Tunesiens Revolutionsopfer kämpfen um ihre Anerkennung

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
7 Minuten
Sit-In von Verletzten und Märtyrerfamilien vor dem Regierungssitz in Tunis

Zehn Jahre nach dem politischen Umbruch warten jene, die damals verletzt wurden, ebenso wie Angehörige von Todesopfern aus dieser Zeit immer noch auf Antworten: Was ist genau passiert, wer trägt die Verantwortung und wer gilt offiziell als Opfer? Seit mehr als zwei Wochen ist eine Gruppe von ihnen im Hungerstreik.

Zehn Jahre ist es her, dass Walid Kassraoui seinen rechten Unterschenkel verloren hat, zerstört von einem Splittergeschoss der Sicherheitskräfte. Doch wer das abgeschossen hat, weiß er bis heute nicht. Als Opfer der Revolution ist der junge Mann bis heute vom tunesischen Staat nicht anerkannt.

Am 13. Januar 2010, einen Tag vor der Flucht von Diktator Zine El Abidine Ben Ali, protestierte Kassraoui wie so viele andere vor allem junge Tunesierïnnen auch gegen den Machthaber. Als er in seinem Stadtteil, einem ärmlichen Vorort der Hauptstadt Tunis, vor der Polizei flüchten wollte, traf ihn ein Schuss. Er wachte erst vier Tage später im Krankenhaus wieder auf. Als ihm die Ärzte erzählten, Ben Ali sei weg hielt er das erstmal für einen schlechten Scherz oder den halluzinogenen Effekt der Schmerzmittel.

Doch der Langzeit-Machthaber hatte das Land tatsächlich für immer verlassen und Walid Kassraoui war voller Hoffnung, dass sich die Situation bald bessern würde. Vor vier Jahren machte er ein Praktikum bei der tunesischen Wahrheitskommission IVD, die die Aufarbeitung der tunesischen Geschichte organisieren sollte. Für Kassraoui war es das erste Mal, dass er seit den Aufständen wieder einer geregelten Tätigkeit nachging, denn seinen früheren Job in einer Wäscherei konnte er wegen der Verletzung nicht mehr ausüben. Der IVD verdankte er nicht nur eine vorläufige Prothese, so dass der ehemalige Sportler immerhin wieder fast normal laufen kann, sondern auch, dass sein Fall inzwischen vor einem der Sondergerichtshöfe der Übergangsjustiz verhandelt wird, zusammen mit anderen Opfern der Revolution aus seinem Viertel.

Die Wahrheit ist wichtiger als Entschädigung

Inzwischen ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung der Resignation gewichen. Zehn Jahre nach dem Umbruch warten er und hunderte andere Verletzte und Angehörige von Toten aus der unmittelbaren Revolutionszeit immer noch darauf, vom Staat anerkannt zu werden. Operationen, notwendige medizinische Behandlungen oder psychologische Unterstützung müssen viele aus eigener Tasche zahlen. Nicht alle können wegen ihrer Einschränkungen noch arbeiten gehen. Sie fordern, dass Tunesien endlich die Liste der Opfer der Revolution veröffentlicht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. 2012 zählten die Behörden vorläufig 338 Tote und 2147 Verletzte, 2019 standen auf einer Liste des tunesischen Menschenrechtskomitees auf einmal nur noch 129 Tote und 634 Verletzte.

Die wichtigste Forderung der Verletzten, Angehörigen von Opfern und Menschenrechtsaktivist*innen ist daher, dass der tunesische Staat endgültig eine offizielle Liste von Opfern im Amtsblatt veröffentlicht. Der Regierungschef hat dies anlässlich des zehnten Jahrestags für die kommenden Wochen versprochen, doch noch ist die endgültige Liste nicht öffentlich und offiziell verfügbar. „Das Land hat zum ersten Mal die Möglichkeit, seine Geschichte für die Ewigkeit aufzuschreiben“, so Adel Benghadi, einer der Aktivisten. „Wir müssen endlich davon wegkommen, dass jeder Herrscher die Geschichte auslöscht und seine eigene Version neuschreibt.“ Dass die Namen festgehalten werden, sei viel wichtiger als etwaige Entschädigungszahlungen.

Ein junger Mann und eine alte Dame sitzen mit Protestplakaten vor dem Regierungssitz in Tunis, Tunesien.
Walid Kassraoui hat vor zehn Jahren bei den Protesten einen Unterschenkel verloren.
Junger Mann sitzt auf Treppe vor dem Regierungssitz in Tunis. In der Hand hält er ein Plakat mit dem Slogan „Keine Versöhnung ohne vorherige Rechenschaft“
„Keine Versöhnung ohne vorherige Rechenschaft“ lautet ein Slogan der Revolutionsopfer