Pflegeversicherung: „Die Bürger zahlen, dann müssen sie auch über Leistungen mitentscheiden dürfen.“

Pflegende Angehörige erleben jeden Tag, wo es bei der Versorgung hapert. Ihr Wissen muss in der politischen Diskussion eine viel größere Rolle spielen, fordert Brigitte Bührlen von der Wir! Stiftung pflegender Angehöriger. In jedem Ort sollte es Pflegebeiräte geben, die in Entscheidungen eingebunden sind.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
6 Minuten
Das Portraitbild zeigt Brigitte Bührlen, die sich seit vielen Jahren dafür engagiert, dass pflegende Angehörige in der politischen Auseinandersetzung rund um die Pflege stärker gehört werden.

Brigitte Bührlen hat viele Jahre ihre Mutter gepflegt. Damals fing sie an sich zu fragen, warum pflegende Angehörige keine Lobby und keine Rechte haben. „Ein Problem der Angehörigenpflege ist, dass Angehörige nicht als Experten in eigener Sache gesehen werden“, schrieb sie uns als Reaktion auf unseren Newsletter zur häuslichen Pflege. Um pflegenden Angehörigen in der politischen Diskussion eine stärkere Stimme zu geben, hat sie eine Stiftung und einen Verein ins Leben gerufen. „Die Probleme der Angehörigenpflege können nur gemeinsam gelöst werden: wir, die Betroffenen im Austausch mit anderen BürgerInnen“, ist sie überzeugt. Ein Gespräch über fehlende Rechte, Geld, Vertrauen und die Verantwortung der Gesellschaft. Teil 3 der Debatte zur Zukunft der Pflegeversicherung.

Frau Bührlen: Das Kabinett hat den Entwurf für die Pflegereform gebilligt. Unter anderem sollen das Pflegegeld und die Sachleistungen Anfang 2024 um je fünf Prozent steigen. Die Zuschläge zu den Pflegeheimkosten werden erhöht. Sind sie zufrieden mit dem Ergebnis?

Bührlen: Die Vorschläge sind völlig unzureichend. Es gibt ein paar oberflächliche Verbesserungen. Aber an den bestehenden Strukturen wird nichts verändert. An eine wirkliche Reform traut sich niemand ran.

Was müsste sich denn ändern?

Wir bezahlen von unserem Entgelt die Pflegeversicherung, ob wir wollen oder nicht. Aber wir haben als Bürger an keiner Stelle Mitsprache- oder Kontrollrechte. Mich würde zum Beispiel interessieren, wofür die vorhandenen Gelder der Pflegeversicherung ausgegeben werden. In den Beratungs- und Entscheidungsgremien ist vor allem die Pflegewirtschaft vertreten. Pflegende Angehörige müssen aber dringend mit am Tisch sitzen und über Leistungen und Ausgaben mitentscheiden können.

Aber es gibt doch viele Initiativen, die für pflegende Angehörige sprechen und ihre Interessen einbringen.

Das reicht nicht. Wir müssen das Thema anders angehen. Es müsste vor Ort in jeder Kommune, regional, landes- und bundesweit eine rechtlich verankerte Vertretung für pflegende Angehörige geben, so wie wir es von Schulelternbeiräten kennen. Davon sind wir weit entfernt. Derzeit ist noch nicht einmal rechtlich eindeutig beschrieben, wer zur Gruppe derer, die Angehörigen-Pflege leisten, gehört. Entsprechend kann man auch keine Rechte ableiten. Das muss sich ändern.

Was wäre die Aufgabe dieser Beiräte?

In ihrem Auftrag müssten erst einmal belastbare Daten erhoben werden: Wie viele Pflegende gibt es überhaupt? Welche Bedarfe haben sie? Welche Angebote gibt es? Was fehlt? Wissen Sie: Ich habe zwölf Jahre lang eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Demenzkranken geleitet und mich oft gefragt: „Was passiert mit den vielen wertvollen Erfahrungen?“ Im Moment: nichts. Sie spielen keine Rolle. Die Erfahrungskompetenz pflegender Angehöriger muss in alle, die Pflege betreffenden Überlegungen und Planungen mit einbezogen werden.

