„Die Rechte von Menschen und Tieren sind zutiefst miteinander verflochten“

Wenn wir Tiere wirklich schützen wollen, müssen wir ihnen eigene Rechte geben. Dies verlangt die Tierrechtsbewegung seit Jahren. Die Tierrechtsexpertin und Juristin Saskia Stucki geht noch einen Schritt weiter: Sie macht keinen Unterschied mehr zwischen Menschen- und Tierrechten. Tiere und Menschen hätten vielmehr gemeinsame Rechte. Das Interview.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
7 Minuten
Ein Küken wird von zwei Händen gehalten.

Saskia Stucki, wieso brauchen Tiere Rechte?

Tiere brauchen Rechte, weil sie von Natur aus verletzlich und schutzbedürftig sind. Unsere Tierschutzgesetze reagieren bereits darauf. Sie erkennen an, dass Tiere Schutzbedürfnisse und gewisse Interessen haben. Das Problem ist, dass die geltenden Tierschutzgesetze keinen genügend starken Schutz gewährleisten. Ein solcher Rechtsschutz kann in Form fundamentaler und individueller Rechte erreicht werden.

Werden solche fundamentalen Tierrechte bereits irgendwo angewandt?

Bisher gibt es weltweit ein paar bahnbrechende Fälle, in denen zum Teil sogar höchste Gerichte Tieren individuelle Grundrechte zugesprochen haben, so etwa in Argentinien, Ecuador, Pakistan oder Indien. Die Fälle betrafen zum Beispiel Affen, Vögel oder Stiere.

Der Mensch teilt fundamentale Interessen mit anderen Tieren

Wie sieht es in Deutschland und der Schweiz aus?

Einige Expertinnen und Experten interpretieren die Gesetze so, dass daraus Rechte für Tiere folgen. So darf gemäss dem deutschen Tierschutzgesetz niemand „einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“. Dies lässt sich als ein Recht auf Leben auslegen, was juristisch aber umstritten ist. In der Praxis ist es ohnehin so, dass man diesen Anspruch auf ein Lebensrecht sehr einfach einschränken kann, etwa für die Fleisch- und Eierproduktion oder für die Jagd. In der Schweiz ist dies gar noch einfacher möglich, da es dort gesetzlich gar keinen Lebensschutz gibt. In der Schweiz kann man ein gesundes Haustier euthanasieren lassen, wenn man es nicht mehr will. In Deutschland wäre dies zumindest theoretisch nicht möglich.

Üblicherweise unterscheidet man in der Tierrechts-Debatte zwischen Rechten für Menschen und Rechten für Tiere. Sie gehen nun aber einen Schritt weiter und wollen diesen Unterschied aufheben. Sie nennen Ihren Ansatz „One Rights“, was man mit „gemeinsame Rechte“ übersetzen könnte. Wieso sollen Menschenrechte auf nichtmenschliche Tiere ausgeweitet werden?

Ich unterscheide zwischen konzeptionellen und praktischen Überlegungen. Die konzeptionelle Grundidee ist die folgende: Wenn man sich die Menschenrechte genau anschaut, dann räumen sie eigentlich nicht nur Menschen spezifische Rechte ein. Klar, es gibt Rechte, die auf menschliche Interessen zugeschnitten sind, wie etwa die Religions- oder die Wissenschaftsfreiheit. Aber andere Rechte schützen fundamentale Interessen, die wir Menschen als Tiere, die wir ja sind, mit anderen Tieren teilen. Dazu gehört zum Beispiel das Interesse auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind also konzeptionell gesehen keine Menschenrechte, sondern fundamentale Grundrechte für Tiere – menschliche wie auch nichtmenschliche.

Dort, wo Tiere und Menschen ähnliche Interessen haben, soll man die Interessen der Tiere nicht willkürlich ignorieren oder als minderwertig betrachten.

Und die praktische Seite?

In praktischer Hinsicht ist die Trennung von Menschen- und Tierrechten nicht zweckdienlich. Denn dadurch separiert man den Menschen einmal mehr von der Natur. Diese Trennung von der Natur sowie die Erhöhung des Menschen über die Natur haben bekanntlich negative Folgen. Man denke an den Klimawandel oder an Pandemien, die durch den zerstörerischen Zugriff des Menschen auf die Natur mitverursacht worden sind. Diese negativen Folgen bedrohen wiederum unsere Grundrechte; sie wurden während der Pandemie massiv eingeschränkt. Daher ergibt es Sinn, Menschen- und Tierrechte nicht isoliert zu betrachten, sondern als voneinander abhängig und als zutiefst miteinander verflochten.

