Konflikte auf Rädern

Auto- und Fahrradfahrer haben oft keine gute Meinung voneinander. Im Zweifel leiden darunter die Zweiradnutzer

19 Minuten
Eine Collage: Ein Finger schiebt das Verkehrsschild für den Fahrradweg, weiß auf blauem Grund, entlang eines Pfeils nach rechts. Über dem Pfeil ist die bekannten Sequenz der Evolution vom Affen zum Homo sapiens abgebildet. Das Verkehrsschild hat den vorderen Fuß der vorletzten Figur, des Vormenschen mit Wurfspeer, erreicht. –
Wie menschlich erscheinen Ihnen Radfahrer, fragten australische Psychologen. Die Hälfte der Autofahrer kam nicht mal zwischen die Füße des Homo sapiens.

Foto oben: Wie menschlich erscheinen Ihnen Radfahrer?, fragten australische Psychologen. Die Teilnehmer sollten einen Schieber unter der bekannten Sequenz der Evolution positionieren – die Hälfte der Autofahrer kam nicht mal zwischen die Füße des Homo sapiens.

Im Konflikt zwischen Fahrrad- und Autofahrern fliegen gegenseitige Vorwürfe und böse Worte, die Intelligenz und Entwicklungsstufe der jeweils anderen stehen dann schnell in Frage. Wissenschaftliche Studien und Umfragen zeichnen ein Bild der Lage.

Auf der Straße tobt ein Ressourcenkonflikt, weil immer mehr Autos und immer mehr Fahrräder nach Platz verlangen. Oft liegen dann die Nerven blank, gehen die Emotionen hoch. Aktivisten auf beiden Seiten heizen die Stimmung an.

Verkehrsplaner möchten den Fahrradverkehr fördern, schon um die Emissionen und Abgase in Städten zu senken. Doch dafür brauchen Zweiradnutzer geschützte Wege, und die Autos müssen Platz abgeben. Am Ende könnte diese Umverteilung allen nutzen, auch wenn es sich anfangs nicht so anfühlt.

Das ist der Alptraum für Fahrradfahrer: Man strampelt auf dem markierten Streifen an einer schnurgeraden Straße entlang, und plötzlich reißt der Fahrer des dunklen Geländewagens neben einem das Lenkrad zur Seite. So ist es Ende 2017 einem Radler in Melbourne, Australien passiert: Der Kotflügel des SUV krachte ihm in die Schulter, er stürzte über den Bordstein, zum Glück auf ein Stück Gras in einer Parklücke, wie die Kamera eines nachfolgenden Fahrzeugs zeigte. Dass es kein Unfall war, wurde klar, als der Fahrer des Jeeps anhielt und in T-Shirt und Jogginghose aus dem Auto stürmte. Er beschimpfte sein Opfer, das sich gerade wieder aufrappelte, und warf dessen weißes Rennrad ins Gebüsch. [Q1] (Video siehe unten; alle Quellen und Links im Anhang)

Diese Szene war selbst für australische Verhältnisse bizarr, wo Fahrradfahrer im Verkehr einen wirklich schweren Stand haben. Aufgewühlt berichtet zum Beispiel Jonas Christensen, der vor etlichen Jahren aus Kopenhagen auf den Kontinent down under ausgewandert ist, wie er beim Radfahren bald nach Ankunft unvermittelt aus einem Auto angeherrscht wurde: „Such Dir einen richtigen Sport, Tunte.“ Inzwischen habe er viele aggressive Manöver von Autofahrern er- und überlebt und sei von Insassen sogar mit Eiern beworfen worden [Q2]. Ähnlich geht es anderen trainierenden Sportlern. Ein Gruppe um den früheren Premierminister Tony Abbott wurde zum Beispiel von einer älteren Autofahrerin beim Überholen mit Dauerhupen bedrängt – in dem Fall verständigten seine Personenschützer die örtliche Polizei, die sich die Frau zur Brust nahm, berichtete die Canberra Times [Q3]. Ein anderer Fall: „Ich bin heute in Adelaide mehr beschimpft worden als in einem ganzen Jahr in Europa“, twitterte der australische Radrennfahrer Rohan Dennis 2016 nach einem Besuch in der Heimat. „Dort gibt es nicht mehr Radwege, aber mehr Respekt.“ [Q4]

