 4,7 Grad, wirkt es auf den unbedarften Laien so, als wüssten die Klimaforscher praktisch nichts darüber, welche Veränderungen zu erwarten sind. Das erzeugt Kopfschütteln, Verwunderung und Hilflosigkeit.

Was dabei regelmäßig unter den Tisch fällt, ist der Einfluss, den wir heute Lebenden auf unsere eigene Zukunft noch haben. Wir können im Prinzip wählen, welchem dieser Pfade wir folgen möchten. Wer ein wenig genauer hinschaut, erkennt nämlich, dass der IPCC hier mit verschiedenen Emissionsniveaus von „sehr niedrig“ bis „sehr hoch“ kalkuliert, von denen – in einer fiktiven Rückschau aus dem Jahr 2100 zurück – nur eines Realität geworden sein wird. Nur wissen wir eben heute noch nicht welches.

Und auch diese Erkenntnis ist noch eine Verkürzung. In Wirklichkeit geht es nicht nur um das Verschieben eines Reglers, mit dem wir den Treibhausgas-Ausstoß verändern – sondern es geht um neue Webmuster für Gesellschaft, Wirtschaft, die ganze Lebensweise. Dahinter verbergen sich viele wichtige Entscheidungen über das Ausgestalten der Zukunft, im Alltag, bei der Arbeit und in der Freizeit, in der Politik und demnächst an der Wahlurne. Es sind Entscheidungen, die in unserer Macht liegen. Die Grafik oben, die auf den ersten Blick so hilflos wirkt, vermittelt tatsächlich Stärke.

Um diese Macht zu spüren, müssen wir die Geschichten kennen, die hinter den Linien stehen. Sie heißen in der Fachsprache SSP, das steht für „Shared Socioeconomic Pathways“, also gemeinsam verwendete Pfade der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Sie wurden in zwei Sonderausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften und definiert und seither in einer großen Anzahl von weiteren Studien ausdifferenziert.

Trotz dieses sperrigen Begriffs regen die Szenarien durchaus die Fantasie an und lassen Hoffnungen und Befürchtungen für die weitere Entwicklung lebendig werden. Ein zentraler Aufsatz dazu stammt von einem Team um Brian O’Neill vom Nationalen Zentrum für Atmosphärenforschung der USA in Boulder/Colorado und Elmar Kriegler vom Potsdam-Institut. Anhand der Schilderung darin können wir uns hineindenken in diese Visionen von Zukunft und was sie für uns und eventuelle Nachkommen sowie die ganze Gesellschaft bedeuten.

Es geht dabei aber vor allem um die sozialen Faktoren des Zusammenlebens. Erst wenn man die Treibhausgas-Emissionen hinzufügt, ergeben sich konkrete Klimafolgen oder Extrem-Ereignisse. Die Narrative beschreiben, wie die Gesellschaften dafür gerüstet sind und warum.

Lassen wir uns die Geschichten also von den Wissenschaftler:innen, die hinter dem IPCC stehen, erzählen.

SSP 2 – Der Mittelweg

Fangen wir mit dem Szenario an, das die momentanen Entwicklungstrends praktisch ohne Brüche fortsetzt. Das mag langweilig wirken, ist aber als Vergleichsmaßstab wichtig. Der Name nimmt wie bei allen Erzählungen die Metapher vom Pfad in die Zukunft auf und lautet: „Der Mittelweg“.

In dieser Erzählung passiert wenig und das auch noch langsam. Ein Gefühl des Aufbruchs lässt sich nirgends entdecken. So gibt es zum Beispiel nur zögernden Fortschritt in Richtung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Vereinten Nationen, die Menschen überall auf der Welt unter anderem sauberes Wasser, Gesundheitsversorgung und Ausbildung garantieren sollen. Da gerade die Ausbildung als Schlüsselfaktor für die Fortpflanzungsrate gilt, wächst auch die Weltbevölkerung zunächst weiter: Sie überschreitet schon vor 2050 die neun Milliarden und sinkt erst zum Ende des Jahrhunderts langsam.

