Der lange Marsch durch die Bürgerforen

Wie die Philosophin Cristina Lafont das zähe demokratische Ringen verteidigt

10 Minuten
Bunte Sprechblasen werden hochgehalten.

Manchmal ist die Demokratie schier zum Verzweifeln: Einen Kompromiss zu finden, kann quälend lange dauern. Aber es geht nicht anders, beruhigt die Philosophin Cristina Lafont. Wer seine Mitmenschen als gleichberechtigte Mitbürger respektiert, muss zumindest versuchen, sie zu überzeugen. Ein starkes Argument, dem man seine Stärke nicht auf den ersten Blick ansieht.

Die chinesische Regierung präsentiert sich gerade als zupackend: Um das neue Coronavirus einzudämmen, unterbricht sie den Reiseverkehr und riegelt die Stadt Wuhan mit elf Millionen Einwohnern ab. Busse und Bahnen fahren dort nicht mehr, der private Autoverkehr ist untersagt. Auch in anderen Metropolen des Landes ist es ungewöhnlich still, weil es dort Straßensperren gibt. Nur in den Krankenhäusern ist es voll, ebenso in den Supermärkten, weil sich die Menschen lieber mit Vorräten eindecken, bevor die nächste Einschränkung kommt.

Noch hält die Moral, doch der „Weltspiegel“ berichtete am Sonntag von ersten Kritikern und auch deutsche Experten blicken skeptisch in die Zukunft: In Einschätzungen, die das Science Media Center zusammengetragen hat, werten sie die Quarantäne einer ganzen Stadt als unverhältnismäßig und sorgen sich, dass die Stimmung umschlägt. „Die Reaktionen der Bevölkerung hängen entscheidend davon ab, ob den offiziellen Informationen geglaubt wird und ob Personen darauf vertrauen, Hilfe zu erhalten“, wird Daniel Lorenz von der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin zitiert.

Aber mal angenommen die chinesische Regierung bekommt im Nachhinein Recht: Mit ihren radikalen Maßnahmen stoppt sie die Infektionsketten, bevor die Versorgung Wuhans zusammenbricht. Würden wir uns dann nicht wünschen, dass auch hierzulande entschlossen durchgegriffen wird, wenn es die Umstände erfordern? Wenn man bedenkt, wie zäh manche politischen Diskussionen laufen, könnte man fast verzweifeln. Im Klimaschutz sind auf diese Weise schon viele Jahre verloren gegangen – diese Einsicht war ein Motiv, KlimaSocial zu gründen.

Die Cover der beiden zitierten Bücher von Cristina Lafont und von Patrizia Nanz & Claus Leggewie
Die Cover der beiden zitierten Bücher von Cristina Lafont und von Patrizia Nanz & Claus Leggewie

Hier klinkt sich die Philosophin Cristina Lafont mit einem neuen Buch ein. Es heißt „Democracy without shortcuts“ und sie verteidigt darin den langen Marsch durch die demokratischen Institutionen. Wer diesen Weg abkürze und eine Regierung nach chinesischem Vorbild mit besonderer Macht ausstatte, verrate die demokratischen Prinzipien. Das gelte auch dann, wenn die Führung fachlich kompetent sein sollte und im Sinn der Bürgerinnen und Bürger entscheidet. Ja, selbst wenn die Bevölkerung der Regierung vertrauen sollte, bleibe die Abkürzung undemokratisch. Denn in der Demokratie gehe die Staatsgewalt vom Volk aus, argumentiert Lafont, daher könnten die Bürgerinnen und Bürger ihre Ansprüche nie endgültig abtreten, sondern nur unter Vorbehalt. Sie behalten immer das letzte Wort.

