Von Staatsrechtlern und Windeiern

von Maximilian Steinbeis
8 Minuten
ein blaues Quadrat mit einem schwarzen Rand [AI]

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

Dass die Staatsrechtslehre für hohe und höchste Staatsämter qualifiziert, ist in Deutschland eine nahezu unhinterfragte Tatsache. Mir fallen ad hoc zwei Bundespräsidenten, zwei Bundesinnenminister, zwei Bundesjustizminister, ein Bundesverteidigungsminister und ein Schatten-Bundesfinanzminister ein, die dieser Berufszweig in der jüngeren deutschen Geschichte hervorgebracht hat, von der Länderebene ganz zu schweigen. Wer von Berufs wegen über die Rechtsbasis staatlichen Handelns nachdenkt, für den scheint der Schritt in die Politik gar nicht so groß – eigentlich nur die Praxis zur Theorie.

Für Parteiämter dagegen sah das bislang anders aus. Bundesvorsitzender einer Partei zu werden, das war für die Rechtswissenschaft kein präferierter Weg zu politischer Verantwortung. Jetzt aber meldet sich aus Bonn Matthias Herdegen, seit 28 Jahren Professor für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Dezember will der Ordinarius für Staats- und Völkerrecht beim CDU-Parteitag gegen die Kanzlerin zur Wahl der Parteivorsitzenden antreten – aus dem Stand, ohne jegliche Erfahrung, mit nichts als seiner Wissenschaft als Qualifikationsausweis. Das ist neu und bemerkenswert, und wie viel Erfolg seine Bewerbung haben wird, sagt, wie mir scheint, viel aus über den Zustand des Landes und mehr noch über den der Rechtswissenschaft.

In der FAZ hat Herdegen in dieser Woche einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem er beschreibt, wie er der CDU als Volkspartei neues Leben einhauchen will: Angela Merkels „situativ moderierendem Politikstil“ und der „plötzliche Verlust staatlicher Kontrolle über die deutschen Grenzen“ habe die CDU in eine Sandwichposition zwischen der AfD und ihren „professionell geschürten Ängsten vor einem Zerfall der staatlichen Autorität und einer Spaltung der Gesellschaft“ und den Grünen mit ihren „Sehnsüchten nach einer heilen Welt und einem moralischen Selbstbild“ hineinmanövriert. An Stelle dessen will Herdegen „aus Leitvorstellungen der rechtlich verfassten Gemeinschaft und des Einzelnen“ ein „stimmiges Gesamtpaket“ entwickeln, in dem gesteuerte Einwanderung und Steuersenkungen und Bundeswehreinsätze vorkommen und an Europa vor allem wichtig ist, dass „deutschen Bürgern“ keine italienischen Lasten aufgebürdet werden.

Das ist alles nicht wahnsinnig originell. Hier verspricht einer, dass alles wieder gut und wie früher wird, was unter Konservativen erst mal nichts Besonderes ist. Interessant aber finde ich die Frage: warum braucht man dafür einen Staatsrechtslehrer?

Staatsrechtslehrer waren es, die 2015/16 die Flüchtlingskrise als Ernstfall des Rechtsstaats markierten. Sie haben den Mythos von der „Herrschaft des Unrechts“ in die Welt gesetzt, den Seehofer und die AfD so dankbar aufgriffen. Sie waren es, die das Dublin-Recht delegitimierten und dem Rechtsstaat die Pflicht aufdrängten, seine Grenzen zu schließen. Sie waren es, die versprachen, auf den Trümmern des angeblich gescheiterten europäischen Rechts wieder ein „aus Leitvorstellungen der rechtlich verfassten Gemeinschaft und des Einzelnen“ gewonnenes, kompaktes, rundes, heiles, ganzes, nationales Etwas entstehen lassen zu können. Matthias Herdegen hat damals geschwiegen. Dafür spricht er jetzt.