Die Welt lernt zwar, besser mit Rohstoffen und Energie umzugehen, aber trotzdem gibt es neue Umweltschäden. Erneuerbare Energiequellen werden zunehmend genutzt, aber gleichzeitig erschließen Firmen und Staaten sogenannte unkonventionelle Reserven fossiler Brennstoffe, zum Beispiel durch Fracking.

In und zwischen den Gesellschaften der Staaten bleiben die Statusunterschiede groß, der soziale Zusammenhalt ist dementsprechend gering.

Die Wirtschaft entwickelt sich ungleich; manche ärmere Länder schließen zum reichen Westen auf, anderen gelingt das nicht. Der Weltmarkt bleibt offen, funktioniert aber weiterhin nicht perfekt. Es gibt technische Innovation, jedoch keine großen Sprünge vorwärts. Die Nachfrage nach tierischen Produkten wächst, wo immer es wirtschaftlichen Fortschritt gibt. In und zwischen den Gesellschaften der Länder bleiben die Statusunterschiede groß, der soziale Zusammenhalt ist dementsprechend gering.

Die Welt hat aus all diesen Gründen mittelgroße Probleme, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken (Vermeidung oder Mitigation) und sich vor den unvermeidbaren Folgen der Klimakrise zum Beispiel für die Landwirtschaft zu schützen und auf Klimafolgen wie zunehmende Extremwetter-Ereignisse zu reagieren (Anpassung oder Adaptation). Diese Entwicklungen werden weder hier noch in den anderen Szenarien ausbuchstabiert, weil die Narrative ja von den gesellschaftlichen Veränderungen handeln.

In diesem Szenario geht das Wachstum der Kohlendioxid-Emissionen dem aktuellen IPCC-Bericht zufolge noch einige Jahre nach 2030 weiter, dann bleibt der Treibhausgasausstoß über 2050 hinaus auf einem hohen Plateau, bis er endlich sinkt. Die sogenannte CO2-Neutralität, dass also netto kein zusätzliches Treibhausgas in die Atmosphäre kommt, ist am Ende des Jahrhunderts noch nicht erreicht. Die Temperatur steigt darum um 2,8 Grad über die Werte vor der Industrialisierung – 1,7 Grad höher als das heutige Niveau. So vertraut die SSP 2-Geschichte an sich klingt, sie enthält keinerlei Erfolge einer Klimapolitik, die heute von vielen Regierungen versprochen wird.

Auf einen hell-violetten Farbfeld sind die fünf SSP-Szenarien angeordnet. Die horizontale Achse unten zeigt Veränderung in der Gleichheit sowie Fähigkeit zur Kooperation und Anpassung der Gesellschaften: Höhere Werte sind links, niedrigere rechts. Die vertikale Achse an der Seite zeigt die Fähigkeit, das Energiesystem umzubauen und Emissionen zu senken: Höhere Werte sind unten, niedrigere oben.
In der Mitte steht SSP 2, der „Mittelweg“. Oben rechts steht SSP 3, der „steinige Pfad“, unten rechts SSP 4, die „gespaltene Straße“, unten links SSP 1, der „grüne Boulevard“ und oben rechts SSP 5, die „Autobahn“.
Die Grafik zeigt, wie die fünf SSP-Szenarien zusammenhängen. Die Abkürzung steht für „Shared Socioeconomic Pathway“, also gemeinsam verwendeter Pfad der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung.

Die vier anderen Narrative beschreiben demgegenüber eine Zukunft, die sich in beiden Dimensionen, Vermeidung und Anpassung von dem „Mittelweg“ unterscheidet: Die Probleme der Welt werden damit entweder noch größer oder kleiner und beherrschbar. Das ist in dieser Art von wissenschaftlicher Analyse üblich – man reizt die möglichen Veränderungen ausgehend vom Startpunkt Gegenwart aus, ohne sofort in Utopien oder Dystopien abzugleiten. Dabei bleibt allerdings oft außen vor, was wir inzwischen zum Beispiel über die Bemühungen interessierter Lobbygruppen wissen, die Veränderung der Gesellschaft und Ökonomie zu verzögern.

