Vogelgrippe: Tausende Kraniche sterben im Winterquartier

Historisch schwere Ausbrüche der aviären Influenza in Israel und Großbritannien. Auch in Deutschland wieder mehr Fälle

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
8 Minuten
Eine Gruppe Kraniche fliegt vor dem Hintergrund der aufgehenden Sonne am Morgen von ihrem Rastplatz  in einem Flachwassersee ab.

Ein beispielloser Ausbruch der Vogelgrippe tötet im Norden Israels Tausende dort überwinternde Kraniche aus Europa. Auch andernorts tobt das Virus in bislang nicht gekanntem Ausmaß. Auch an der schleswig-holsteinischen Küste steigen die Zahlen der tot aufgefundenen Wildvögel seit einigen Wochen wieder. Das für die Überwachung der Seuche hierzulande zuständige Friedrich-Loeffler-Institut spricht vom bislang stärksten Ausbruch in Europa.

Sonnenaufgang mit Kranichen im Vordergrund
Kraniche schlafen im flachen Wasser des Agamon.
Kraniche beim ersten Morgenlicht
Kraniche ziehen im Hula-Tal
Blick in das Hula-Tal
Das Hula-Tal im Dreiländereck Israel-Syrien-Libanon. Im Hintergrund die Golan-Höhen.

Das Bild, das sich Besuchern im nordisraelischen Hula-Tal derzeit bietet, ist erschütternd. Zu Hunderten liegen verwesende Kadaver von Kranichen im seichten Wasser des Agamon – des Flachwasssersees im Herzen der Ebene im Dreiländereck Israel – Libanon – Syrien. Rohrweihen und Schelladler fressen an den Kadavern. Vereinzelt liegen andere tote Vögel im seichten Wasser: Zwergtaucher, Seidenreiher, Stock- und Krickenten. Auch eine der seltenen Marmelenten hat es getroffen.

Ein Naturparadies wird zur Vogel-Hölle

Der „Agamon Ha Hula“ mit seinen ausgedehnten Flachwasserpartien, Inseln und großen Schilfflächen ist gemeinsam mit den angrenzenden aus der Nutzung genommenen Fischteichen und des hier renaturierten Jordan-Abschnitts das wichtigste verbliebene Feuchtgebiet im gesamten Nahen Osten. Die auf dem fruchtbaren Boden des einstigen Sumpfes angelegten landwirtschaftlichen Flächen um den See, ziehen in jedem Herbst und Frühling Hunderttausende Zugvögel aus Europa und Zentralasien an.

Auch rund 100.000 Kraniche rasten hier zweimal im Jahr auf dem Weg in ihr äthiopisches Winterquartier und wieder zurück nach Nordeuropa und Russland. Etwa 30.000 von ihnen bleiben und überwintern in der Region. Um sie von den Erdnuss- oder Getreide-Kulturen fernzuhalten, die im warmen Klima Israels gerade sprießen, wenn die Vögel ankommen, werden die Kraniche in sicherer Entfernung von den Feldern mit Mais versorgt. Ein Paradies für die Vögel – das jetzt zur Hölle für sie geworden ist.

Naturparkbehörde rechnet mit 30 Tonnen Vogelkadavern

Wurden in den Wochen vor Weihnachten nur vereinzelt tote Vögel gefunden, hat sich die Lage seitdem dramatisch verändert. Bei einer Zählung an Heiligabend wurden mindestens 5.000 tote Kraniche registriert. Eine beispiellose Zahl. Jeder fünfte in Israel überwinternde Kranich könnte betroffen sein. Die Brutgebiete der Vögel liegen zum größten Teil in Russland und Nordskandinavien. Die israelische Natur- und Parkbehörde (INPA) geht davon aus, in den kommenden Tagen 25 bis 30 Tonnen Kranich-Kadaver entfernen zu müssen. Es ist der schwerste jemals registrierte Ausbruch der Vogelgrippe.

