Superspreading: Manche Coronainfizierte stecken eine große Zahl von Menschen an

Das Phänomen ist zentral dafür, die Pandemie zu verstehen und zu bekämpfen. Von Kai Kupferschmidt

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Das Bild zeigt den Firmensitz der Fleischfirma Tönnies im Landkreis Gütersloh, wo es zu einem Massenausbruch des Coronavirus gekommen ist. Auf dem Dach eines Fabrikgebäudes ist eine Leuchtschrift mit einer Kuh und einem Schwein installiert.

Der Vater der Braut kam vier Tage vor der Hochzeit aus Spanien in Jordanien an. Zwei Tage später bekam er Husten und Fieber, doch die Vermählung seiner Tochter wollte er sich nicht entgehen lassen. Erst nach der Hochzeit suchte der 58-Jährige schließlich eine Notaufnahme auf. Die Diagnose: Covid-19. In den folgenden Tagen erkrankten immer mehr Hochzeitsgäste. Eine Studie zeichnet die Folgen minutiös nach: Insgesamt 76 der rund 360 Gäste haben sich demnach mit dem Coronavirus infiziert, sie steckten zehn weitere Personen an, eine Frau starb.

Es ist nur eine tragische Episode in einer Pandemie, die sich aus zahllosen ähnlichen Vorfällen zusammensetzt. Während einer Chorprobe in den USA infiziert ein Teilnehmer 53 andere. Drei müssen ins Krankenhaus, zwei von ihnen sterben. In einem Gottesdienst in Arkansas stecken sich 35 von 92 Teilnehmerinnen und Teilnehmern an, drei von ihnen sterben. Eine Datenbank, die die Forscherin Gwenan Knight von der London School of Hygiene and Tropical Medicine mit Kollegen zusammengestellt hat, listet Hunderte weiterer solcher Superverbreitungsereignisse oder Superspreading Events auf. Die Konzentration von Fällen im Schlachtbetrieb der Firma Tönnies im Kreis Gütersloh – und der vermutete Zusammenhang mit einem Gottesdienst – ist ein aktuelles Beispiel für ein solches Ereignis.

Bei jeder ansteckenden Krankheit kann es zu solchen gehäuften Infektionen kommen, die man Cluster nennt. Doch es wird immer klarer, dass bei der Ausbreitung des neuen Coronavirus Ereignisse, bei denen einzelne Personen sehr viele Menschen infizieren, eine entscheidende Rolle spielen – und darum auch bei ihrer Bekämpfung.

Die Reproduktionszahl R ist inzwischen vielen Menschen ein Begriff. Für Sars-CoV-2 liegt sie bei ungefähr drei. Das bedeutet, dass ohne aktive Gegenmaßnahmen ein Infizierter im Schnitt drei andere Menschen infiziert. Aber das ist eben ein Durchschnitt. In Wirklichkeit infizieren manche Menschen viele weitere und viele Menschen infizieren kaum jemanden. Tatsächlich geben die meisten Infizierten das Coronavirus wohl gar nicht weiter. Das gelte für die meisten Infektionskrankheiten, sagt der Forscher Jamie Lloyd-Smith von der University of California in Los Angeles. „Das ist immer das gleiche Muster“, sagt er. „Die häufigste Zahl ist null. Die meisten Menschen stecken niemand anderen an.“

Coronainfektionen treten in Clustern auf

Eine Seuche ist eben kein Uhrwerk, das einem gleichmäßigen Takt gehorcht. Sie ähnelt eher einem Busfahrplan, der verspricht, dass alle zehn Minuten ein Bus kommt, und dann wartet man 30 Minuten und es kommen drei auf einmal. Wie stark diese Unregelmäßigkeit ist – Forscherinnen sprechen von Überdispersion – unterscheidet sich von Erreger zu Erreger. Wissenschaftler haben auch dafür einen Buchstaben: den Dispersionsfaktor k. Ist k sehr groß, gibt es kaum Streuung. Jede und jeder Infizierte steckt dann ähnlich viele Menschen an. Die Busse kommen also in unserem Beispiel regelmäßig. Je kleiner aber k wird, desto mehr Ansteckungen gehen auf einen kleinen Teil der Infizierten zurück: kleines k, große Cluster. Und Coronaviren wie Sars-CoV-2 haben einen besonders niedrigen k-Wert. Sie sind Cluster-Champions.

Das Bild zeigt zwei Coronaviren in einer extremen Vergrößerung. Sie sind rundlich und haben dornenartige Fortsätze, die ihnen beim Eindringen in menschliche Zellen helfen.
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