SSP 3 – Der steinige Pfad

Dieses Szenario startet mit einer Entwicklung, die zurzeit schon zu beobachten ist: verstärkter Nationalismus. Er führt zu Konflikten zwischen den zunehmend autoritär regierten Staaten oder Regionen. Alle versuchen, ihren Bedarf an Energie, Lebensmitteln und anderen Gütern jeweils selbst zu decken. Darunter leiden natürlich die internationale Kooperation und andere Ziele der Entwicklung wie Umweltschutz und Ausbildung. Auf dem Weltmarkt wachsen die Zölle und andere Handelshürden, das Wirtschaftswachstum erlahmt, die Ungleichheit nimmt zu.

Viele Länder haben Probleme, den Lebensstandard zu halten, extreme Armut breitet sich neben kleinen Gebieten moderaten Wohlstands aus.

Das globale Einkommen stagniert praktisch. Viele Länder haben Probleme, den Lebensstandard auch nur zu halten, extreme Armut breitet sich neben kleinen Gebieten moderaten Wohlstands aus, zum Beispiel in Form von Slums am Rande ausufernder, schlecht geplanter Städte. Die Bevölkerung wächst ungebremst und erreicht 2100 die Schwelle von 13 Milliarden Menschen. Um mit wenig effektiven und effizienten Methoden genug Lebensmittel zu produzieren, wird an vielen Stellen der schlecht geschützte Wald gerodet. Es gibt wenig technischen Fortschritt, und wenn, dann verbreitet er sich kaum.

Der Verbrauch von Rohstoffen, auch fossilen Brennstoffen steigt. Für die Vermeidung von Treibhausgasen gibt es meist keinerlei Spielraum mehr. Und weil effektive Institutionen fehlen, wird der Schutz vor klimabedingten Katastrophen schwierig.

In dieser Zukunft steigen die Emissionen bis zum Ende des Jahrhunderts praktisch linear immer weiter an. Immerhin kann die gebremste Weltwirtschaft nicht ungehemmt Kohle oder Öl fördern und verbrennen, im Gegensatz etwa zu SSP 5 (siehe unten). Die Erde erhitzt sich darum um knapp vier Grad – eine Schreckensvision, wie sie auch zum Beispiel das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung 2012 in einem Bericht für die Weltbank entworfen hat. Bei einem solchen Ausmaß an Erderhitzung könnten sich auch die Alarmrufe vieler Wissenschaftler:innen bewahrheiten, die vor Milliarden künftiger Opfer der Klimakrise warnen.

SSP 4 – Die gespaltene Straße

Der reiche Teil der Menschheit meint hier, er habe alles im Griff. Er bildet eine zunehmend global vernetzte und international mobile, gut ausgebildete und wohlhabende Oberschicht, die genug Geld hat, in energiesparende Technologie zu investieren, wo es sich anbietet. Dennoch sind die Konsumansprüche hoch, daher auch der Ressourcenverbrauch. Die Umwelt versuchen die Reichen zunächst einmal nur lokal zu schützen, und zwar dort, wo sie selbst leben – in Enklaven.

Diese Elite konzentriert die wirtschaftliche, politische und soziale Macht auf sich. Wer nicht so privilegiert ist, lebt in einer zunehmend fragmentierten Welt mit schrumpfenden Chancen, wenig Bildungsmöglichkeiten, fehlender Mitsprache. Den globalen Visionen der Reichen stehen hier viele kaum zu überwindende Grenzen entgegen, die Gruppen und Nationalitäten voneinander trennen. In der Mittelklasse muss man ständig fürchten, immer weiter abzurutschen. Wer keine gute Ausbildung bekommen kann, findet dann auch keine oder nur schlecht-bezahlte Jobs. Diese Menschen profitieren auch kaum von der technologischen Entwicklung.

Sozialen Zusammenhalt gibt es allenfalls in der international denkenden Oberschicht, sonst aber nehmen die Konflikte und die Unzufriedenheit zu.