Es ist dieses kompakte, heile Etwas, das Herdegen in sein politisches Schaufenster stellt, und seine Erwartung, dass er dafür auf dem CDU-Parteitag Käufer findet, scheint mir nicht unbegründet. Dieses Produkt ist, zumal in diesen unbehausten Zeiten, für viele hoch attraktiv. Was die Käufer aber mitbedenken sollten: Ob etwas rund, kompakt und ganz ist, sieht man nur von außen. Um dieses Bild zu zeichnen, muss man aus ihm heraustreten. Die kompakte, runde, ganze Ordnung, die Staatsrechtslehrern vorschwebt, impliziert deshalb immer auch das Andere, außerhalb ihrer Liegende. Das ist der Grund, warum die Spezialisten für Recht, Staat und Ordnung so gerne über den Ernstfall reden, über die Katastrophe, den Notstand, den Krieg.

Vor 15 Jahren war Herdegen schon einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden, unfreiwillig allerdings. Ernst-Wolfgang Böckenförde hatte in der FAZ Alarm geschlagen, weil Herdegens Kommentierung zu Artikel 1 im „Maunz/Dürig“-Grundgesetzkommentar die bis dahin als abwägungsfest geltende Menschenwürde mit einem Mal einem Abwägungsvorbehalt unterstellte. Das war ein Schock. Aus dieser Sicht war auch Menschenunwürdigkeit in bestimmten Konstellationen unter dem Grundgesetz vorstellbar, das Außenliegende in die Rechtsordnung hineinholbar. Was folgte, war eine ganze Welle von staatsrechtlichen Post-9/11-Scheußlichkeiten vom Bürgeropfer bis zur Rettungsfolter, an die sich heute kaum einer mehr gerne erinnert.

Herdegens Angebot, so verlockend es aussieht, ist ein Windei. Die Ordnung, in der wir leben, ist nicht kompakt, rund und ganz, war sie nie und wird sie nie sein. Wir haben immer nur die Innenperspektive, und von der aus gesehen passieren die ganze Zeit lauter wilde, stressige Dinge, die wir nicht verstehen und die uns Angst machen. Plötzlich stehen 100.000 Syrer in Rosenheim am Bahnhof und beantragen Asyl. Was machen wir? Wir prüfen, ob sie darauf einen Anspruch haben, und das dauert, und die Griechen kooperieren nicht, und am Ende ist die Überstellungsfrist abgelaufen und wir sind zuständig. Na, danke. Aber so sind halt die Dublin-Regeln. Ist das rund? Ist das kompakt? Ist das ein „stimmiges Gesamtpaket“? Natürlich nicht. Aber es ist die Ordnung, die wir haben. Und sie zu pflegen und ihr zu folgen und dort zu verbessern, wo das politisch geht, anstatt aus ihr herauszutreten und etwas Runderes und Kompakteres an ihre Stelle setzen zu wollen – das war noch immer die Sache der Konservativen. Und ihr Unterscheidungsmerkmal zur AfD.

Die Krise geht weiter

Und damit zu Polen: Dort sind nach der einstweiligen Anordnung des EuGH die allermeisten zwangspensionierten Richter_innen des Obersten Gerichtshofs auf Aufforderung ihrer Präsidentin Małgorzata Gersdorf zu ihrer Arbeit zurückgekehrt. Aus ihrer eigenen Sicht und der meisten Jurist_innen in Polen waren sie sowieso nie wirksam pensioniert worden, und damit läuft parallel die Anordnung aus Luxemburg, den Zustand vom 2. April dieses Jahres am Gericht in punkto Besetzung der Richterbank, Zuständigkeiten und Arbeitsbedingungen exakt wieder herzustellen.