Lafont stammt aus Valencia und hat 1992 an der Universität Frankfurt promoviert. Ihr Doktorvater war Jürgen Habermas, dem sie auch ihr neues Buch widmet. Heute forscht sie an der Northwestern University in den USA. Als Philosophin ist sie in ihrem Buch weniger an konkreten Beispielen interessiert als vielmehr an grundsätzlichen Erwägungen. Sie liefert daher auch keine Ratschläge, um die demokratische Willensbildung zu verbessern. Aber sie macht Hoffnung, dass die öffentliche Debatte funktionieren kann, und sie warnt davor, diese Hoffnung aufzugeben.

Ihr Prinzip, dass die Bürgerinnen und Bürger ihrer Regierung nicht blind und bedingungslos vertrauen dürfen, beschreibt Lafont als gemeinsamen Nenner aller Demokratiekonzeptionen. Wer die Entscheidungsgewalt für immer abgebe, könne sich früher oder später im eigenen Land fremd fühlen, weil er Gesetze befolgen muss, die er nicht gutheißt und die er auch nach gewissenhafter Auseinandersetzung mit der Thematik nicht einsehen würde. Es gebe keine Garantie, dass eine Regierung immer im Sinn der Bevölkerung entscheide, argumentiert Lafont. Irgendwann könnte die Regierung ihren eigenen Weg gehen – und die Bürgerinnen und Bürger brauchen eine Möglichkeit, in diesem Fall die Kontrolle zurückzugewinnen.

Am besten lässt man alle von Anfang an mitdiskutieren, schreibt Lafont, denn dann ist die Chance am größten, dass sie die Regeln, die beschlossen werden, auch anerkennen. Natürlich bekommt nicht jeder seinen Willen, doch jeder kann seine Meinung einbringen und den politischen Prozess mitgestalten. Und falls die neuen Regeln erheblich von seinen Interessen, Ideen und politischen Zielen abweichen, kann er sie gerichtlich überprüfen lassen. Aus Lafonts Sicht entsteht so erst eine Demokratie: „Solange es diese effektiven und fortlaufenden Möglichkeiten gibt“, schreibt sie, „können sich die Bürger als Mitglieder eines demokratischen Projekts der Selbstregierung sehen.“

Gegen Politikmüdigkeit

Zu den Möglichkeiten, den politischen Prozess mitzugestalten, gehören Wahlen, doch die Bürgerinnen und Bürger können viel mehr tun, als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu setzen. Sie können Politikern schreiben, sich zu Initiativen zusammenschließen, sich in Parteien engagieren oder auf die Straße gehen. Auch über Umfragen und durch ihre Konsumentscheidungen zeigen sie beispielsweise, welche Klima- und Energiepolitik sie sich vorstellen. Und nicht zuletzt können kleine Gruppen repräsentativ ausgeloster Bürgerinnen und Bürger stellvertretend für alle nach Kompromissen suchen. Solche Foren werden „Mini-Öffentlichkeiten“ oder „Mini-Publics“ genannt. Lafont schätzt diese Form der Bürgerbeteiligung sehr – nicht als Ersatz für die echten Parlamente, aber als Möglichkeit, wenig beachteten Argumenten eine Bühne zu bieten und so die politische Debatte zu stärken.

Einen ähnlichen Gedanken führen Patrizia Nanz und Claus Leggewie in ihrem Buch „Die Konsultative“ für Deutschland aus. Nanz ist Direktorin am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam, Leggewie war bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen. Die beiden Politologen fragen zum Beispiel, wie die für die Energiewende benötigten Windräder und Stromleitungen gebaut werden können, wenn jeder ruft: „Not in my backyard!“ Ihre Antwort: Um die Menschen einzubinden, braucht man „eine klare Zielsetzung, eine transparente Rollenaufteilung und Kompetenzzuweisung, Inklusivität (‚alle an den Tisch‘) und Transparenz drinnen und draußen (‚alles auf den Tisch‘), echten Gestaltungsspielraum mit klaren Alternativen, Professionalität der Rückmeldungen und nicht zuletzt eine obligatorische Anbindung an Legislative und Exekutive“.