Der Energiemarkt ist unsicher, die Preise steigen. Das führt zu weniger Verbrauch bei den Armen, der jedoch mit mehr fossilen Brennstoffen und Kohle gedeckt wird, während die Reichen auf grüne Energiequellen umsteigen. Sozialen Zusammenhalt gibt es hier allenfalls in der international denkenden Oberschicht, sonst aber nehmen die Konflikte und die Unzufriedenheit zu.

Besonders in armen Ländern wächst die Bevölkerung; sie erreicht nach 2070 eine Größe von 9,5 Milliarden und sinkt dann sehr langsam. All das macht es schwer, sich auf die Folgen der Klimakrise vorzubereiten oder auch nur angemessen zu reagieren; Anpassung ist ein großes Problem, und viele Menschen aus den isolierten Gruppen mit geringem Einkommen leiden unter der Klimakrise. Die Elite ist zwar im Prinzip gut dafür gerüstet, die Emissionen schnell zu senken. Das klappt allerdings nur, wenn sie genug Aufmerksamkeit für die Klimaschäden hat, die sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung ja fernzuhalten versucht. Sie könnte aufwachen, wenn der lokale Fokus angesichts der globalen Folgen nicht mehr durchzuhalten ist.

Dieses Szenario benutzt der IPCC nicht in seinem Bericht, es spielt nur in einer Spezialauswertung eine Rolle. Seitdem die Geschichte jedoch zum ersten Mal in der Studie von Brian O’Neill und seinen Ko-Autor:innen erzählt wurde, finden sich hier von allen Narrativen die meisten Anknüpfungspunkte in der Gegenwart. Die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb Deutschlands wie im Vergleich mit dem globalen Süden kann man ja ständig in Presseberichten erleben. Im SSP 4 würde sie noch deutlich zunehmen. Zudem hängt es der Studie von 2016 zufolge zum Beispiel zurzeit nur an China, wenn sich die Einkommensunterschiede in der Welt verringern. Lässt man die asiatische Supermacht aus der Analyse aus, wachsen die Differenzen. Und nur in Ostasien hat eine nennenswerte Anzahl von Menschen demnach noch die Chance in eine globale Mittelschicht aufzusteigen, die täglich wenigstens zehn Dollar (mit der Kaufkraft von 2005) ausgeben kann.

In den fünf Szenerien entwickeln sich die Bevölkerungszahlen von knapp 7 Milliarden im Jahr 2010. Im SSP 3 nehmen sie auf knapp 13 Milliarden am Ende des Jahrhunderts zu; nur das Wachstum verlangsamt sich hier etwas. Die anderen Versionen der Zukunft erreichen zwischen 2050 und 2080 den Höhepunkt. Die Welt ist demnach 2100 Heimat für 7 bis 9,5 Milliarden Menschen (Szenarien SSP 1 bzw. SSP 4).
Zu den Stellgrößen für die Hochrechnungen der Zukunft gehört in den fünf SSP-Szenarien zum Beispiel die Entwicklung der Weltbevölkerung. Nur in der Version SSP 3, in der die Welt durch regionale Konflikte geprägt ist, gibt es im 21. Jahrhundert keine Trendumkehr.

SSP 5 – Die Autobahn

So haben sich vermutlich schon die Menschen im Wirtschaftswunder – und bis vor kurzem schwärmerische Ökonomen – die Zukunft vorgestellt: Energie im Überfluss und der üppige Verbrauch von Kohle, Öl und Gas treiben die Wirtschaft an. Gleichzeitig lassen immer besser funktionierende globale Märkte in allen Teilen der Welt zunehmenden Wohlstand entstehen; es bildet sich fast überall eine breite Mittelklasse.

Eine schnelle Digitalisierung verknüpft die Welt. Wer bisher benachteiligt war, bekommt nun seine Chance. Institutionelle Barrieren schwinden. Eine wesentlich bessere Bildung und Gesundheitsversorgung lassen die Geburtenraten und ab 2050 auch die Bevölkerungszahl sinken: Sie liegt 2100 wieder bei 7,5 Milliarden Menschen. Arbeitskräfte werden zunehmend international mobil und ziehen dorthin, wo der Arbeitsmarkt ihre Qualifikationen braucht.

