Keine Mehrheit für Corona-Impfpflicht im Bundestag in Sicht

Ein Teil hält die Pandemie für beendet, andere warnen vor neuen Lockdowns im Herbst. Und die jüngste Abgeordnete hält eine Wutrede.

vom Recherche-Kollektiv Corona:
5 Minuten
Das Bild zeigt dem Bundestag während der Debatte um die Einführung einer Impfpflicht.

Der Bundestag hat die zweite große Debatte über die Einführung einer Impfpflicht erlebt. 90 Minuten haben die Abgeordneten heftig gestritten. Ein klares Meinungsbild war am Donnerstag (17.03.) kaum zu erkennen. Dem Parlament liegen inzwischen fünf Anträge vor, über die im April abgestimmt werden soll: Die AfD und eine Gruppe um den FDP-Politiker Wolfgang Kubicki lehnen die Impfpflicht aus unterschiedlichen Gründen ab. Die Unionsfraktion will ein Impfvorsorgekonzept einführen, das vom Bundestag beim Auftreten einer gefährlichen Corona-Variante aktiviert werden soll. Ein parteiübergreifender Antrag schlägt eine verpflichtende Impfberatung für alle ungeimpften Erwachsenen vor, die mit einer Impfpflicht für Menschen über 50 Jahre gekoppelt werden soll, weil diese besonders gefährdet sind. Der fünfte, ebenfalls von Politikern mehrerer Parteien unterstützte Vorschlag, will eine allgemeine Impfpflicht für alle Erwachsenen ab 18 Jahren einführen.

Bundestag auf der Suche nach Mehrheiten

Es könnte sein, dass keiner der fünf Anträge bei der Abstimmung im April eine Mehrheit findet. In Deutschland würde sich dann nichts ändern. Die Impfungen bleiben dann freiwillig. Aber der Bundestag müsste mit dem Makel leben, dass er sich weder für noch gegen eine Impfpflicht positioniert hat, sondern sich selbst mit Verfahrensfragen blockiert. Es wird schwierig, die Bevölkerung von einer Impfpflicht zu überzeugen, wenn noch nicht einmal die politisch Verantwortlichen dem Konzept mit einer großen Mehrheit trauen.

Es scheint, als ob der Bundestag mögliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung für den Fall einer neuen Corona-Welle nicht in den Griff bekommt. Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes zum Wochenende übergibt der Bundestag die Verantwortung weitgehend an die Länder. Sie sollen zukünftig auf Hotspots reagieren, während fast alle bundesweit geltenden Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden. Über das Thema Impfpflicht wurde am Donnerstag in einer Form diskutiert, die nicht angemessen erscheint, angesichts der Folgen der nun schon zwei Jahre dauernden Pandemie.

Abgeordnete reden „medizinischen Unsinn“

Zum einen ist die Unkenntnis einiger ParlamentarierInnen erschreckend. „Was hier an medizinischem Unsinn zu hören ist, das ist hanebüchen“, sagte der SPD-Abgeordnete Herbert Wollmann. Der Arzt aus Stendal unterstützt den Antrag einer Ü-50-Impfpflicht und setzte sich mit den Redebeiträgen auseinander, die wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren. Tatsächlich leugnen nicht nur AfD-Abgeordnete die Wirksamkeit der Impfungen oder überhöhen die Nebenwirkungen.

Vielen PolitikerInnen scheint nicht klar zu sein, dass eine Schutzwirkung von „nur“ 80 oder 90 Prozent vor schweren Krankheitsverläufen immerhin bedeutet, dass ein Großteil der Bevölkerung im Krankheitsfall einen milderen Verlauf erlebt. Das führt zu einer geringeren Belastung des Gesundheitswesens, von der wiederum auch Patienten profitieren, die nicht wegen Corona, sondern aus einem anderen Grund ins Krankenhaus müssen.

Oft verkannt wird auch der Einfluss einer höheren Impfquote auf das Infektionsgeschehen. Dass sich aktuell viele Menschen mit Omikron anstecken, scheint die Wirkung der Impfung infrage zu stellen. Dabei ist es keine Überraschung: Auch wenn die Impfung das Risiko einer Infektion verringert, können sich Menschen trotzdem mit Sars-CoV-2 infizieren und das Virus weiterverbreiten. Die Schutzimpfung führt jedoch dazu, dass geimpfte Personen im Vergleich zu den Ungeimpften unterm Strich weniger andere Menschen mit dem Virus anstecken.

Ist die Pandemie zu Ende oder kommt neue Welle?