Begrenzte Ressourcen und schäumende Emotionen

Diese Wertung werden Radfahrer in München, Hamburg, Berlin oder anderen Städten Deutschlands nicht unbedingt teilen. Aggression und Rücksichtslosigkeit gegenüber Radfahrern ist auch hier ständig zu erleben, und die Verhältnisse scheinen sich zu verschlechtern. Im Zwei-Jahres-Rhythmus erhebt zum Beispiel der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club ADFC das Fahrrad-Klima mit einer großen Online-Umfrage. Im Herbst 2018 gaben dabei 170 000 Menschen ihre Stimme über ihre Stadt ab. Im Durchschnitt erhielten die Gemeinden dabei eine Schulnote nur leicht besser als eine Vier. Dieser Mittelwert ist von 3,7 im Jahr 2014 auf 3,9 im Jahr 2018 gesunken. [Q5]

Die Auseinandersetzung zwischen Rad- und Autofahrern ist inzwischen Gegenstand vieler wissenschaftlicher Studien und repräsentativer Umfragen. Sie lassen zwei allgemeine Schlüsse zu: Erstens ergibt sich aus vielfältigen Beobachtungen ein Bild von mangelndem Platz und widerstreitenden Ansprüchen. „Was auf den Straßen in Deutschland passiert, das kann man am besten als Ressourcenkonflikt um den begrenzten Raum interpretieren, jedenfalls nehmen es die Beteiligten so wahr“, sagt die Verkehrspsychologin Anja Katharina Huemer von der Technischen Universität Braunschweig. Und mit der bedachten Stimme der Wissenschaftlerin fügt sie hinzu: „Die bisherigen Daten sagen aber nicht, dass es hierzulande tatsächlich schlimmer geworden ist.“

Zweitens spülen Dichtestress und Ressourcenkonflikt auf beiden Seiten viele negative Gefühle empor. Wer daher von der eher faktischen Ebene auf die emotionale blickt, kann wie der Fahrrad-Aktivist Heinrich Strößenreuther von der Initiative für clevere Städte in Berlin zu folgendem Schluss kommen: „Die Konflikte nehmen inzwischen nicht mehr linear, sondern exponentiell zu.“ Demnach erleben Menschen hinter dem Lenkrad die Verkehrsteilnehmer auf zwei Rädern als frech und undiszipliniert, im Extremfällen gar als so etwas wie primitive Frühmenschen. Sie fühlen sich enttäuscht von einer Politik, die früher Städte um das Auto herum plante, aber nun langsam Fahrräder favorisiert – schon weil die Emissionen des Verkehrs sonst kaum noch zu bewältigen sind. Die Daten belegen zudem, worüber Radler sich ärgern, was sie gefährdet, was sie sich wünschen, und was sie sich nicht mehr gefallen lassen.

Eine Lösung sehen viele darin, Fahrräder und Autos voneinander zu trennen. Für breitere, gesicherte Radwege mit eigenen Ampelphasen müssen aber zunächst Autofahrer Platz und Zeit abgeben. Auf Dauer könnte so der Kraftverkehr entlastet werden, glauben Befürworter solcher Ideen, weil deutlich mehr Menschen mit Pedalkraft durch die Stadt fahren. Aber bis dahin dürften sich die Konflikte noch verschärfen.

Die Gefühle der Autofahrer

Wie begrenzte Ressourcen und die Emotionen von Autofahrern zusammenhängen, lässt sich wie unter dem Brennglas in Australien verfolgen: „Dort ist der Verteilungskampf krass sichtbar und verschärft sich, weil das Land gerade sehr viel für Radfahrende tut“, sagt die Braunschweiger Forscherin Anja Huemer, die die Verhältnisse down under kennt. Die Stimmung sei aufgeheizt, bestätigt ihre Kollegin Alexa Delbosc von der Monash University in Clayton bei Melbourne: „In den Kommentarspalten von Nachrichtenseiten und bei Facebook scheinen viele Leute zu glauben, dass Scherze über das Überfahren von Radfahrern oder Sprüche wie, Kakerlaken auf Rädern‘ okay sind.“ Mit drei Kolleginnen hat Delbosc nun eine Pilotstudie mit spektakulärem Ergebnis veröffentlicht: Die Hälfte der befragten australischen Autofahrer sieht demnach Radfahrer nicht als vollwertige Menschen an (Transportation Research Part F). [Q6]