Die Menschheit ist optimistischer geworden, dass sie soziale und ökologische Probleme lösen kann. Von letzteren gibt es aber auch immer mehr, das ist die Kehrseite.

Landwirtschaft wird überall auf der Welt stark intensiviert und technisiert und liefert jeder und jedem viel Fleisch und andere tierische Produkte. Überhaupt ist die Menschheit optimistischer geworden, dass sie soziale und ökologische Probleme lösen kann. Von letzteren gibt es aber auch immer mehr, das ist die Kehrseite. Bei Umweltschäden werden eher die jeweils lokalen Symptome als die globalen, systemischen Ursachen bekämpft.

Der Verbrauch von Rohstoffen und fossiler Energie boomt – die Klimafolgen will man darum falls nötig mit Geoengineering bekämpfen, also großtechnischen Versuchen, die Erde irgendwie wieder zu kühlen. Die zunehmend globalisierte Gesellschaft hat zunächst wenig Probleme, sich an die Folgen der Klimakrise anzupassen. Bis sie überhandnehmen, müsste man hier ergänzen. Dem gegenüber stehen große Schwierigkeiten, die Emissionen zu senken, denen die Menschen in diesem Narrativ ihren Wohlstand verdankt.

Nur in diesem Szenario, so die IPCC-Forscher:innen im aktuellen Bericht, schießen die Temperaturen bis zum Jahr 2100 um fast fünf Grad Celsius nach oben, ohne dass sich bis dahin auch nur das Erreichen eines Plateaus andeutet. Die Erhitzung wird ausgelöst durch Emissionen, die bis etwa 2080 steil ansteigen, bevor ein langsamer Rückgang einsetzt. Eine solche Entwicklung galt früher oft als Referenz-Szenario, als gängige Erwartung oder Business as usual. Inzwischen halten viele Fachleute eine solche rapide Erderhitzung für unplausibel. Zuletzt kam auch eine große Arbeitsgruppe an der Universität Hamburg zu diesem Urteil: Die Klimafolgen nehmen in diesem Szenario so schnell zu, dass eine globale Rezession die ungezügelte Energiewirtschaft abwürgt.

Darum betrachten die Fachleute für ihre Projektionen zusätzlich auch eine Variante, in der die SSP 5-Gesellschaft etwa 2040 eine Art Erweckungserlebnis hat und unvermittelt beginnt, die Emissionen radikal herunterzuprügeln. Aber 2070 wird dann im großen Maßstab mehr CO2 aus der Atmosphäre entnommen als noch hineingeleitet wird. So lässt sich die Temperaturzunahme auf 2,3 Grad am Ende des Jahrhunderts begrenzen, nachdem sie einige Jahrzehnte zuvor schon bei 2,5 Grad gelegen hat. Der IPCC-Bericht macht aber klar, dass die übrigen Klimaeffekte, etwa der Meeresspiegel, nicht im gleichen Maße zurückgehen. Und wer in der belebten Natur bei 2,5 Grad Erderhitzung seinen Lebensraum verloren hat, dem nützt die spätere Abkühlung wenig.

SSP 1 – Der grüne Boulevard

Die Menschheit begreift es langsam: Sie muss kooperieren und die globalen Gemeinschaftsgüter gemeinsam und vernünftig verwalten. Dazu gehört nicht nur die Atmosphäre mit ihrem Treibhausgas-Haushalt, sondern auch das Potenzial der Menschen auf aller Welt. Gute Ausbildung lässt die globale Bevölkerung ab 2060 wieder sinken. Die Politik auf allen Ebenen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft ziehen zunehmend an einem Strang. Der Energiesektor setzt auf erneuerbare Energiequellen im großen Maßstab und verabschiedet sich schnell von fossilen Brennstoffen, aber auch von der Kernkraft und der Nutzung der Biomasse. Stattdessen werden Naturflächen und die Wälder geschützt und wo nötig aufgeforstet.