Die Bewertungen der Abgeordneten lassen sich überwiegend in zwei Lager teilen. Die einen rechnen mit einer neuen, gefährlichen Corona-Welle spätestens im Herbst. Die anderen halten die Pandemie für weitgehend überstanden. Die SPD-Gesundheitsexpertin Heike Baehrens, Befürworterin der allgemeinen Impfpflicht, sagte, das Virus sei nicht berechenbar. Deshalb müsse mit einer Impfpflicht die Voraussetzung dafür geschaffen werden, „dass wir nicht noch mal von einer Welle überrollt werden“. Nach Ansicht von Gesundheitsminister Lauterbach liegt die Wahrscheinlichkeit, dass im Herbst eine gefährlichere Variante als derzeit auftrete, bei 100 Prozent. „Wir müssen uns vorbereiten“, sagte er.

Ungeimpfte nehmen „das Land in Geiselhaft“

Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte hat zwar in seinem Bundesland die höchste Impfquote. Dennoch zeigte er sich als Vertreter der MinisterpräsidentInnen pessimistisch, ob man weitere Impfskeptiker noch erreichen könne. Die stagnierende Impfquote stelle Deutschland vor die Wahl zwischen ständig wiederkehrenden Einschränkungen und einer Impfpflicht für alle, sagte er. Auch der Gesundheitsminister will mit der Impfpflicht erneute Kontaktbeschränkungen und Schließungen verhindern. Deutschland dürfe sich nicht in die Geiselhaft einer Gruppe von Menschen begeben, „die sich gegen jede wissenschaftliche Evidenz durchsetzen wollen“, sagt Lauterbach.

Auch Manuel Höferlin, Gegner der Impfpflicht, sieht kaum Chancen, dass freiwillige Appelle die Impfbereitschaft erhöhen, zieht daraus aber einen anderen Schluss. „Wir müssen vulnerable Gruppen schützen, aber nicht vor sich selbst“, sagt der FDP-Politiker mit Blick auf etwa drei Millionen ungeimpfte ältere Menschen mit einem höheren Risiko für einen gefährlichen Covid-19-Verlauf. Wer sich bis jetzt nicht habe impfen lassen, der wolle wohl nicht. Ob Höferlin im Fall einer heftigen Corona-Welle einen neuen Lockdown zum Schutz dieser Menschen verhängen würde, sagte er nicht.

Wutrede der jüngsten Abgeordneten Emilia Fester

Die Unsicherheit, ob im Herbst neue Einschränkungen kommen werden, brachte Emotionen in die Debatte. Emilia Fester, mit 23 Jahren die jüngste Abgeordnete im Bundestag, hielt mit Blick auf ihre persönliche Situation eine Wutrede. Sie habe wegen der Beschränkungen kaum andere Menschen kennenlernen können. Ihre Generation verliere in der Pandemie ihre Gegenwart, ihren Sport, ihre Bildung, ihre Reisen, ihren Spaß am Jungsein, sagte die Grünen-Politikerin. Das müsse jetzt ein Ende haben. „Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, beeinflusst das Leben von Millionen Menschen“, sagte sie. Nicht die Impfpflicht sei die Zumutung. „Keine Impfpflicht ist eine Zumutung, die Zumutung für die solidarische Mehrheit“, sagte sie.

Ob der Bundestag diesen Konflikt lösen kann, scheint fraglich. Es gebe für eine Impfpflicht im Bundestag keine Mehrheit, sagte Sepp Müller, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion. Die CDU/CSU will sich nicht an den fraktionsübergreifenden Anträgen beteiligen, bei denen der Bundestag den Fraktionszwang aufheben will. Ihr Antrag beschäftigt sich weniger mit der Impfpflicht als mit der Einführung eines Impfregisters. Bleibt die größte Oppositionsfraktion bei dieser Einstellung, wird es schwer, Mehrheiten zu finden. Gesundheitsminister Lauterbach rief die anderen Fraktionen auf, ihren Abgeordneten Gewissensentscheidungen zu ermöglichen. Wenn es nicht gelinge, sei man im Herbst in derselben Situation wie im Vorjahr, so Lauterbach.

Selbst wenn sich der Bundestag für eine Impfpflicht entscheidet, bleibt fraglich, ob diese erfolgreich ist. Der Historiker Malte Thießen sieht nur eine geringe Akzeptanz für Impfungen, wenn diese vorgeschrieben werden. Alternativen wie eine medikamentöse Behandlung, die die Last für die Krankenhäuser senken könnte, oder die Folgen von Long Covid wurden kaum erwähnt.

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