Ich bin zutiefst überzeugt: Es wären noch genug Gelder da, wenn wir uns auf die Kernpflege konzentrieren würden

Sie schreiben, die Rahmenbedingungen der Pflege in Deutschland müssten endlich an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Was meinen Sie damit?

Es kann nicht sein, dass gut ausgebildete Frauen und Männer ihren Beruf an den Nagel hängen, wenn eine Pflegesituation auftritt, unentgeltlich pflegen, um dann gerne und demütig die auf sie wartende Altersarmut erdulden. Die Leistungen der Angehörigen-Pflege müssen beschrieben und zumindest in Teilen vergütet werden. Mit einer Entlohnung würden wir uns vom Subsidiaritätsprinzip abwenden, nachdem alles, was der Einzelne oder die Familie aus eigener Initiative leisten kann, nicht der Gesellschaft als Aufgabe zugewiesen werden darf. Da traut sich aber niemand ran.

Woher soll das Geld dafür kommen? Schon jetzt hat die Pflegeversicherung ein hohes Defizit.

Ich denke, wir müssen die Sinnhaftigkeit einiger Ausgaben der Pflegeversicherung hinterfragen. Wie viele Studien und Projekte müssen wir noch finanzieren? Wir haben seit vielen Jahren keinerlei Erkenntnisproblem, an wissenschaftlichen Studien fehlt es wahrhaftig nicht. Was fehlt sind wir, die Betroffenen, die Druck auf die Politik ausüben. Ich bin zutiefst überzeugt: Es wären noch genug Gelder da, wenn wir uns auf die Kernpflege konzentrieren würden.

Alles wir kontrolliert und hinterfragt, da brennen die Menschen aus.

Sie fordern, die Leistungen der Pflegeversicherung stärker am tatsächlichen Bedarf der Menschen auszurichten.

Ja, die Familien sollten ein Budget bekommen und selbst entscheiden, wie sie die Pflege organisieren. Sie könnten sich so die Hilfe einkaufen, die sie wirklich brauchen. Die meisten pflegenden Angehörigen fühlen sich verantwortlich und sind bereit zu helfen. Aber sie stoßen auf viel Misstrauen. Alles wird kontrolliert und hinterfragt, da brennen die Menschen aus. Statt Misstrauen könnten wir ihnen doch erstmal Vertrauen entgegenbringen. Wer sagt: „Ich kann das nicht alleine organisieren“, muss jemanden an die Seite gestellt bekommen, der sich die individuelle Situation anschaut und hilft, bis die Versorgung steht.

Um eine Pflege zu organisieren, muss es ausreichend Unterstützungsangebote geben. Denn sonst stehen Angehörige am Ende doch wieder alleine da.

Die Kommunen müssten die Verantwortung haben, die Infrastruktur auszubauen. Allein mit professionellen Kräften werden wir die Versorgung aber nicht sicherstellen können. Es kann auch nicht der Weg sein, dass wir Menschen aus aller Welt als Pflegekräfte zu uns holen. Wir müssen schon selbst sehen, wie wir die Pflege unserer Mitmenschen hinbekommen. Die Zivilgesellschaft muss diese Aufgabe maßgeblich mittragen. Im Gegenzug muss sie aber auch mitentscheiden dürfen.

Wie könnte das aussehen?