“Wir stehen fassungslos vor dieser Katastrophe“, sagt Dan Alon, der für Naturschutz zuständige Vizedirektor der israelischen Naturschutzgesellschaft SPNI im Gespräch mit den Flugbegleitern. Umweltministerin Tamar Zandberg nannte den Ausbruch in einem Tweet den „härtesten Schlag gegen Wildtiere in der Geschichte des Landes.“

Premier Bennett trommelt Sicherheitsberater wegen Hula-Ausbruch zusammen

Die Silhouetten von Kranichen und Pelikanen vor dem gelben Sonnenaufgang.
Kraniche und Rosapelikane verbringen gemeinsam die Nacht auf einem See. Dabei können Viren überspringen
Blick über den See mit den Golan-Höhen im Hintergrund
Der Agamon, hebräisch für: kleiner See. Im Hintergrund die Golan-Höhen.
Luftbild vom renaturierten Jordan mit Weißstörchen. Foto aus einem Segelflugzeug aufgenommen
Weißstörche ziehen über den renaturierten Jordan-Fluss im Hula-Tal
Silhouette einer Beobachtungshüte bei Sonnenaufgang
Der „Pelican Lookout“ im Hula-Tal soll Besucherinnen und Besuchern die Vogelbeobachtung ermöglichen.

Wie ernst die Regierung die Sache nimmt, zeigt auch die Tatsache, dass Regierungschef Naftali Bennett am Montag seinen Nationalen Sicherheitsberater und weitere Experten zusammentrommelte, um zu besprechen, wie sich ein Übergreifen des Virus auf Menschen verhindern lässt. Lokalen Medienberichten zufolge könnten Kinder einen oder mehrere infizierte und apathische Kraniche berührt und so die Verbreitung des Virus befördert haben. Bislang gibt es keine Hinweise auf eine Übertragung auf einen Menschen.

Alle in Israel bisher nachgewiesenen Viren der hochpathogenen aviären Influenza, so die offizielle Bezeichnung für die Vogelgrippe oder auch Geflügelpest, sind vom Subtyp H5N1. Eine Gefahr für die menschliche Gesundheit sehen Forscherinnen und Forscher vor allem durch Viren des Subtyps H5N8. In Russland hatten sich im vergangenen Winter Arbeiter damit infiziert, die an Aufräumarbeiten in einer von der Vogelgrippe befallenen Hühnerhaltung beteiligt waren. Eine Weiter-Übertragung von Mensch zu Mensch konnte jedoch bisher nicht beobachtet werden.

Behörden vermuten Geflügelzucht als Ausbruchsursache

Die Behörden gehen davon aus, dass die Infektion der Wildvögel über einen Geflügelzuchtbetrieb aus dem nahegelegenen Dorf Margaliot stattgefunden hat. Mit einem Lastwagen, der die dortigen Hünherfarmen mit Futter belieferte, sei anschließend Mais für die Ablenkungsfütterung zu den Kranichen an den Agamon-See gebracht worden, so die Erklärung von INPA und Landwirtschaftsministerium. Nach Angaben des Agrarministeriums haben die Geflügelzüchter in Margaliot den Ausbruch der Vogelgrippe in ihren Beständen nicht frühzeitig gemeldet. Mittlerweile wurden mehr als eine halbe Million Hühner und Truthühner getötet.

Margaliot an der libanesischen Grenze ist eine Hochburg der Eierproduktion in Israel. Fast eine Viertelmillion Legehennen werden hier nach lokalen Medienberichten in 60 Hühnerhäusern auf engstem Raum eingepfercht.. Das kleine Dorf mit nur rund 400 Einwohnern liefert demnach allein sechs Prozent aller Eier für den israelischen Verbrauch.

Agrarminister nennt Geflügelfarmen „tickende Zeitbomben“

Mittlerweile wurde das Virus auch auf den nahegelegenen Golan-Höhen in einer Geflügelzucht nachgewiesen. Tote Kraniche und vereinzelt andere Vögel wurden auch im gut 50 Kilometer vom Ausbruchszentrum entfernten Jezreel-Tal und im noch weiter entfernten Bet-Shean-Tal entdeckt. Hier ist aber zunächst noch unklar, ob die Vögel tatsächlich an der Vogelgrippe starben.

Landwirtschaftsminister Oded Forer nannte die überfüllten Hühnerställe in lokalen Medien "tickende Zeitbomben“. Die Geflügelzuchten müssten aus den Dörfern in isolierte Zuchtkomplexe mit strengen Sicherheitsvorehrungen verlegt werden.

Nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums erfüllen 93 Prozent der Hühnerställe weder die Hygiene- noch die Tierschutzanforderungen der Veterinärbehörden.

Kranichmassen laufen hinter einem Traktor her, der Mais verstreut.
Die Fütterung der Kraniche wird auch nach Ausbruch der Vogelgrippe fortgesetzt, um die Vögel daran zu hindern, sich über ein weites Gebiet zu verteilen und so das Virus weiterzutragen.
Ein Kranich fliegt niedrig in Richtung des Betrachters über eine Wiese mit anderen Kranichen.
Einer von 100.000 Kranichen, die in Israel Zwischenstopp auf dem Zug machen.

Naturschützer sorgen sich neben den Kranichen vor allem um die vielen Greifvögel, die den Norden Israels als Winterquartier nutzen. Die Region ist eines der wichtigsten Überwinterungsgebiete für viele europäische Greifvogelarten, darunter Merlin, Wanderfalke, verschiedene Bussarde, Kaiser- und Schelladler. Fast alle Greifvögel sind auch Aasfresser. Natürlicherweise verendete Kraniche sind eine wichtige Nahrungsgrundlage vor allem für Schelladler. Sie gehören zu den seltensten Greifvögeln der Erde. Im Hula-Tal überwintern nach Schätzungen von Alon derzeit 25 bis 35 Vögel. Was wenig klingen mag, ist eine gewaltige Zahl für diese seltene Adlerart. Auch um die Rohrkatze, einen Luchsverwandten, sorgen sich die Naturschützer. Der äußerst scheue und heimliche Bewohner ausgedehnter Schilfgebiete hat im Hula-Tal seine wichtigsten Vorkommen in Israel.

Ein Schelladler sitzt auf dem Boden und rupft einen Kranich. Ein Federbüschel fliegt durch die Luft.
Eine zweistellige Zahl des extrem seltenen Schelladlers überwintert im Hula-Tal. Die Vögel ernähren sich im Winter fast ausschließlich von Aas. Dieser Vogel rupft einen tot aufgefundenen Kranich.
Eine Rohrkatze schleicht über eine Wiese.
Naturschützer fürchten, dass sich auch Rohrkatzen mit dem Vogelgrippe-Virus infizieren könnten.

Die Behörden versuchen, möglichst viele der Kranich-Kadaver einzusammeln, um eine weitere Verbreitung des Virus und Infektionen von Greifvögeln und anderen Tieren zu vermeiden. Die Arbeiten laufen nach Angaben von Beobachtern vor Ort nur schleppend. „Jetzt, wo die Krise akut ist, können wir nichts tun als die toten Vögel einzusammeln“, sagt Alon. Danach gelte es, Lehren zu ziehen. „Angesichts der Tatsache, dass wir aus Europa seit Wochen von Vogelgrippe-Ausbrüchen hören, stellt sich schon die Frage, ob wir ausreichend vorbereitet waren und ob der Informationasaustausch ausreichend war.“

„Stärkste Welle in Europa bisher", warnt das Friedrich-Loeffler-Institut

In Deutschland und anderen Ländern Europas hatte es im vergangenen Winter einen massiven Vogelgrippe-Ausbruch gegeben. Im Laufe des Frühjahrs ebbte das Infektionsgeschehen ab, versiegte aber nie ganz. Nach Angaben des für die Überwachung zuständigen Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI) gab es bei Wasser- und Greifvögeln über den Sommer hinweg vor allem in den nordeuropäischen Ländern kontinuierlich Nachweise des Virus. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur erklärte das Institut, Europa erlebe den bislang größten Ausbruch überhaupt. "Seit Mitte Oktober 2021 gibt es in Deutschland wieder vermehrt Funde von infizierten Wildvögeln in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern sowie erste Einträge bei Geflügel und gehaltenen Vögeln“, heißt es auch in der aktuellen Risikoeinschätzung der Behörde.

Nach Angaben des FLI vom 30. Dezember wurden seit Anfang Oktober allein in Deutschland 394 Infektionen von Wildvögeln und 46 Ausbrüche in Geflügelhaltungen registriert. Auch andernorts in Europa gewinnt der Ausbruch an Fahrt, wie eine von der Behörde veröffentlichte Karte mit den europaweiten Ausbrüchen zeigt.

