Kernkraft nur Nebenschauplatz: Das sind die Herausforderungen der Energiewende

Der Atomausstieg kommt dreieinhalb Monate später, der westdeutsche Kohleausstieg acht Jahre früher: Jetzt kann sich die Ampelkoalition von allen Seitenthemen abwenden und das Energiesystem endlich umfassend und schnell modernisieren – eine Herkulesaufgabe

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Die vier Politiker stehen an einer Wand zusammen, Scholz dominiert mit einer entschlossenen Handgeste die Runde.

In den vergangenen Tagen konnte man glauben, Deutschland sei in Wahrheit Frankreich, wo der Anteil des Stroms, der aus Kernkraftwerken stammt, 2021 bei 69 Prozent lag. Die Frage, wie viele Monate die verbleibenden deutschen Kernkraftwerke länger laufen dürfen als im schwarz-gelben Ausstiegsgesetz von 2011 geregelt, dominierte den Grünen-Parteitag, die öffentlichen Auftritte von FDP-Chef Christian Lindner und die Schlagzeilen.

In der Koalition drohte deswegen eine so ernsthafte Krise, dass Bundeskanzler Olaf Scholz glaubte, schriftlich auf seine Richtlinienkompetenz pochen zu müssen, um eine Lösung zu erzwingen – ein in der bundesdeutschen Geschichte seltener Vorgang.

Zusätzlich zu den beiden süddeutschen Anlagen Isar-2 und Neckarwestheim-2 soll Scholz zufolge nun auch das niedersächsische Kernkraftwerk Emsland bis Mitte April zur Stromerzeugung zur Verfügung stehen, statt am 31. Dezember vom Netz zu gehen. So hat es das Bundeskabinett inzwischen beschlossen.

Ein riesiger Sturm im Wasserglas

Die politischen Kommentatoren überschlugen sich einige Tage mit Deutungen, welcher der beiden kleineren Koalitionspartner gewonnen oder sich eine blutige Nase geholt hat. Die „Bild” sprach von einem „Habeck-GAU”. Malte Kreuzfeldt von der „tageszeitung” rechnete dagegen vor, die FDP habe nur zehn Prozent der von ihr geforderten Laufzeitmonate bekommen.

Doch nüchtern betrachtet ist all das ein Sturm im Wasserglas. Medien und Politik in Deutschland leisten sich seit Monaten in der Energie-Debatte den riesigen Fehler, sich auf Nebenschauplätze zu konzentrieren statt die eigentlichen Probleme und Herausforderungen ins Visier zu nehmen.

Natürlich ist, wenn man den Satz des Bundeswirtschaftsministers ernst nimmt, dass „jede Kilowattstunde zählt”, auch die Kernkraft ein Faktor. Doch ihr Anteil an der Stromerzeugung ist in einem langen, 2011 von CDU und FDP besiegelten Prozess von 31 Prozent im Jahr 1999 auf sieben Prozent in diesem Jahr gesunken. Strom macht wiederum neben Wärme und Kraftstoffen nur einen vergleichsweise kleinen Teil des gesamten deutschen Energieverbrauchs aus. Am sogenannten Primärenergieverbrauch hatte die Atomkraft deshalb im ersten Halbjahr 2022 einen Anteil von gerade einmal 3,1 Prozent. Ungefähr so groß sollte ihr Anteil an den Energiedebatten sein.

Deutschland ist eben nicht Frankreich. Der westliche Nachbar hat 2022 seine eigene, rein nukleare Energiekrise erlebt, weil ein Teil der Kernreaktoren wegen dringend nötiger Wartungsarbeiten und ein anderer Teil wegen fehlendem Kühlwasser aus den durch Hitze geschrumpften Flüsse stillstand. Hauptsächlich Deutschland hat – auch mit Ökostrom – den Franzosen durch enorme Elektrizitätsexporte aus der Patsche geholfen.

In den vergangenen Tagen konnte man den Eindruck bekommen, längere Laufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke könnten die Menschen in Deutschland, die unter hohen Energiepreisen leiden, mit deren Billigstrom versorgen. Das stimmt aber nicht.

Das Kraftwerk liegt am linken Isarufer bei Essenbach in Niederbayern. Der Kühlturm liegt direkt an einem hier aufgestauten Stück des Flusses, über ihm hängt eine kleine Dampfwolke.
Luftaufnahme des Kernkraftwerks Isar. Der Reaktor 2 in der Kuppel neben dem Kühlturm ist noch in Betrieb und soll es nach dem Willen von Politiker:innen von CDU/CSU und FDP auch bleiben.

Ja, Kernenergie aus bereits vorhandenen Reaktoren ist wie Strom aus Wind und Sonne in der Erzeugung viel billiger als Strom aus Erdgas. Aber dieser Erzeugerpreis wird nicht einfach an den Verbraucher weitergegeben. Den Verkaufspreis setzt nach den Regeln der Leipziger Energiebörse immer das teuerste Kraftwerk, das laufen muss, um den Verbrauch zu decken. 2022 gab es laut Bundesnetzagentur genau null Tage, an denen kein Gaskraftwerk lief. Nuklearstrom führt bisher höchstens dazu, dass bei der Preisbildung ein sehr sehr teures Gaskraftwerk durch ein sehr teures ersetzt wird. Das ist natürlich nicht nichts. Aber die Verheißung, Bürger könnten quasi direkt „billigen Atomstrom” kaufen, wenn die Anlagen länger laufen, ist fahrlässig, irreführend.

Um etwas an der Preisbildung zu ändern, muss die Regierung erst noch einen bisher ungekannt harten Eingriff in den Strommarkt rechtssicher hinbekommen. Das kann dauern – und bis dahin sollten als billigste Energiequellen reichlich Wind- und Solaranlagen hinzugekommen sein. In die Rechnung muss auch eingehen, dass die immensen Kosten für die atomare Entsorgung uns erst noch ins Haus stehen.

Lindner hat selbst das Schlusswort zur Kernkraft gesprochen

Es ist dennoch eine sinnvolle Entscheidung, dass die drei verbleibenden deutschen Kernkraftwerke nun ihre in den Brennelementen noch vorhandene Energie bis Mitte April ausnutzen, wie Bundeskanzler Scholz es gegenüber seinen drei Ministern verfügt hat. Aber aus einem anderen Grund.

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