Konkret plädieren Nanz und Leggewie dafür, Zukunftsräte einzurichten, in denen 20 oder 40 Personen über ein oder zwei Jahre wichtige Themen diskutieren – vor allem solche, die in den Parlamenten auf die lange Bank geschoben werden. Sie erarbeiten Empfehlungen für Gemeinderäte, Landtage und den Bundestag, und diese Institutionen sind wiederum verpflichtet, die Empfehlungen zu diskutieren und darauf zu reagieren. „Für die Entwicklung alternativer Zukunftsszenarien“, schreiben die beiden Autoren, „bedarf es politischer Räume, in denen Platz ist für die Artikulation vielfältiger Weltsichten, für konstruktiven Streit, verständigungsbereiten Dialog und fürsorgende Verantwortung.“

Mit den Zukunftsräten wollen Nanz und Leggewie die politische Debatte nicht revolutionieren, aber nachhaltig bereichern. Wenn die politischen Leidenschaften zivilisiert blieben, könnten unterschiedliche Meinungen gehört, „produktiv zugespitzt und konstruktiv gewendet werden“, werben sie. Doch kann man voraussetzen, dass alle Menschen vernünftig bleiben und an einem Kompromiss interessiert sind? Was, wenn sich die Bürgerforen nicht lohnen, weil sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht einigen? Wird man sich nicht doch irgendwann eine starke Führung wünschen, die das Heft in die Hand nimmt und das demokratische Patt überwindet?

Nanz und Leggewie setzen auf die menschliche Fähigkeit zur Kooperation und wollen sie durch die Zukunftsräte stärken. Lafont ist skeptischer und leitet ihre Antwort nicht aus einem positiven Menschenbild ab, sondern aus einer demokratischen Pflicht: Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich gegenseitig ernst nehmen, weil in einer Demokratie alle Menschen Grundrechte besitzen, die in einer Verfassung festgehalten sind. So entscheidet zwar eine Mehrheit, aber Minderheiten werden vor Willkür geschützt, denn ihre Grundrechte müssen weiterhin geachtet werden. Wer in einer Demokratie etwas durchsetzen möchte, muss sich an Prinzipien wie diese halten, sonst wäre es keine Demokratie.

Die demokratischen Prinzipien aus dem Grundgesetz sind aus Lafonts Sicht eine unverzichtbare und sehr stabile Basis für den gesellschaftlichen Kompromiss. Und obwohl sie es nicht anspricht, scheint sich dahinter nicht nur ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger zu verbergen, einander zuzuhören und wichtige Themen auszudiskutieren. Es klingt auch wir eine Aufforderung an die Anhänger populistischer Parteien, die demokratischen Institutionen zu nutzen, anstatt ihre Abschaffung zu unterstützen und den Dialog mit den Eliten oder unerwünschten Minderheiten abzulehnen. Mehrfach zitiert Lafont in ihrem Buch das satirische Gedicht Bertold Brechts, in dem er fragt, ob es nicht einfacher sei, wenn die Regierung das Volk auflöse und ein anderes wähle. Das ist eben keine Lösung, lautet Lafonts Mantra, man muss vielmehr mit den Menschen auskommen, mit denen man zusammenlebt.

Für einen zivilisierten Austausch

Doch genügt die demokratische Pflicht zum gegenseitigen Respekt, um die schwierigen politischen Streitfälle zu lösen? Zurzeit wird zum Beispiel ein tiefer Dissens darüber deutlich, wie teuer Klimaschutz sein sollte. Nicht wenige betrachten schon den Hinweis auf ihren hart erarbeiteten Lebensstandard und die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit als ausreichenden Grund, um die Verantwortung gegenüber anderen Nationen und nachfolgenden Generationen auszuhebeln. Werden die politischen Gegner bald zueinanderfinden oder verzögert sich effektiver Klimaschutz um weitere Jahre?