Mit der Anordnung hat der EuGH unkartiertes Gelände betreten, und wie riskant das ist, zeigt sich sofort. Die polnische Regierung interpretiert die Anordnung nämlich ganz anders. Aus ihrer Sicht heißt sie nur, dass sie selbst jetzt aufgefordert ist, sie umzusetzen – und bevor sie das nicht getan hat, bleiben die Richter_innen zwangspensioniert. Ihr schwebt vor, dass die pensionierten Richter_innen jetzt vom PiS-hörigen Nationalen Justizrat neu nominiert und von Präsident Duda neu ernannt werden – was als erwünschter Nebeneffekt dem Nationalen Justizrat nach seiner Unterwerfung durch die PiS auch ein Stück Legitimität zurückverschaffen soll. Einstweilen haben die zwangspensionierten Richter_innen aus Sicht der Regierung am Gerichtshof nichts verloren.

Einstweilen ist also die Krise kein bisschen behoben – im Gegenteil: sie tritt in eine ganz neue Phase. Juristisch steckt dahinter auch die interessante Frage, was das bislang nur selten eingesetzte Instrument der einstweiligen Anordnung des EuGH eigentlich genau bewirkt: Gilt das Angeordnete direkt oder muss sie erst umgesetzt werden? Das ist eine ungeklärte Frage. Für ersteres spricht, dass Art. 19 EUV, um dessen Verletzung es geht, direkt und ohne Umsetzung gilt. Für zweiteres spricht möglicherweise, dass die Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf. Am Ende wird der EuGH in seiner Hauptsacheentscheidung Gelegenheit haben, diese Frage zu klären. Bis dahin geht die Krise weiter.

Mein Dank geht an Ulrich Karpenstein, Walther Michl und Patryk Wachowiec für wertvollen Input!

Auf Kollisionskurs

Nicht ohne Sorge blickt auch DANIEL SARMIENTO auf die Revolution, die der EuGH mit seiner Anordnung angezettelt hat: „Nothing appears to be stopping the Court from playing hardball in this new chapter of European integration, in which, integration through law’ has now turned, to the surprise and concern of us all, into ‚integration through the rule of law‘.“

STANISLAW BIERNAT, ehemals Vizepräsident des polnischen Verfassungsgerichts, analysiert gemeinsam mit MONIKA KAWCZYNSKA den Antrag des polnischen Generalstaatsanwalts und Justizministers beim Verfassungsgericht, Vorlagen polnischer Gerichte an den EuGH in Sachen Justizorganisation für verfassungswidrig zu erklären.

Ungebremst aufeinander zu rasen auch die EU-Kommission und die Regierung Italiens. Zum ersten Mal hat die Kommission einen Haushaltsentwurf eines Mitgliedsstaates abgelehnt, und das war von Seiten Italiens auch genau so intendiert. Was tut die Europäische Union mit einem Mitgliedsland, das das Recht bricht und höhnisch lachend „Verklagt uns doch!“ ruft? Die Frage stellt sich in Italien kaum weniger als in Polen, und PAUL DERMINE erläutert ihren juristischen Hintergrund.

Von der Slowakei ist selten die Rede in punkto illiberale Demokratie. Was das slowakische Parlament in dieser Woche in punkto Richterernennung zum Verfassungsgericht unternommen hat, lässt allerdings überhaupt nichts Gutes erhoffen, wie MAX STEUER beschreibt.

In Ungarn plant die Fidesz-Regierung, für die bevorstehenden Europawahlen das Wahlrecht zu ändern und nun auch Ungarn außerhalb der EU das Wahlrecht zu erteilen? Normaler Vorgang oder Manipulation? Für beides spricht manches, findet VIKTOR KAZAI.

In Slowenien ist es der Oberste Gerichtshof, der zur Alarmiertheit Anlass gibt. Er hat nach einer Entscheidung des EGMR, die ihm gegen den Strich ging, einfach per Pressemitteilung und ohne Begründung angekündigt, nur noch „überzeugende“ Urteile aus Straßburg zur Kenntnis zu nehmen. MATEJ AVBELJ berichtet.