Vor dem Hauptbahnhof: Ein schwarzer Sportwagen steht quer auf dem rot markierten Fahrradweg, ein Mann auf seinem Fahrrad schlängelt sich zwischen Heck des Autos und dem nächsten Wagen in der Schlag vorbei. Straßenszenen in Hamburg: Weil der Porsche beim Rechtsabbiegen den Radweg blockiert, muss der Radfahrer zwischen den Autos Slalom fahren …
Straßenszenen in Hamburg: Weil der Porsche beim Rechtsabbiegen den Radweg blockiert, muss der Radfahrer zwischen den Autos Slalom fahren …
Eine Fahrradfahrerin rollt auf eine rote Ampel zu. Neben ihr zeigt eine gestrichelte Linie an, dass der Fahrradweg endet. Vor ihr ziehen Autos nach rechts, dort fährt ein weiterer Radfahrer. –
… Max-Brauer-Allee an der Sternbrücke. Der Radweg endet, viele Autos wollen rechts abbiegen. Hier wird es oft verdammt eng. …
… Max-Brauer-Allee an der Sternbrücke. Der Radweg endet, viele Autos wollen rechts abbiegen. Hier wird es oft verdammt eng. …
Das Foto zeigt Radfahrer, die sich zwischen einer wartenden Autoschlange und dem Bordstein bewegen. –
… Weiter auf der Max-Brauer-Allee: Fahrräder und Busse und Rechtsabbieger. Die Autoschlange hier ist oft lang, der Abstand zwischen Autos und Bordstein schmal.
… Weiter auf der Max-Brauer-Allee: Fahrräder und Busse und Rechtsabbieger. …

Die Wissenschaftlerinnen legten ihren 442 Befragten dazu unter anderem die bekannte Bilderfolge der Evolution vor, wie sich der Mensch aus einem Affen entwickelt. Die Probanden sollten dann einen Schieber bewegen, um die Entwicklungsstufe des durchschnittlichen Radfahrers zu zeigen. Von den Autofahrern in der Stichprobe wählte nur jeder zweite eine Position, die mindestens im letzten Zehntel der Skala, also zwischen den Füßen des Homo sapiens oder weiter vorn lag. Zwei von fünf kamen nicht über die vorletzte Figur hinaus, den Frühmenschen mit den Stirnwülsten eines Neandertalers. In der Aufmacher-Illustration ist dieser Test nachempfunden.

Diese Art von Studie haben sich die Wissenschaftlerinnen aus Australien nicht selbst ausgedacht: Ähnliche Ergebnisse hatten zuvor schon US-Forscher vorgelegt, die mit der Evolutionsskala die Einstellung ihrer Befragten zu ethnischen oder religiösen Minderheiten erkundeten. Demnach sahen Amerikaner in mexikanischen Einwanderer (zumindest in den Obama-Jahren, als die Studie entstand) eher einen Menschen als australische Auto- in Fahrradfahrern. Schlechter kamen eigentlich nur noch Roma in Ungarn weg [Q7]. Allerdings schoben in all diesen Fällen viele Befragte den Zeiger auch dann nicht ganz an das Ende der Skala, als sie nach der Meinung über die eigene Gruppe befragt wurden. Die Wissenschaftler werten darum die Differenz der jeweils anzeigten Bewertungen aus.

„Persönlich kann ich ja nicht verstehen, wie man irgendeinem Menschen weniger als 100 Prozent geben kann; vielleicht sahen es die Befragten bei uns als eine Art Witz“, vermutet Alexa Delbosc. „Aber solche Witze sagen ja etwas aus, denn sie korrelieren mit den Einstellungen und in gewissem Maß auch mit dem Verhalten im Verkehr.“ Jeder dritte Autofahrer in der Studie gab zu, Verkehrsteilnehmer auf Zweirädern schon mal angebrüllt oder mit rüden Gesten bedacht zu haben. Jeder sechste hatte Radfahrern absichtlich den Weg verstellt, jeder zehnte sie geschnitten. Allerdings, beeilt sich Alexa Delbosc zu betonen, war die Studie in keiner Weise repräsentativ für Australien.

Antipathie nicht nur in Australien

Doch es ist nicht der einzige Befund von dem Kontinent. Laura Fruhen von der Curtin University in Perth hat 2015 und 2019 mit zwei Studien belegt: Wer eine emotionale Beziehung zu Autos pflegt, lehnt Radfahrer eher ab. Und wer negative Einstellungen gegen Zweiradnutzer hat, benimmt sich ihnen gegenüber erstens aggressiver, und fühlt sich darin zweitens von anderen Autofahrern mit ähnlichem Verhalten bestärkt [Q8][Q9]. Aus diesem letzten Ergebnis zieht Fruhen folgenden Schluss: „Es kann auch Nachteile haben, in Kampagnen negative Einstellungen zu Radfahrern direkt anzusprechen. Sonst wird vermittelt, dass solche Meinungen normal sind. Es ist nötig, etwas seitwärts zu zielen und auf die emotionale Beziehung zum Auto zu fokussieren.“ Das sei vermutlich überall in den industrialisierten Ländern ähnlich, sagt die aus Deutschland stammende Psychologin.