Porträt der Juristin Saskia Stucki
Juristin Saskia Stucki: „Es wird sich erst in der Zukunft zeigen, welche Tiere Rechte haben können.“

Welche Rechte sollen denn nichtmenschliche Tiere erhalten?

In erster Linie denke ich an das Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf Bewegungsfreiheit oder auch auf eine Form von Würde. Ebenso gehört dazu die Freiheit von Folter und inhumaner Behandlung. Weiter kann man auch an ein Recht gegen Diskriminierung oder eine Form von Rechtsgleichheit denken, wobei beides aber nicht zu Gleichmacherei führen muss. Menschen und Tiere wären nicht in allen Aspekten gleichgestellt. Aber dort, wo Tiere und Menschen ähnliche Interessen haben, soll man die Interessen der Tiere nicht willkürlich ignorieren oder als minderwertig betrachten.

Unter Umständen können auch Rechte auf Familie und Privatheit relevant sein, etwa in der Kuhhaltung, in der die Kälber den Muttertieren kurz nach der Geburt weggenommen werden. Und dann gehören auch prozedurale Rechte dazu, also etwa ein Recht auf Zugang zum Gericht im Fall einer Rechtsverletzung und ein Recht auf Rechtspersönlichkeit, damit das nichtmenschliche Tier im Rechtssystem als Subjekt und nicht als Objekt wahrgenommen wird.

Ein Recht auf Habitat für Wildtiere

Gibt es auch solche Rechte, die Tieren zugutekommen sollen, Menschen aber nicht?

Grundsätzlich ja. Genauso wie es Menschenrechte gibt, die für Tiere nicht relevant sind, kann man sich auch Tierrechte vorstellen, die für Menschen keine Bedeutung haben. Bei Wildtieren denke ich an ein Recht, im eigenen Habitat artgemäss leben zu können. Im Fall von Haustieren wiederum wäre ein Recht gegen Qualzüchtungen denkbar. Das würde zum Beispiel die Zucht von Möpsen verunmöglichen, die kaum mehr atmen können.

Nochmals ganz grundsätzlich: Es gibt doch einen fundamentalen Unterschied zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren. Es sind Menschen, die sich über Rechte den Kopf zerbrechen. Tiere kümmern sich nicht darum.

Es ist unbestritten, dass es einen Unterschied zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren gibt im Hinblick auf ihre intellektuellen und geistigen Kapazitäten. Aber auch nicht alle Menschen sind vernunftfähig, und dieser Umstand tut ihrem Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit keinen Abbruch. Das heisst: Die Vernunftfähigkeit ist für diese fundamentalen Rechte nicht relevant. Es geht hier vielmehr um die Leidensfähigkeit.

Und wir unterscheiden auch zwischen denen, die Recht machen, und denen, auf die das Recht angewandt wird. Es gibt viele Menschen, die nicht in den politischen Prozess eingebunden sind, etwa weil sie noch zu jung, geistig stark behindert sind oder einer unterprivilegierten Gruppe angehören. Dennoch gelten die Grundrechte auch für diese Gruppen. Und so ist es auch mit den Rechten für nichtmenschliche Tiere. Auch wenn sie diese Rechte nicht selbst formuliert haben, so können sie sie dennoch beanspruchen.

Alle Menschen haben Menschenrechte. Sollen auch alle Tiere Tierrechte haben in Ihrem umfassenden Sinne?

Die mehrheitliche Meinung lautet: In erster Linie sollen empfindungsfähige Tiere Rechte haben. Aber das ist willkürlich. Wir müssen hier eine wissenschaftliche und gesellschaftliche Offenheit bewahren. Es gibt ja bereits Hinweise, dass auch Pflanzen eine Form von Empfindungsfähigkeit oder Bewusstsein haben könnten. Es wird sich also erst in der Zukunft zeigen, welche Tiere Rechte haben können. Betrachtet man die Geschichte, so war das auch bei den Menschenrechten so. Zu Beginn hatten längst nicht alle Menschen alle Menschenrechte. Zunächst waren diese auf privilegierte Gruppen wie etwa wohlhabende Männer beschränkt. Über die Jahrhunderte wurde dann der Kreis der Träger von Menschenrechten immer grösser.

Das Tier als reiner Nutzgegenstand ist die Antithese von Eigenwert und Eigenrecht.