Dieser Umschwung beginnt mit kleinen Gruppen hier und da, die sich mit der Zeit vernetzen, trotz Widerstand und Rückschlägen ausdehnen und weitere Sektoren erreichen. Eine soziale Bewegung entsteht.

Die sozialen Werte verändern sich deutlich: Viele Menschen fühlen sich nun dem Klimaschutz, den Entwicklungszielen und der Reduktion von Ungleichheit verpflichtet. Das wachsende Einkommen führt nicht unbedingt zu verstärktem Konsum, denn inzwischen zählen der geringe Materialeinsatz und Energieverbrauch. Wirtschaftswachstum ist kein absolutes Ziel mehr. Dieser Umschwung beginnt mit kleinen Gruppen hier und da, die sich mit der Zeit vernetzen, trotz Widerstand und Rückschlägen ausdehnen und weitere Sektoren erreichen. Eine soziale Bewegung entsteht. Sie unterstützt politische Initiativen, die mit Steuergesetzen und Finanzinstrumenten den Ausbau der erneuerbaren Energieformen vorantreiben.

Neue Umweltschäden werden so vermieden und über die Zeit auch die älteren behoben. Luftqualität steht oft ganz oben auf der Prioritätenliste, so verbessert sich auch die Gesundheit vieler Menschen. Deutliche Fortschritte der Technologie verbreiten sich schnell weltweit. Auf dieser Basis hat die Welt wenige Probleme, die Folgen der Klimakrise zu meistern und die Emissionen schnell genug zu senken.

Dieses Szenario ist das einzige, in dem die Menschheit die Ziele des Pariser Abkommens erfüllen kann. Die Forscher:innen haben die Erzählung für den IPCC-Bericht mit zwei verschiedenen Emissions-Linien kombiniert, die ehrgeizige oder sehr ehrgeizige Reduktionen vorsehen. Die Gesellschaften der Welt schaffen es in diesen Versionen der Zukunft, den Treibhausgas-Ausstoß ab 2025 mehr oder weniger stark fallen zu lassen. Ab 2055 oder 2075 wird dann netto CO2 aus der Atmosphäre entnommen. So gelingt es, die Erwärmung in einem Szenario tatsächlich auf knapp 1,5 Grad zu begrenzen, im anderen auf etwa 1,8 Grad, was immerhin dem Diktum des Pariser Vertrages entspricht, „deutlich unter zwei Grad“ zu bleiben.

Die gesellschaftliche Entwicklung, von der das SSP 1-Narrativ erzählt, stellt einen deutlichen Bruch mit den bisherigen Trends da, erklären die Autor:innen der Studien von 2016. Die Ideen einer grünen Ökonomie und von grünem Wachstum weisen in die Richtung. Inzwischen hat zum Beispiel die EU den sogenannten „Green Deal“ auf den Weg gebracht, der die Wirtschaftshilfen in der Coronakrise als klimafreundlichen Aufbruch gestalten soll. Ein zentrales Element dieser Zukunfts-Geschichte ist der breite Wertewandel, der die Menschheit erfasst. In einer Variante könnte er sogar zu abnehmendem Konsum und einer Form von Genügsamkeit und gezieltem Rückgang von materiellem Wohlstand führen.

Das Schicksal gestalten

Was von diesen Szenarien Wirklichkeit wird, weiß heute noch niemand. Womöglich wird es Mischformen der Prototypen geben, vielleicht erkennt die Welt-Gesellschaft auch eines Tages, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hat, und ändert radikal den Kurs. Solche Einsicht kann man sich nur eher früher als später wünschen. Oder noch besser: Nicht nur wünschen, sondern aktiv dafür arbeiten. Diese Szenarien sind schließlich kein Schicksal, und die reale Zukunft können wir gestalten. Angefangen mit einer Entscheidung an der Wahlurne zur Bundestagswahl, bei der die Ideen der bevorzugten Partei zur Klimakrise das entscheidende Kriterium sind. ◀

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