Auch sonst ist der Kontinent down under Deutschland ähnlicher, als uns hierzulande lieb sein kann. Eine größere australische Untersuchung mit 2000 Befragten im Auftrag des Autoherstellers Ford ergab, dass immerhin 18 Prozent der Autofahrer gelegentlich Wut („road rage“) gegenüber Radlern verspüren [Q10]. Die Hälfte der Teilnehmer fühlte sich schlicht unsicher, wie sie mit den Verkehrsteilnehmern umgehen soll, die auf Pedalkraft setzen. „Wir bringen unseren Autofahrern nicht bei, sich die Straße zu teilen“, erklärt Phoebe Dunn von der Amy Gillett Foundation. „Das kommt fast nirgendwo im Fahrunterricht oder bei den Prüfungen vor.“ Arroganz über die vermeintliche bessere Qualität der deutschen Ausbildung wäre jedoch verfehlt: Die Stiftung, die Dunn leitet, ist nach einer jungen australischen Radsportlerin benannt, die 2005 bei einer Trainingsfahrt in Deutschland von einer Fahranfängerin angefahren und getötet wurde. [Q11]

Studien, bei denen deutsche Autofahrer die Evolutionsstufe der Velonutzer bewerten, gibt es zwar nicht, aber etliche repräsentative Umfragen. Gegenüber Forsa räumten 2018 immerhin 74 Prozent der Befragten ein, wegen des Verhaltens eines Radlers schon einmal „Angst oder ein mulmiges Gefühl“ gehabt zu haben [Q12]. Generell verstärken solche Erhebungen den Eindruck von Konflikt. Das Institut YouGov interessierte sich zum Beispiel 2018 dafür, was Autofahrer im Verkehr am meisten stört. Die häufigsten beiden Antworten (die Befragten konnten bis zu fünf auswählen) waren „rücksichtslose Autofahrer“ mit 53 und „rücksichtslose Radfahrer“ mit 46 Prozent [Q13]. Als sich die Befragten drei Jahre zuvor auf eine Antwort festlegen mussten, wählte jeder Sechste – und fast jeder vierte Städter – die Zweiradnutzer [Q14]. Eine gute Zusammenfassung der Stimmung bietet womöglich eine kleine, nicht repräsentative Umfrage in Freiburg/Breisgau; dabei sagten etwa zwei Drittel der Autofahrer: „Gefährliche Situationen mit Radfahrern entstehen vor allem deswegen, weil diese sich im Straßenverkehr zu viel herausnehmen.“ [Q15]

#fahrradalltag – die Emotionen der Radfahrer

Was sich im Gegenzug die Autofahrer „herausnehmen“, ist für viele Radfahrer in Deutschland reichlich Grund, sich über den Kraftverkehr zu ärgern. Als Anja Huemer mit ihren Kollegen Michael Oehl vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Braunschweig und Stefan Brandenburg von der Technischen Universität Berlin 53 mögliche Gründe für negative Gefühle in einer Gruppe von gut 400 Radfahrerinnen und Radfahrern testete, bekamen diese drei Auslöser die höchste Zustimmung: ein Auto drängt den Radler ab (durchschnittliche Wertung 4,71 auf der Skala von eins bis fünf), ein Fußgänger blockiert absichtlich den Fahrradweg (4,64), ein schnelles Auto überholt zu eng (4,27). Der sonstige Kontakt mit Fußgängern, anderen Radfahrern oder der Polizei löste viel weniger Ärger aus. (Transportation Research Part F). [Q16]

Viele Radfahrer haben dabei den Eindruck, dass es besonders diejenigen trifft, die zu erkennen geben, nicht bloß aus Versehen, sondern mit Überzeugung per Pedalkraft unterwegs zu sein: durch Fahrweise und Körpersprache, wegen des Helms oder der Kleidung, ihres Liege- oder Lastenrades oder der vier Packtaschen vor den Reifen. Gefährdet sind offenbar gerade die, die sich nicht an den Wegesrand ducken und stumm in der Wirbelschleppe des Autos bleiben, froh überhaupt noch am Leben zu sein – sondern ihre Rechte im Verkehr einfordern.