Das mit Abstand bedrohlichste Ereignis dieser Woche, wenn nicht dieses Jahres könnte aber die Präsidentschaftswahl in Brasilien sein, die sich an diesem Sonntag entscheidet. DIEGO WERNECK ARGUELHES und THOMAZ PEREIRA schildern in einem zweiteiligen Beitrag, was der Rechtsextremist Jair Bolsonaro rechtlich verändern dürfte, wenn er gewählt wird, und welche Aussichten die Justiz hat, ihn zu bremsen oder zu stoppen.

Lehrt uns der Erfolg der Autokraten in Polen und Ungarn, uns vom Konzept des Verfassungspluralismus zu distanzieren? Höchstens in Maßen, meint MICHAL OVÁDEK und weist darauf hin, dass sich überlappende Verfassungsordnungen zu empirischen Realität in Europa gehören.

Indien, die größte Demokratie der Welt, steht an einem Scheideweg, und der Oberste Gerichtshof zieht in der Analyse von TARUN KHAITAN in die eine Richtung, die majoritär-nationalistische BJP-Regierung in die andere.

In Deutschland vollzieht sich gerade eine größere Verfassungsreform, ohne dass es irgendjemand mitbekommt. Es geht um Föderalismus und mehr Bundeskompetenzen bei Investitionsbeihilfen von Ländern und Kommunen, untersucht von JOHANNES HELLERMANN.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ein Grundsatzurteil zur Präventivhaft von Fußball-Hooligans gefällt. THOMAS FELTES hat in unserem Kurz-Format „VB vom Blatt“ dazu zehn kurze Gedanken aufgeschrieben.

In Kuba wird nach dem Tod von Fidel Castro die Verfassung reformiert. Zwar bleibt Kuba ein Ein-Parteien-Staat, der Oppositionelle einsperrt und keine freie Presse zulässt, aber immerhin lockert sich nach dem Bericht von HANS HOSTEN und CHRISTIAN KAUFHOLD die Machtkonzentration auf den máximo líder ein wenig.

In Deutschland können Frauen seit mehr als einem Jahr einander heiraten, aber beim gemeinsam Eltern sein hört die Gleichbehandlung auf. LUCY CHEBOUT und ANNA THERESA RICHARZ fordern den Gesetzgeber auf, neben Vater-Mutter-Kind auch Mutter-Mutter-Kind möglich zu machen.

Anderswo

JAN KEESEN und JACOB ULRICH berichten von dem Computer-Grundrecht, das künftig die Landesverfassung von Hessen zieren soll, und den Rest der umfangreichen Verfassungsreform, über die an diesem Sonntag parallel zur Landtagswahl von den hessischen Bürger_innen abgestimmt wird, stellt ziemlich ernüchtert CARSTEN SCHÜTZ vor.

MARCO MEYER kommt zu dem Schluss, dass die Abstimmung zum Artikel-7-Verfahren im Europaparlament gegen Ungarn zu Recht die Stimmenthaltungen wie nicht abgegeben behandelt hat.

THOMAS PERROUD kritisiert die Auswirkungen der Rechtsprechung französischen Verfassungsrats, die dem Gesetzgeber bei Transparenzvorschriften für Lobbyisten Fesseln anlegt.

RAFAEL BUSTOS GISBERT plädiert eindringlich für eine grundlegende Reform der spanischen Verfassung.

ROSALIND ENGLISH schaut sich das Urteil des EGMR im Fall einer Österreicherin vor, die den Propheten Mohammed als Pädophilen bezeichnet und dafür strafrechtlich verurteilt worden war.

ALEXANDER HUDSON berichtet, dass das fälschlich als „Crowdsourcing-Verfassung“ bezeichnete Verfassungsexperiment in Island – langjährige Leser_innen des Verfassungsblogs erinnern sich vielleicht – doch noch mal eine Chance bekommt.

So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute!

Ihr Max Steinbeis


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Maximilian Steinbeis


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