„Die Menschen sind am Ende ihrer Kräfte“

Welchen Ausweg gibt es aus der Staatskrise in Tunesien?

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
10 Minuten
Ein Mann in seinen Dreißigern sitzt an einem Schreibtisch und schreibt an einem Computer.

Seit Ende Juli hat Tunesiens Präsident Kais Saied nach und nach immer mehr Macht an sich gerissen. Seine Kritiker haben Angst, dass aus dem Notstand ein Dauerzustand wird. Die Arbeitsbedingungen für Journalistïnnen verschlechtern sich und die politische Debatte wird aggressiver. Selim Kharrat hat 2011 die Nichtregierungsorganisation Al Bawsala mitbegründet, sozusagen das tunesische Pendant zu Abgeordnetenwatch. Die NGO überwacht die Arbeit des Parlaments, aber auch den Haushalt und den Dezentralisierungsprozess Tunesiens. Sie ist eine der wichtigsten Watchdog-Organisation des Landes.

Selim Kharrat, kam der 25.Juli für Sie überraschend oder war es abzusehen, dass so etwas passiert?

Ja und nein. Nein, weil wir nicht erwartet hatten, dass der Präsident den Notstandsartikel 80 nutzt. Wir hielten das für nicht sehr wahrscheinlich, dass er ihn in Ermangelung eines Verfassungsgerichts aktivieren könnte (das der Präsident eigentlich hätte konsultieren müssen, Anm.d.Red). Leider hat er es gewagt. Und: Ja, das war zu erwarten, weil die Situation so angespannt war. Die verschiedenen staatlichen Institutionen waren an ihre Grenzen gekommen und wir wussten nicht, wie es ohne den Zusammenbruch des Staates hätte weitergehen können.

Im Ausland, vor allem in Europa, hatten viele lange das Bild im Kopf, dass Tunesien ein demokratischer Staat ist – der einzige der arabischen Welt, der in den letzten zehn Jahren den Übergang in rechtsstaatliche Strukturen geschafft hat. Was war der Schlüsselmoment, an dem etwas schiefgelaufen ist und Tunesien den demokratischen Weg verlassen hat?

Die Situation hat sich nach den Wahlen 2019 deutlich verschlechtert. Seit den ersten Tagen der Arbeit des Parlaments haben wir gemerkt, dass es nicht funktioniert hat. Das hing vor allem mit der außergewöhnlichen Zersplitterung des Parlaments in viele mittlere und kleine Fraktionen zusammen. Dies erschwerte die Bildung von Koalitionen und parlamentarischen Mehrheiten erheblich. Und dann kam es sehr schnell zu Spannungen zwischen den verschiedenen Parlamentariern. Die Fraktion von Abir Moussi von der Freien Destourpartei (rechtskonservative Partei, die sich auf den ehemaligen Machthaber Ben Ali beruft, Anm.d.Red) hat die Arbeit des Parlaments stören wollen. Irgendwann haben wir gesagt, dass sie die Arbeit des Parlaments regelrecht trollt, wie man aus den sozialen Netzwerken kennt. Anstelle von demokratischen Debatten, anstelle von Argumenten und Gegenargumenten zu Projekten, zu politischen Ausrichtungen, zu Gesetzen, sind die Diskussionen sehr schnell in persönliche Angriffe übergegangen. Es gab eine Polarisierung der Debatte innerhalb des Parlaments, aber auch im weiteren Sinne innerhalb der tunesischen Gesellschaft. Und dann kehrte mit voller Wucht diese anti-islamistische Spaltung zurück, aufgrund der erbitterten Opposition von Abir Moussi gegen (die islamisch-konservative Partei, Anm.d.Red.) Ennahdha und seine islamistischen Verbündeten. Wir hatten den Eindruck, dass wir wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt sind: in die Zeit von 2012, 2013, als es zu einer echten Konfrontation mit den Islamisten kam, die damals eine Mehrheit in der verfassungsgebenden Nationalversammlung hatten.

Die Frage nach der Rolle der Religion in der Gesellschaft und der Politik schien doch eigentlich seitdem längst geregelt?

Auf jeden Fall, denn die Verfassung von 2014, die drei Jahre brauchte, um zustande zu kommen, ist – so dachten wir zumindest – eine Art neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Tunesiern aller weltanschaulichen und politischen Richtungen. Leider ist in der öffentlichen Meinung und in der tunesischen Wählerschaft diese Empfindlichkeit gegenüber dem Islamismus, ob positiv oder negativ, sehr stark geblieben. Und das ist der Grund, warum anti-islamistische Parteien wie die von Abir Moussi seit den Wahlen 2019 viel Zuspruch erhalten haben. Die Wahlen haben der Partei einen Schub gegeben und ihr fast zwanzig Sitze im Parlament beschert. Wir haben uns also geirrt, als wir sagten, dass diese Frage erledigt sei. Ein neues politisches Element hat gereicht, diese Konfrontation zu reaktivieren. In der tunesischen Gesellschaft gibt es leider eine Gruppe, die eine andere aus dem öffentlichen und politischen Raum, ja sogar aus dem gesellschaftlichen Raum entfernen möchte.

Die tunesische Gesellschaft ist in weiten Teilen relativ konservativ. Kais Saied verkörpert selbst diesen gesellschaftlichen Konservatismus. Wie erklärt sich dann dieser Widerstand gegen den Islamismus?

Was den Tunesiern an Ennahdha missfällt, ist weniger das islamistische Projekt. Das hat sie ja stark abgemildert. Es ist eine Opposition gegen die Art und Weise, wie die Islamisten sich verhalten, wenn sie an der Macht sind. Dass sie dieselben Regierungsmechanismen wie vor der Revolution reproduzieren. Die Ennahdha ist so etwas wie eine Zwillingsschwester der aufgelösten Einheitspartei Ben Alis geworden.

In welchem Sinne?