Eine ganze Reihe von denen ist dazu übergegangen, mit Kamera am Helm oder Lenker zu fahren und ihre Erlebnisse empört bis sarkastisch unter den Hashtags #fahrradalltag, #radverkehr, #anzeigeistraus oder #runtervomradweg auf Twitter zu dokumentieren oder zu retweeten: eine Abfolge von Fotos und Clips, in denen sie übersehen, geschnitten, bedrängt oder beschimpft werden, in denen Autos rote Ampeln und sonstige Verbote missachten und Fahrradwege als Parkplatz nutzen. Auch der schlechte Zustand und die gedankenlose Führung von Radwegen ist immer wieder Thema. (Weil viele der Tweets offen die jeweiligen Kennzeichen der Autos zeigen, enthält dieser Beitrag nur zwei eher zurückhaltende Beispiele.)

Solche Postings dienen meist dazu, dem angestauten Ärger ein wenig Luft zu machen oder Zuspruch von einer Gemeinde Gleichgesinnter zu bekommen. Doch manchen Radlern geht es auch um Beweissicherung. „Fehlverhalten von Autofahrern hat doch sonst überhaupt keine Konsequenzen“, sagt Michael Müllers, der am Rande Münchens regelmäßig mit der Kamera am Fahrradhelm unterwegs ist. „Mir ist es auch schon passiert, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen mangelnden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung einstellt, nachdem ein Autofahrer mir gegenüber handgreiflich geworden ist.“

Für das enge Überholen haben Twitter-Nutzer längst einen eigenen Hashtag: #überholzwang – diesem Drang folgen offenbar Autofahrer, die selbst in beidseitig zugeparkten Einbahnstraßen mit Tempolimit 30 unbedingt einen Radfahrer passieren wollen, der kaum langsamer als die Höchstgeschwindigkeit fährt. Häufig gibt es solche gefährlichen Manöver auch dort, wo markierte Schutzstreifen (mit gestrichelter Linie) oder Radfahrstreifen (mit durchgezogener Linie) auf der Straße den Zweirädern ihre eigene Zone garantieren sollen.

„Wo markiert ist, fühlt man sich im Recht“

Anja Huemer hat das mit ihrem Team in mehreren Experimenten an gut 100 Probanden im Fahrsimulator getestet. „Wenn es die Markierung gibt und sich sonst nichts ändert, kommen die Autos den Fahrrädern näher“, sagt die Verkehrspsychologin aus Braunschweig. „Die Autofahrer holen dann nicht mehr aus, sondern fahren an der markierten Linie entlang.“ So sank der Abstand im Mittel um 80 Zentimeter. Wo vorher 75 Prozent der Probanden mindestens 1,5 Meter seitlichen Abstand hielten, waren es bei markierten Fahrradstreifen weniger als 20 Prozent. Und Gegenverkehr, zeigte das zweite Experiment, steigerte das Risiko für den Radfahrer, eng überholt zu werden, noch einmal deutlich. [Q17]

Offenbar passiert genau das auch auf den Straßen, nicht nur in der künstlichen, kontrollierten Umgebung des Simulators. Mehrere Studien haben Radfahrer mit einem Messgerät am Rahmen oder unter dem Sattel in den Verkehr geschickt. Eine Untersuchung der Unfallforschung der Versicherer ergab laut Spiegel-Online, dass in Berlin die Hälfte der Autos und 70 Prozent der Lastwagen Fahrradfahrer zu eng überholten, wenn diese auf markierten Spuren unterwegs waren. Ein durchgezogener Streifen verleitete sogar etwas mehr Wagenlenker zu riskantem Passieren als eine gestrichelte Linie [Q18]. Ein ähnliches Verhalten beobachteten australische Forscher im Bundesstaat Victoria. Hier kamen Autos den Zweirädern im Mittel um 27 Zentimeter näher, wenn diese auf einem Fahrradstreifen fuhren, und um 40 Zentimeter, wenn jenseits des Streifens noch Autos am Straßenrand parkten. [Q19]

„Wo markiert ist, da fühlt man sich im Recht“, interpretiert Huemer das Verhalten der Teilnehmer in ihrer Studie, aber offenbar gilt das allgemein: Je klarer die Situation auf der Straße ein Vorrecht für Autos zu fixieren scheint, desto enger passieren diese die Fahrradfahrer.

