Ein Land kämpft mit dem Schweigepakt: Chile 50 Jahre nach dem Putsch

Am 11. September 1973 bombardierte die chilenische Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda. Viele Verbrechen, die in den 17 Jahren der Militärdiktatur passierten, sind noch immer ungestraft. Der junge Präsident Gabriel Boric will den Pakt des Schweigens brechen – und stößt auf Widerstand.

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Der Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile: Am 11. September 1983 bombardierte ihn die chilenische Luftwaffe, heute erinnern Fotos an die Opfer der Diktatur.

Sandra Palestro schwieg 15 Jahre lang darüber, was Militärs ihr 1973 im Nationalstadion in Santiago de Chile antaten. „Ich hatte keine Worte für den Horror, den ich erlebte.“ Im Nationalstadion, das bis heute für Sportveranstaltungen und Konzerte genutzt wird, waren während der Pinochet-Diktatur tausende politische Häftlinge gefangen. Viele wurden grausam gefoltert und ermordet. Das Nationalstadion war eines der größten, aber längst nicht das einzige Gefangenen- und Folterlager der Diktatur: Insgesamt verwandelte das chilenische Militär über 1.000 Gebäude in solche Lager.

Heute, 50 Jahre nach dem Putsch vom 11. September 1973, setzt sich Palestro dafür ein, dass die Gewalt, die sie und tausende weitere Chilen:innen während der Militärdiktatur erlebt haben, nicht in Vergessenheit gerät. Sie sagte vor der Valech-Kommission aus, einer Wahrheitskommission, die 2003 einen Bericht über die Verbrechen der Diktatur veröffentlichte. Insgesamt registrierte die Kommission mehr als 30.000 Opfer, 2011 korrigierte sie die Zahl auf 40.000. Die tatsächliche Zahl ist vermutlich noch viel höher, weil viele Opfer bis heute schweigen.

Statt der Opfer schützte der Staat die Täter:innen

Die damalige Regierung unter dem Präsidenten Ricardo Lagos (2000–2006) beschloss eine 50-jährige Geheimhaltungsfrist, angeblich um die Privatsphäre der Opfer zu schützen. Aber letztendlich wurden damit vor allem die Täter:innen geschützt. Nur wenige sind verurteilt worden.

Sandra Palestro wurde 1973 im Nationalstadion gefoltert.
Sandra Palestro wurde 1973 im Nationalstadion gefoltert.
In diesen Umkleidekabinen im Nationalstadion in Santiago de Chile wurden etwa 1.200 Frauen während der Pinochet-Diktatur gefoltert.
In diesen Umkleidekabinen im Nationalstadion in Santiago de Chile wurden etwa 1.200 Frauen während der Pinochet-Diktatur gefoltert.
„Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft“, heißt dieser Schriftzug übersetzt, der im Nationalstadion in Santiago de Chile zu lesen ist, ein ehemaliges Folterzentrum der Diktatur.
„Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft“, heißt dieser Schriftzug übersetzt, der im Nationalstadion in Santiago de Chile zu lesen ist, ein ehemaliges Folterzentrum der Diktatur.