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Geschwindigkeitsüberschreitungen im Verkehr: 10 km/h schneller finden viele Menschen in Ordnung
Schneller fahren als erlaubt: „10 km/h gehen immer“
Viele Autofahrer halten sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ist das ein Versehen oder Absicht? Und warum fühlt man sich mit Tempo 70 auf der Landstraße wie ein Hindernis? Die Mobilitätskolumne

Ich fahre gelegentlich zu schnell. Das passiert aus Versehen, ich merke nicht, wie die Tachonadel über das erlaubte Tempo steigt. Sobald es mir auffällt, bremse ich auf die vorgeschriebene Geschwindigkeit ab. Doch dann passiert regelmäßig etwas Erstaunliches: Die Autos hinter mir fangen an sich zu stauen. Sie fahren dicht auf, versuchen mich zu überholen, manchmal bekomme ich eine Lichthupe. Mein Vergehen: Ich halte mich an das vorgeschriebene Tempo, bin sogar einen Tick schneller. Aber damit scheine ich meinen Mitautofahrern bereits gehörig auf die Nerven zu gehen. Ist 10 km/h drüber das neue Normal?
Diese Frage treibt Markus Höhner von der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen um. Im Rahmen einer kleinen explorativen Untersuchung möchte er mehr über die Akzeptanz von Geschwindigkeitsverstößen herausfinden. Erste Ergebnisse seiner Online-Umfrage legen nahe, dass Geschwindigkeitsüberschreitungen Alltag sind. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, in geschlossenen Ortschaften 5 bis 10 km/h zu schnell zu fahren. Knapp genauso viele sind außerhalb von Städten mindestens 10 km/h schneller als erlaubt, 11 Prozent von ihnen fahren sogar 20 km/h schneller. Wo 70 vorgeschrieben ist, sind sie mit 90 km/h unterwegs.
Versehen oder Absicht?
Solche Tempoüberschreitungen sind keine Ausnahme: 42 Prozent gaben an, dass sie am Tag der Befragung zu schnell gefahren sind, 70 Prozent innerhalb der vergangenen Woche. Alles Versehen? Um das herauszufinden, fragte Höhner die Teilnehmenden, wie oft sie beim Fahren den Tacho kontrollieren. 92 Prozent sagten: häufig oder sehr häufig. Für den Polizeihauptkommissar ein Indiz, dass die Befragten die Geschwindigkeitsüberschreitung als Normalität betrachten, nach dem Motto: „10 km/h gehen immer“.
Das legen auch andere Daten nahe. Bei den knapp vier Millionen Ordnungswidrigkeiten, die das Kraftfahrtbundesamt 2024 registrierte, waren 2,4 Millionen Geschwindigkeitsüberschreitungen. Mit deutlichem Abstand auf Platz zwei folgten Handyverstöße (405.000 Fälle). In der regelmäßigen Befragung zum Verkehrsklima in Deutschland gaben 30 Prozent der Befragten an, es sei sehr wahrscheinlich, dass sie innerorts 15 km/h schneller sind als erlaubt. Heißt: Für knapp ein Drittel der Autofahrenden ist es offenbar normal, in der Tempo 30-Zone 45 km/h zu fahren oder bei Tempo 50 75km/h.
Mehr Unfälle, schwerere Folgen
Dabei weiß man aus vielen Studien, dass mit zunehmender Geschwindigkeit mehr und vor allem schwerere Unfälle passieren. Bei Tempo 30 braucht ein Auto rund 13 Meter, um zum Stehen zu kommen. Bei Tempo 50 sind es knapp 28 Meter. Ist ein Fahrzeug mit 50 km/h statt mit 30 km/h unterwegs, liegt die Sterbewahrscheinlichkeit für Fußgängerïnnen um das Sechsfache höher.
Es gäbe also gute Gründe, Geschwindigkeitsüberschreitungen streng zu ahnden. Im Jahr 2021 wurden mit dem neuen Bußgeldkatalog die Strafen für Tempoverstöße erhöht. Wer innerorts bis 10 km/h zu schnell fährt, muss 30 Euro Verwarngeld zahlen, außerorts sind es 20 Euro. „Das ist viel zu günstig, das nehmen die Leute in Kauf“, kritisiert Höhner.
Außerdem ist das Risiko, wirklich zahlen zu müssen, niedrig. In der Verkehrsklima-Befragung hielten es 70 Prozent der Teilnehmenden für sehr unwahrscheinlich, beim Zu-Schnell-Fahren erwischt zu werden.
In einem aktuellen Erlass zur Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei Nordrhein-Westfalen heißt es, dass von einer Verfolgung abzusehen ist, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit nach Abzug der Toleranz um nicht mehr als 5 km/h überschritten wird. Die Toleranz liegt bei 3 km/h. Heißt: 8 km/h drüber sind auch für die Polizei in NRW tolerabel. Laut Höhner ein falsches Zeichen für die Verkehrssicherheit.
Bis 10 km/h zu schnell zu fahren, scheint in Deutschland weitgehend akzeptiert zu sein. Das wirkt sich auf den Autoverkehr aus. Wenn ich im Verkehrsfluss mitschwimme, bin ich oft schneller als erlaubt unterwegs, halte ich mich an das Tempolimit, bremse ich den Verkehr aus. Das geht nicht nur mir so, Polizisten im Streifenwagen erlebten das Gleiche, erzählt Höhner. Er findet die öffentliche Debatte heuchlerisch: „Wenn ein Unfall passiert, regen sich alle über die Raser auf. Aber die, die meckern, fahren oft selbst zu schnell.“ Woher kommt die hohe Toleranz für Temposünden? Das würde Markus Höhner gerne in einer größeren Folgestudie gemeinsam mit Psychologen untersuchen.
Dieser Text gehört zu einer regelmäßigen Kolumne des Recherche-Kollektivs Busy Streets. Weitere Mobilitätskolumnen finden sie hier.