Auf zwei Rädern: Der Umgang mit Regeln

Zum vollständigen Bild gehört aber auch, dass vielen Nutzern von Zweirädern in erschreckendem Maß die Disziplin im Straßenverkehr fehlt. Viele verbrämen das mit der ständigen Gefährdung durch Autos und der systematischen Benachteiligung von Fahrrädern im Verkehr, die zum Beispiel beim Linksabbiegen an großen Kreuzungen zwei Ampelphasen brauchen. So räumten in einer Online-Umfrage mit 1000 Teilnehmern auf fahrrad.de gut 30 Prozent der Radler ein, gelegentlich oder häufig über rote Ampeln zu fahren. 48 Prozent machen das nach eigenen Angaben „selten“, nur 22 Prozent „nie“, und nur 15 Prozent halten sich im Verkehr „immer“ an Gesetze und Verordnungen. „Bei Verkehrsregeln nehmen sich Radfahrer meistens die Freiheiten, die sie brauchen, um flüssig durch den Verkehr zu kommen“, kommentierten das die Autoren [Q20]. Bei geschnittenen Autofahrern kommt dann schnell das gleiche Gefühl auf, das Radfahrer oft haben, wenn ein rücksichtloser Wagenlenker mit heulendem Motor im Verkehrsgewühl verschwindet.

Straßenszene am Hamburger Heiligengeistfeld. Ein silbernes Auto steht halb auf dem Radweg, auf dem sich ein Radfahrer nähert. Gleichzeitig kommt links davon ein Bus vorbei. –
Nur eben was erledigen, hat sich der Golf-Besitzer vielleicht gedacht. Währenddessen kommen gleichzeitig Radfahrer und ein Bus an die Engstelle.
Nur eben was erledigen, hat sich der Golf-Besitzer vielleicht gedacht. Währenddessen kommen gleichzeitig Radfahrer und ein Bus an die Engstelle.

Bei sehr aktiven und zunehmend erbosten Radlern kommt es auch vor, dass sie Hand anlegen: Scheibenwischer von Falschparkern hochzuklappen, ist dabei noch ein harmloses Beispiel, Aufkleber auf dem rechten Außenspiegel sind nur wenig aggressiver. Mit der flachen Hand auf das Blech zu schlagen, heizt aber den aktuellen Konflikt mit einem Autofahrer schnell an. Womöglich waren solche Eskalationsschritte auch der Attacke auf den Rennrad-Nutzer in Melbourne vorausgegangen, den der SUV-Fahrer gerammt hatte. Wie Gerichtsakten zeigten, die örtliche Boulevard-Zeitungen genüsslich ausbreiteten, hatte das spätere Opfer seinen Schlüssel über den Lack des Geländewagens gekratzt. Er musste sich schriftlich dafür entschuldigen, befand das Gericht, während der Autofahrer mit einer Geldstraße von 1000 australischen Dollar (circa 630 Euro) davon kam, statt ins Gefängnis zu müssen [Q21]. „Ganz egal, was vorher passiert ist“, sagte Edward Hore, Präsident der Australischen Fahrrad-Allianz der Daily Mail Australia, „nichts rechtfertigt den Angriff und die Brutalität.“

Mehr Fahrten und mehr Verletzte

Immerhin: Der gerammte Radfahrer musste danach nicht ins Krankenhaus – anders viele andere Velonutzer in Australien. Ihre Zahl steigt deutlich schneller als die ebenfalls wachsende, aber viel größere Menge verletzter Autofahrer, zeigt eine Auswertung der Statistikbehörde in Canberra [Q22]. Das Land schafft es zwar, die Summe der Verkehrstoten insgesamt langsam zu senken, aber die Zahl der Fahrradfahrer, die ihr Leben auf der Straße verlieren, widersetzt sich jedem Trend: Sie pendelt seit Jahren zwischen 30 und 50.

Hierzulande sind die Verhältnisse nicht entscheidend besser als in Australien. Generell ist in Deutschland zwar eine allgemeine Verbesserung der Sicherheit auf den Straßen zu beobachten, aber Radfahrer profitieren davon weniger als andere Verkehrsteilnehmer, zeigt eine Auswertung des Statistischen Bundesamtes [Q23]. Während die Zahl der Verunglückten im Verkehr zwischen 2002 und 2017 generell um 19 Prozent sank, stieg sie für die Zweiradnutzer um 13 Prozent. Und die Zahl der Getöteten hat zwar insgesamt um 54 Prozent abgenommen, bei den Fahrradfahrern aber nur um 35 Prozent. 382 Menschen kamen 2017 bei Unfällen mit dem Velo ums Leben. 2018 ist die Zahl sogar noch einmal auf 445 angestiegen; das ist ein Sechstel mehr als im Vorjahr [Q23a]. Die Quote liegt jetzt bei mehr als fünf Opfern pro Million Einwohner – sie ist mehr als doppelt so hoch wie in Australien.