Die Einsicht, dass die anderen Menschen dieselben Rechte besitzen wie man selbst, wirkt auf den ersten Blick fast trivial – zu trivial vielleicht, um Menschen zu einem Kompromiss zu bewegen. Doch dahinter verbirgt sich ein mächtiges Instrument, dessen Wirkungsweise Lafont herausarbeitet. Die demokratischen Prinzipien verpflichten alle Diskutanten zu einer bestimmten Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: Sie müssen sich verständlich machen. Diese Offenheit hat in China möglicherweise gefehlt: Der „Weltspiegel“ und die „New York Times“ berichten, dass Ärzte in den ersten Wochen der Epidemie ihre Beobachtungen nicht frei teilen konnten oder aus Angst nicht wollten.

Als Beispiel für eine schwierige Auseinandersetzung beschreibt Lafont eine fiktive, aber realistisch anmutende und schier endlose Diskussion mit ihrem 16-jährigen Sohn. Sie will ihm beibringen, dass man am Steuer eines Autos keine Nachrichten ins Handy tippen darf. Der Sohn hat gerade den Führerschein gemacht und eigentlich kein richtiges Argument dagegen, stellt aber alle Beispiele und Gründe seiner Mutter infrage. „Wie alle Eltern von Teenagern wissen“, schreibt Lafont, „kann dieser Prozess ermüdend sein.“ Und manche Klimaaktivisten dürften sich an Diskussionen mit Leugnern des Klimawandels erinnert fühlen.

Inhaltlich führe das Gespräch womöglich zu nichts, gibt Lafont zu. Aber dessen Bedeutung solle man nicht unterschätzen: „Ich versuche meinen Sohn zu überzeugen, statt ihn einfach zum blinden Gehorsam zu nötigen, indem ich ihm zum Beispiel sein Handy wegnehme.“ In einer Demokratie gelange man nicht immer zur Wahrheit und zur besten politischen Entscheidung, aber man müsse zumindest den Versuch unternehmen, die anderen von den eigenen Ansichten zu überzeugen, denn sie dürfen genauso mitbestimmen wie man selbst.

Demokratie ist, was man daraus macht

Also läuft es auf reden, reden und reden hinaus? Lafont bringt ein letztes Element ins Spiel: Wenn das Reden scheitert, kann man immer noch vor Gericht ziehen und eine politische Entscheidung überprüfen lassen. Spätestens dort wird man angehört und spätestens dort muss einem die Gegenseite ihre Gründe richtig darlegen. Lafont will damit nicht die öffentliche Debatte in den Gerichtssaal tragen, sie argumentiert vielmehr in die umgekehrte Richtung.

Die Aussicht auf ein mögliches juristisches Nachspiel prägt wiederum die öffentliche Debatte, denn wenn man weiß, dass der Fall vor Gericht landen kann, kann man schon vorher vernünftig miteinander diskutieren, lautet Lafonts Argument. Oder in ihren Worten: „Die Bürger werden ermächtigt, den Rest der Bürgerschaft dazu aufzurufen, ihre Talare überzuziehen und zu zeigen, dass die von ihnen bevorzugten Regelungen mit der Gleichheit sowie den Grundrechten und -freiheiten aller Bürger im Einklang stehen.“

Die Bürgerinnen und Bürger haben laut Lafont also die Pflicht, sich gegenseitig ihre Gründe darzulegen, weil ihre Mitmenschen erstens das gleiche Recht haben die Politik mitzugestalten und weil sie zweitens das Recht haben, die Gründe notfalls in einem Gerichtsverfahren einzufordern. Daraus kann Lafont zwar keine Garantie ableiten, dass sich eine gespaltene Gesellschaft immer einigt. Aber die Philosophin zeigt, worin die Stärke der Demokratie besteht: Wenn sich die Gesellschaft einigt, dann hält der Kompromiss, weil alle daran mitwirken konnten. Man muss in einer Demokratie nicht bangen wie derzeit in China, ob die Stimmung kippt und die Bevölkerung sich gegen die Regierung erhebt. Wenn es um Beschlüsse zum Klimaschutz geht, die Jahrzehnte überdauern sollen, dann scheint die Zeit in die öffentliche Debatte daher gut investiert.

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