Was wären die Konsequenzen für die Tierhaltung, wenn Tiere Rechte hätten?

Wenn man Tierrechte wirklich ernst nimmt, wird dies ein Ende für alle Arten von Nutzungen bedeuten, in denen Tiere übermässig und gewalttätig instrumentalisiert sowie getötet werden. Der Zugriff auf einen Tierkörper, der dem Tier keinerlei eigene Personalität zugesteht und es nicht als Wesen mit eigener Autonomie betrachtet, ist mit Tierrechten nicht vereinbar. Das Tier als reiner Nutzgegenstand, der Fleisch, Milch und Eier liefert, ist die Antithese von Eigenwert und Eigenrecht.

Es gäbe allerdings einen Graubereich: eine Form von Tiernutzung, bei der sich Tier und Mensch in einem symbiotischen Verhältnis befinden. Hier würde das Tier weder übermässig in seiner Integrität beeinträchtigt noch übermässig instrumentalisiert. Das wäre zum Beispiel möglich bei der Gewinnung von Honig, Eiern und unter Umständen auch von Milch. Im Gegenzug zur Nutzung wird das Tier versorgt, seine existenzielle Sicherheit ist garantiert und es wird nicht geschlachtet, wenn es keinen Nutzen mehr bringt. Auch Therapiehunde gehören in diese Kategorie eines symbiotischen Verhältnisses.

Schwierige Abwägungsfragen beim Umgang mit invasiven Arten

Und was wären die Folgen für den Naturschutz? Ein Beispiel: Auf Inseln versucht man eingeschleppte Nagetiere wie Ratten und Mäuse auszurotten, um bedrohte einheimische Vogelarten zu schützen. Dürften nach ihrem Ansatz Tiere getötet werden, um eine andere, gefährdete Art zu bewahren?

Der Umgang mit invasiven Arten ist der Lackmustest für Tierrechte. Denn hier prallen die individuellen Rechte der Tiere auf das kollektive Existenzrecht von Arten. Ich kann die Frage nicht allgemeingültig beantworten. Man muss den konkreten Fall genau anschauen und wie bei Rechtskonflikten zwischen Menschen eine Balance finden. Grundsätzlich gilt aber, dass man die verhältnismässigste Antwort und den geringstmöglichen Eingriff anstreben muss.

Bezogen auf unseren Fall könnte man allenfalls versuchen, die invasiven Arten umzusiedeln oder ihre Vermehrung zu unterbinden. Es kann aber der Fall eintreten, dass als Ultima Ratio nur bleibt, die Tiere umzubringen. Wenn zum Beispiel ganze Ernten durch Heuschrecken bedroht werden, hat der Mensch ein existenzielles Recht, seine Nahrung zu verteidigen. Aber auch dann muss die Massnahme gegen die Heuschrecken verhältnismässig sein. Man muss darauf achten, dass sie den geringstmöglichen Eingriff darstellt, was heisst: Die Tiere sollen nicht qualvoll ums Leben kommen.

Massive Menschenrechtsverletzungen sind in vielen Ländern an der Tagesordnung. Man denke nur an die schreckliche Situation in der Ukraine, die von Russland angegriffen worden ist. Was nützt der „One Rights“-Ansatz den Menschen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind?

Diesen Menschen nützt er konkret leider nichts. Bedauerlicherweise ist es eine Tatsache, dass es trotz Verbriefung von Menschenrechten zu massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen kommt. In letzter Zeit stellen wir in vielen Teilen der Welt gar einen Rückschritt bei der Durchsetzung von Menschenrechten fest.

Die Diskussion über „One Rights“ ist eine allgemeinere und abstraktere: Ich bin überzeugt, dass Tierrechte der Menschheit sehr viel bringen. Eine Abschaffung der Tiernutzung in der Landwirtschaft hätte erhebliche positive Auswirkungen auf die Bekämpfung des Klimawandels und den Naturschutz. Auch zwischenmenschliche Beziehungen würden davon profitieren. Sozialpsychologisch zeigt sich: Wer Tieren Sympathie entgegenbringt, tut dies auch Menschen gegenüber und umgekehrt.

Die Schweizerin Saskia Stucki ist promovierte Juristin und forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. Neben Tierrechten beschäftigt sie sich auch mit Klima- und Umweltrecht. Ihr neuestes Buch trägt den Titel „One Rights: Human and Animal Rights in the Anthropocene“ und ist 2023 im Springer Verlag erschienen (Open Source).

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