Ein Teil der Erklärung: Hierzulande spielt das Zweirad eine wesentlich größere Rolle im Verkehr. Zwischen Perth und Brisbane sitzen nur 15,5 Prozent der Bürger wenigstens einmal pro Woche auf dem Rad, und das schließt spielende Kinder ein. Die Tendenz sinkt dort seit Jahren [Q24]. Zwischen Aachen und Görlitz hingegen sind es 41 Prozent allein vom Alter 14 aufwärts, die mehrmals pro Woche das Zweirad nutzen, und es werden von Jahr zu Jahr mehr [Q25]. So nahm von 2002 bis 2017 die Zahl der mit Pedalkraft zurückgelegten Wege um 16 Prozent und die der bewältigten Kilometer um 29 Prozent zu, zeigen Infas-Studien im Auftrag des Verkehrsministeriums. [Q26]

Wo Kampfradler auf Automachos treffen

Konflikte zwischen Auto- und Fahrradfahrern, die nicht im Krankenhaus enden, sind dabei so alltäglich geworden wie die Benutzung der jeweiligen Verkehrsmittel. Als wichtigen Auslöser für die Verschärfung in Deutschland macht der Berliner Aktivist Heinrich Strößenreuther eine Äußerung des ehemaligen Verkehrsministers Peter Ramsauer (CSU) aus. Dieser sprach 2012 von der „Verrohung der Kampfradler“, der „endlich Einhalt“ geboten werden müsse [Q27]. Strößenreuther hat beobachtet: „Seither lassen sich viele Fahrradfahrer die Verhältnisse nicht mehr einfach gefallen. Manche von ihnen konfrontieren die Minderheit egoistischer Autofahrer wegen ihres Fehlverhaltens, das sie früher still erduldet haben.“ Dass das zu Einsicht hinter dem Lenkrad führt, dürfte indes die absolute Ausnahme sein.

„Ich setze gegen die, Kampfradler‘ den Begriff, Automacho‘“, sagt Strößenreuther. „Viele Menschen haben einfach ihre gute Kinderstube vergessen.“ Doch nicht in besseren Manieren sieht der Aktivist eine mögliche Lösung. Für beide Gruppen sei es vor allem die Infrastruktur der Straßen, die Fehlverhalten und Konflikte anheizt – erst eine Umgestaltung verspreche Abhilfe. „Verfrachten Sie doch mal 50 dieser Automachos inklusive ihrer SUVs nach Amsterdam“, sagt der Berliner, „da haben die doch überhaupt keine Chance, sich daneben zu benehmen, weil die Verkehrsströme besser voneinander getrennt sind.“ Um diese Trennung in Deutschland zu erreichen, müsse man Autofahrern Platz wegnehmen und in Radwege umwandeln. „Es ist Aufgabe der Politik, Flächenkonflikte zu lösen und Verkehrsteilnehmer nicht in solchen Konflikten aufeinander los zu lassen und dann von gegenseitiger Rücksicht zu faseln.“

Kindersichere Radwege für Erwachsene

Strößenreuther hat sich bundesweit einen Namen als Aktivist gemacht, als er in Berlin ein Fahrrad-Volksbegehren vorantrieb, das inzwischen in etwa 20 Städten Nachahmer findet [Q28], darunter sind München [Q29] und Hamburg [Q30]. Der Verkehrsexperte wirbt dafür, „Radwege kindersicher auszubauen, um damit auch Erwachsene aus dem Auto auf das Fahrrad zu locken“. Viele von ihnen fühlen sich auf zwei Rädern im Verkehr unsicher. Besonders Frauen sind eine wichtige Zielgruppe, weil mit ihrem Anteil an den Radfahrenden auch die Quote der mit Pedalkraft zurückgelegten Wege wächst. In seinem Handbuch „Der Berlin-Standard“ gibt Strößenreuther Verkehrspolitikern darum diesen Rat: „Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, mehr Frauen durch sichere Radwege für den Umstieg zu gewinnen: Sie werden dann die richtigen Prioritäten setzen und die richtigen Entscheidungen ganz von alleine treffen.“ [Q31] (Eine Rezension des Buchs von Andrea Reidl lesen Sie beim Riffreporter-Projekt BusyStreets [Q32].)