Eine Idee ist, dass Menschen dort, wo sie leben, Pools bilden, und sich gemeinsam um die Versorgung von pflegebedürftigen Menschen kümmern. Oft lebt die Familie ja gar nicht vor Ort und kann deshalb auch nicht helfen. Aber andere könnten es. In dem Ort, in dem ich lebe, bringe ich mich ein. Ich denke, in diese Richtung müssen wir uns bewegen, aber ich habe keine fertigen Antworten. Wir müssen verschiedene Konzepte nebeneinanderlegen, mit Menschen, die den Pflegealltag kennen, darüber diskutieren und gemeinsam überlegen, wie gute Lösungen aussehen können.

Warum fällt es schwer, das durchzusetzen?

Wir, die BürgerInnen, die Betroffenen haben bislang keine Lobby für uns selbst gebildet. Das ist es was zugegebenermaßen fehlt.

Auch andere pflegende Angehörige haben auf unseren Newsletter reagiert und ihre Sicht geschildert. Eine Auswahl in Auszügen:

„Ich bin mit Mitte 40 ebenfalls in die Situation geraten, mich um meine Mutter kümmern zu müssen, im Prinzip rund um die Uhr. Am Morgen entlastet mich der Pflegedienst etwas, den restlichen Tag übernehme ich, auch weil häusliche Tätigkeiten wie Einkaufen oder Essen zubereiten vom Pflegedienst nicht abgedeckt werden. Meinen Beruf wickle ich mehr schlecht als recht über Home -Office ab. Ich stolpere immer wieder über den Hinweis, dass häusliche Pflege eine weibliche Angelegenheit sei. Mir ist bewusst, dass meine Erfahrung nur anekdotische Relevanz besitzt, aber dennoch: In meinem Bekanntenkreis sind eben nicht „fast immer Frauen“ betroffen, dort bilden pflegende Männer die Mehrheit. Sie alle vernachlässigen ihren Beruf – vonseiten der Frauen gibt es dafür meist nur zähneknirschend Verständnis. Wenn überhaupt. Ich bin die Klischees leid, ich bin es leid, in Zeiten höchster Belastung von Medien gegängelt und beschimpft zu werden. Wieder und wieder. Seit Jahren. Ja, irgendwann nimmt man das persönlich, irgendwann macht das was mit einem.“

Wie sieht es aus, wenn ein junger Mensch bei einem Autounfall früh zum Pflegefall wird

„Betreuende Angehörige sind eine gesellschaftspolitisch sehr wichtige Kraft. In Eurem Artikel schreibt Ihr, dass es keine Lobby in diesem Bereich gibt. Diese Aussage möchte ich relativieren, die Betroffenen und Ihre Unterstützenden waren lange nicht sichtbar. Dank der digitalen Errungenschaften ändert sich dies. Es gibt viele Gruppen die sich für Erkrankte und Ihr Umfeld einsetzen z.B. Alzheimer Vereinigung, SRK, Pro Senectute, Lebensheldin.de, Eurocarers, Lebensheldin, Demenz Meets etc. und vermehrt auch digitale Instrumente für den Alltag z.B. pflegebox.de.

„Die Politik, auch die ausführenden Organe wie die Stelle, die die Einstufung in die Pflegegrade vornehmen, reagieren mehr als ungerecht. Wie sieht es aus, wenn ein junger Mensch bei einem Autounfall früh zum Pflegefall wird? Da gab es noch keine Finanzpolster. Da ist Armut vorprogrammiert. Der Gesetzgeber macht hier keine Unterschiede.“

„Wenn man wie ich keine Angehörigen mehr hat, und die ambulanten Dienste überlastet sind, was macht man dann? Ich habe zurzeit einen ambulanten Dienst, der mich duscht. Bin sehr glücklich darüber, war auch schon anders.“

„Ich habe eine Petition an die Hamburger Bürgerschaft geschrieben, wie sie dazu steht, dass in der Zeit, in der ich Pflegegeld beziehe, keine einzige Erhöhung des Pflegegeldes beschlossen wurde.“

Unser neuer Newsletter beschäftigt sich mit der Frage, wie der Platz in den Städten neu verteilt werden kann.

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