Europaweit wurden den FLI-Daten zufolge seit Oktober 675 Infektionen bei Wildvögeln und 534 Ausbrüche in Haltungen erfasst. Hinzu kämen Einzelfälle bei Säugetieren wie Füchsen, Kegelrobben und Seehunden. Die Gefahr einer einer weiteren Ausbreitung hochpathogener aviärer Influenza-Viren bei Wildvögeln und einer Übertragung auf Geflügel und gehaltene Vögel in Deutschland wird von dem Institut als groß eingestuft. An der deutschen Küste finden sich vor allem Weißwangengänse und Pfeifenten als Opfer.

Ein immaturer Kaiseradler hebt den Kopf eines toten Jungkranichs.
Auch die sehr seltenen Kaiseradler überwintern im Hula-Tal und ernähren sich dabei vor allem von Aas, hier einem jungen Kranich.

Aktuell in Europa besonders stark betroffen ist Großbritannien.

Der derzeitige Ausbruch der Vogelgrippe sei der größte, der jemals im Vereinigten Königreich aufgetreten ist, erklärte die Vogelschutzorganisation RSPB kurz vor Weihnachten. „Das erhöht den Druck auf unsere bereits angeschlagenen Wildvogelpopulationen noch weiter“, zeigten sich die Vogelschützer besorgt. Bis kurz vor Weihnachten habe es in allen Teilen Großbritanniens bestätigte Fälle gegeben – vor allem bei den dort überwinternden Gänsen. Aber auch Watvögel, Greifvögel, Eulen und Schwäne seien unter den Opfern. Allein im Küstengebiet Solway an der englisch-schottischen Grenze seien innerhalb kurzer Zeit 3.000 bis 4.000 Weißwangengänse an der aviären Influenza gestorben, berichtet die RSPB.

Drei Weißwangengänse aus der Nähe von unten fotografiert.
In Großbritannien und Deutschland sind Weißwangengänse besonders stark vom Ausbruch der Vogelgrippe betroffen.

Chinesische Wissenschaftler sehen Pandemie-Potenzial

Für Menschen stellt die gegenwärtig meist nachgewiesene Form des Vogelgrippe-Virus H5N1 nach Überzeugung der meisten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keine Gefahr dar. Mit dem Subtyp des Virus, an dem bei früheren Ausbrüchen hunderte Menschen gestorben sind, habe das derzeit zirkulierende H5N1-Virus in entscheidenden Genen wenig zu tun, sagt etwa die Forscherin am Friedrich-Loeffler-Institut, Anja Globig. Als gefährlicher wird der Subtyp H5N8 erachtet, von dem bereits Übertragungen auf Menschen bekannt sind.

Wegen der sich häufenden Zahl und Intensität von H5N8-Infektionen schlagen chinesische Wissenschaftler mittlerweile international Alarm. Die Vogelgrippe-Viren könnten sogar die nächste globale Pandemie auslösen, warnten Forscher der Chinesischen Akademie der Wissenschaften im Fachjournal „Science.

In inzwischen mindestens 46 Ländern in Europa, Asien und Afrika seien Infektionen mit dem Typ H5N8 sowohl bei Wildvögeln als auch bei Geflügel festgestellt worden. Ihre Veröffentlichung in Science sei deshalb auch der Versuch eines Weckrufs, um eine weitere Pandemie noch rechtzeitig zu verhindern, sagte Koautor George F. Gao. Zwar gebe es bislang keine Hinweise darauf, dass sich das Virus von Mensch zu Mensch verbreitet – der entscheidende Faktor für das Pandemierisiko. Dennoch sei die globale Ausbreitung des auch auf Menschen übertragbaren Virustyps ein großes Problem nicht nur für die Geflügelwirtschaft und Wildtiere, sondern auch für die menschliche Gesundheit, glauben die Forscher.

Wegen der Covid-Pandemie seien die Kapazitäten bei der Überwachung und Analyse von Viren auf die Bekämpfung der aktuellen Pandemie ausgerichtet worden. Nun gelte es aber, die Kontrolle von Geflügelfarmen und von Wildvögeln massiv hochzufahren, fordern die Wissenschaftler – im Interesse von Menschen und Vögeln.

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