Deutschland lässt Patienten allein

Eine europaweite Initiative will eine Million Genome sequenzieren. Deutschland ist nicht dabei.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
9 Minuten
Symbolbild  zeigt mehrere blau eingefärbte DNA-Stränge

Stellen wir uns einmal vor, Ihr Leben sei durch eine Krankheit geprägt. Sie wissen, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt, Sie wissen aber nicht, was genau es ist. Wie viele andere Menschen mit seltenen Erkrankungen leiden auch Sie unter dem Fehlen einer Diagnose. Im Jahr 2022 könnte die Suche nach der Ursache Ihrer Krankheit viel einfacher sein. Eine europäische Initiative will bis dahin mindestens eine Million Genome vollständig sequenzieren. Deutschland gehört nicht dazu. Wissenschaftler schlagen daher Alarm – und Patienten mit seltenen Krankheiten fühlen sich um eine Chance betrogen. Ein Zukunftsszenario.


Heute ist unsere Gruppe wieder größer geworden. Mit Jack, Charlene und Sophia aus Neuseeland sind wir jetzt 35. Die meisten von uns leben in den USA und in Australien, ich bin der einzige Deutsche. Wir leiden alle an der gleichen Krankheit; unser Stoffwechsel funktioniert nicht richtig. Unsere Krankheit ist so selten, sie hat noch nicht einmal einen Namen. Wir alle tragen den gleichen Gendefekt. Ich habe Schwierigkeiten beim Bewegen, manchmal sogar beim Atmen und bin körperlich kaum belastbar.

Der Sportunterricht in der Schule war für mich die Hölle. Mein Leben lang wurde ich gehänselt. Ich solle mir mehr Mühe geben und nicht so faul sein, sagten die Lehrer. Ich habe mir ständig Mühe gegeben, ich wollte mich mehr bewegen, aber ich konnte es einfach nicht. Die Muskeln verkrampfen bei mir sofort, selbst der Trainer in dem teuren Fitnessstudio hat inzwischen aufgegeben. Ein Jahr lang habe ich dort dreimal in der Woche trainiert. Ohne Erfolg. Die verhöhnenden Blicke der anderen Hobby-Sportler, die einfach so ihre Übungen machen konnten, haben mir mehr weh getan als die Schmerzen in meinen Gliedern.

Die Ärzte sind ratlos. Sie können mir nicht helfen. 22 Jahre habe ich auf meine Diagnose gewartet. 22 Jahre, in denen ich meine Krankheit tapfer ertragen habe (nicht immer, ich will die Weinkrämpfe nicht verschweigen). Ich gehe arbeiten, wie die anderen Menschen auch. Das klappt trotz der Beeinträchtigungen ganz gut, ich habe einen Schreibtischjob, der zu mir passt.

Die Diagnose für meine ständigen Schmerzen und das körperliche Unvermögen habe ich erst bekommen, nachdem ich einen umfassenden Gentest gemacht habe. Ein Labor in den USA hat mein komplettes Erbgut analysiert. Ich habe eine Mutation in einem Stück der DNA, die bisher nicht besonders untersucht wurde. Wir 35 haben diese Mutation, diese Veränderung im Erbgut hat uns zusammengeführt. Die Gruppe macht mir Hoffnung. Jeff, der älteste von uns, ist schon 72 Jahre alt. Er hat mir die Angst genommen, dass ich wegen meiner Krankheit früh sterben muss. Patricia macht eine Sauerstofftherapie, jede Woche berichtet sie von ihren Erfahrungen, vielleicht versuche ich diese Therapie auch.

Unsere Selbsthilfegruppe ist weit verteilt über den Globus. Die meisten von uns leben in Ländern, in denen die genetische Untersuchung selbstverständlich ist, wenn Patienten mehrere Jahre lang ohne Diagnose bleiben. Deutschland verweigert den Betroffenen diese Dienstleistung. Tausende Menschen werden mit ihrer Krankheit alleingelassen. Ich habe das Glück, dass ich genug Geld verdiene und die DNA-Analyse in den USA machen konnte. Für die internationale Datenbank musste ich viele, auch sehr private Fragen beantworten. Ich habe die Daten freiwillig zur Verfügung gestellt und auch meine Erektionsstörungen nicht verschwiegen. Der Rechner hat in der Datenbank meine Symptome mit den Angaben anderer Patienten und den Ergebnissen der Entzifferung des Genoms verglichen. Dadurch haben die Genetiker die Ursache meiner Erkrankung gefunden. Es ist diese Mutation, die alle in unserer Gruppe in unserem Erbgut tragen. Sie entstand zufällig. Ich hätte diese Diagnose gern meiner Mutter erklärt, aber sie ist inzwischen verstorben. Meine Mutter hat die Schuld für meine Erkrankung bei sich gesucht. Sie hat sich zeitlebens Vorwürfe gemacht, dass sie während der Schwangerschaft etwas falsch gemacht haben könnte.

Durch die Datenbank entstand auch der Kontakt zu den anderen Patienten. Jetzt weiß ich, dass es Menschen gibt, die mein Schicksal teilen. Wenn wir im Internet chatten, sprechen wir über unsere Probleme. Das tut mir gut, denn ich fühlte mich lange Zeit von der Welt nicht verstanden.