Tatsächlich ist im Fahrrad-Monitor Deutschland 2017, vom Sinus-Institut für das Verkehrsministerium erstellt, der Ausbau von sicheren Radwegen der am meisten genannte Grund, mehr Fahrrad zu fahren, was sich etwa ein Drittel der Deutschen wünscht. Und umgekehrt fühlt sich die knappe Hälfte der Befragten unsicher und nennt fehlende Radwege und rücksichtslose Autofahrer als wichtigste Gründe dafür. [Q33]

Was man tun könnte, lässt sich seit November 2018 zum Beispiel in der Holzmarktstraße in Berlin-Mitte besichtigen: eine grün markierte Fahrradspur, ungefähr doppelt so breit wie üblich und mit Pollern von den Autospuren getrennt. Der Stadtstaat hat ein Mobilitätsgesetz verabschiedet, statt sich von den Bürgern per Referendum dazu zwingen zu lassen, und gibt Fahrrädern und öffentlichem Verkehr in Zukunft Vorrang vor Autos und Lastwagen. Wenn deswegen mehr Wege mit dem Zweirad zurückgelegt werden, ist Strößenreuther überzeugt, nehmen auch die Sorgen der Autofahrer über Staus und Parkplatznot ab. Der „Dichtestress“ entfällt, dem sich die Menschen hinter dem Lenkrad hilflos ausgesetzt sehen. Und außerdem sinken die CO2-Emissionen.

Auch Anjes Tjarks, Grünen-Fraktionschef in der Hamburger Bürgerschaft, zeigt sich optimistisch, dass ein Ausbau der Fahrrad-Infrastruktur die Verhältnisse auf den Straßen verbessert und Konflikte entschärft. „Jeder Mensch, der nicht Auto fährt in Hamburg“, sagte er dem NDR, „ermöglicht es anderen Autofahrern, zügiger und schneller durch den Verkehr zu kommen.“ [Q34]

Doch es ist keinesfalls gesagt, dass sich diese Ansicht durchsetzt. Für viele Autofahrer und Volksvertreter ist es allemal einfacher, auf disziplinlose Radfahrer zu schimpfen, als die Weichen der Verkehrspolitik anders zu stellen. Ein Beispiel ist die Initiative der Landes-Verkehrsminister, die Anfang April eine „fahrradfreundliche Novelle der Straßenverkehrsordnung“ vorgeschlagen hatten [Q35]. Schnell kritisierte der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Fraktion im Bundestag, Ulrich Lange, gegenüber Spiegel-Online, man verschaffe so „auf lange Sicht dem Fahrrad eine einzigartige Privilegierung gegenüber den anderen Verkehrsmitteln“. Man dürfe den „Radrowdys“ doch nicht auch noch entgegenkommen. [Q36]

Ein genauer Blick auf den Vorstoß der Minister rechtfertigt das Urteil des Abgeordneten kaum: Der Vorschlag sieht 15 Maßnahmen vor, von denen sechs das Verhalten der Autofahrer in der Nähe von Fahrrädern beschränken sollten, vor allem das Parken sowie Abstand und Tempo beim Überholen. Hier geht es also um Sicherheit und Sicherheitsgefühl für Zweiradnutzer. Nur zwei Ideen würden den Radlern tatsächlich neue Rechte geben: eine generelle Freigabe von Einbahnstraßen in Tempo-30-Zonen in Gegenrichtung und die Erlaubnis, nebeneinander zu fahren, wo es den Verkehr nicht behindert. Gerade das ist natürlich für Autofahrer, die meist einen leeren Beifahrersitz durch die Gegend chauffieren, eine schier unerträgliche Provokation – klang es dann bei Twitter.

Die – neutral formuliert – spezielle Sicht auf die Probleme, die Ulrich Lange mit seiner Kritik offenbarte, ist übrigens in der Verkehrspolitik wie im Verkehr überhaupt weit verbreitet. Nur ein Indiz für mangelnde Logik und fehlende Selbstreflexion, gefunden im Bericht „Verkehrsklima in Deutschland 2016“, erstellt von den Unfallforschern des Gesamtverbands Deutscher Versicherer [Q37]: 93 Prozent der Befragten haben demnach schon beobachtet, wie andere Wagen Zweiräder zu dicht passierten. Aber 97 Prozent gaben an, sie selbst nähmen besondere Rücksicht, wenn sie Fahrräder überholen. Ach so. ◀

Hinweis: Die Zahl der im Jahr 2018 getöteten Radfahrer wurde im Juli 2019 ergänzt. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und deutlich erweiterte Version eines Artikels, der zuerst bei der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.

Quellen und Links

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