Kais Saied: zwischen Populismus und einer totalitären Vision von Reinheit und Moral

Die Politologin Nadia Marzouki über das Gedankengebäude des tunesischen Präsidenten, das totalitäre Züge trage

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
9 Minuten
Ein Mann steht während des Präsidentschaftswahlkampfes 2019 in einer Menschenmenge auf der Ave Bourguiba der Hauptstadt Tunis. Um die Schultern geschlungen trägt er eine fast bodenlange Plane, auf der das Gesicht von Kais Saïed abgebildet ist.

Die franko-tunesische Politologin Nadia Marzouki von der französischen Elite-Universität Science Po forscht zu Politik, Religion und Identität in Europa, den USA und Nordafrika. Im Interview sagt sie, dem autoritär-populistischen Diskurs des tunesischen Präsidenten Kais Saied liege ein außergewöhnliches Rechtsverständnis zu Grunde, in dem Moral und Reinheit zentrale Elemente seien. Hinter dem Populismus verberge sich eine totalitäre Utopie.

Sie haben Tunesien während der Diktatur von Ben Ali erlebt. Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen?

Ich bin perplex und traurig angesichts der aktuellen Entwicklung, vor allem mit Blick auf das Potential des Landes, das sich 2010, 2011 abgezeichnet hatte. Die Ergebnisse des demokratischen Übergangs waren unzureichend, aber es gab immerhin welche. Diese Entwicklung wurde nicht nur gestoppt, wir wurden seitdem sehr, sehr weit zurückgeworfen – in eine Zeit, in der die Freiheit möglicherweise noch stärker bedroht ist als unter der Diktatur von Ben Ali.

Kais Saied wurde im Herbst 2019 mit großer Mehrheit demokratisch gewählt. Haben Sie damals angesichts seines politischen Projekts und seiner Ideen schon eine solche Entwicklung erwartet?

2019 hatte niemand mit so einer schnellen und so drakonischen Entwicklung gerechnet. Es gab zwar durchaus schon Anlass zur Sorge, wegen seines populistischen Diskurses vom guten Volk, das von den bösen Eliten instrumentalisiert wurde; vom Anführer, der sich als Retter dieses Volkes darstellte. Aber das war damals nur Rhetorik. Viele wollten ihm eine Chance geben, denn all die Akteure des vergangenen Jahrzehntes waren in vielerlei Hinsicht gescheitert. Ich stand diesem populistischen Diskurs, der gegen Institutionen, das Parlament und Parteien gerichtet war, kritisch gegenüber. Aber erst später, ab dem Putsch am 25.Juli 2021, haben wir wirklich einen Übergang zu einem autoritären Regime erlebt, mit der Schließung des Parlaments, der Verabschiedung der neuen Verfassung, die die Befugnisse auf den Präsidenten konzentriert; mit der Einschränkung der freien Meinungsäußerung; der Willkür und der Instrumentalisierung der Justiz.

Meterhohes Wandbild von Mohamed Bouazizi über der Post von Sidi Bouzid an der Hauptstraße der Stadt.
Noch heute prangt das Bild von Mohamed Bouazizi über der Hauptstraße von Sidi Bouzid, wo er sich am 17.Dezember 2010 angezündet und damit den Umbruch in Tunesien ausgelöst hat.