Projekt Waterproof

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

Wenn wir mal für einen Moment und zur Beruhigung unserer Nerven annehmen, dass die Große Koalition nun wirklich kommt (was wahrhaftig nicht meine Traumkonstellation ist, aber wie die Dinge halt nunmal liegen…): Ich hätte da noch einen Vorschlag für die Koalitionsverhandlungen. Es ist ja nicht so, dass die Sondierungsgespräche außerhalb der Europapolitik allzu viel ergeben hätten, was einen dieses Regierungsbündnis als dringend notwendig für Deutschlands Zukunft empfinden ließe. Ohne meinen Einfluss überschätzen zu wollen – vielleicht können in Koalitionär_innen in spe eine Anregung gebrauchen, wie sie es befördern könnten, dass die 19. Legislaturperiode als insgesamt positive Episode in die Geschichte eingeht.

Der Vorschlag wäre dieser: Setzt eine Expert_innenkommission ein, die ermittelt, wie das Grundgesetz wasserdichter gemacht werden kann, um der Gefahr des autoritären Legalismus besser standhalten zu können. In Polen, in Ungarn und anderenorts gibt es jede Menge handfester Erfahrungsbeispiele, was einer autoritären Parlamentsmehrheit alles einfallen kann, um die Institutionen des liberalen demokratischen Verfassungsstaats zu zombifizieren und gegen ihren eigenen Daseinszweck in Stellung zu bringen. Nehmt diese Erfahrungsbeispiele und fragt, ob und wie die gleiche Absicht im deutschen Rechts- und Verfassungsrahmen umgesetzt werden könnte. Und wo die Antwort lautet: ja, verdammt, das ginge wohl – dort überlegt, ob man das durch gezielte Änderungen im Verfassungswortlaut nicht zumindest etwas erschweren kann.

In meinem letzten Editorial habe ich einige Punkte zusammengetragen, die das Bundesverfassungsgericht betreffen. Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Themen, die uns die Erfahrung in Polen, Ungarn usw. zu bedenken zwingt. Wie ist es um die Richterernennung bestellt? Wie sturmfest sind Medienaufsicht und öffentlich-rechtlicher Rundfunk? Was könnte man mit dem Wahlrecht alles für Missbrauch treiben? Gut möglich, dass man bei der Überprüfung dieser Themenfelder auch zum Ergebnis gelangt, dass das Optimum an verfassungsrechtlichem Schutz ohnehin bereits erreicht ist – aber das von vornherein für eine ausgemachte Sache zu halten, scheint mir naiv. Es geht auch gar nicht darum, jetzt alles Mögliche en detail ins Grundgesetz hineinzuschreiben. Dass Überkonstitutionalisierung auch schädlich sein und zu rechtlicher und politischer Versteinerung führen kann, ist ein valides Argument und wäre in der Abwägung mit dem Aspekt der Gefahrenabwehr in Rechnung zu stellen.

Was die Verfassung regelt und was sie dem einfachen Gesetzgeber überlässt, ist kodifizierte Erfahrung – 1949 gewonnen vor allem aus dem Schicksal der Weimarer Verfassung. Heute ist es das Schicksal der polnischen, ungarischen, russischen, südafrikanischen, indischen Verfassung, das dem deutschen Verfassungsgeber als Erfahrungsschatz zur Verfügung steht. Ich sehe keinen Grund, etwas anderes von ihm zu erwarten, als dass er davon Gebrauch macht. Es handelt sich nicht um hypothetische Schreckensszenarien, sondern um ganz reale Vorgänge.

Ein solches Projekt – nennen wir es „Projekt Waterproof“ – bräuchte eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Eine solche hat die GroKo IV, anders als die vorangegangene GroKo III, im Bundestag nicht mehr. Aber das ist gar kein Schaden, im Gegenteil. Über Verfassungsänderungen sollte sowieso nach Möglichkeit nicht entlang der Regierungs-Oppositions-Differenz entschieden werden, egal wie groß die Mehrheit ist, über das die Regierungskoalition verfügt. Das ist der Zweck des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit. Die Große Koalition, die ja so groß gar nicht mehr ist, sollte sich in beiden Kammern eine fraktionsübergreifende Mehrheit suchen, die auch die AfD dazu nötigt, Stellung zu beziehen. Auf deren Positionierung wäre ich doch durchaus gespannt.

Am Donnerstag hat Susanne Baer, Richterin am Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts und Professorin an der Humboldt-Universität, in Berlin eine große Rede zu Europa gehalten. Der Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn, Polen, Rumänien, generell die grassierende Institutionenverachtung in so vielen Teilen der Welt sei kein „Problem der anderen“, sagte sie, sondern ein „Angriff auf unsere rechtliche Ordnung“, auf „unseren Menschenrechtsschutz“. Natürlich komme es auf den spezifischen Kontext an, „wer Rechtsvergleichung betreibt, weiß das“. Aber die Unabhängigkeit der Justiz sei eine „rote Linie“, jenseits derer die „unbegrenzte Herrschaft eines essenziell gefassten, Wir’ droht“. Und dass sich diese Drohung realisiert, „geht oft erschreckend schnell“.

Auf meine Frage, was sie vor dem Hintergrund von der Idee eines „Projekts Waterproof“ halten würde, fiel ihre Antwort erst einmal zurückhaltend aus. Darüber habe sie noch nicht nachgedacht, sagte sie. In der Bundesrepublik sei es aber gute Tradition, nicht allzu schnell an die Verfassung dranzugehen. Im Augenblick sehe sie noch keine akute Notwendigkeit, angesichts einer soliden Mehrheit, die einstweilen jedem Manipulationsversuch entgegenstehe.

Mir scheint, dass aus diesem Befund eher das Gegenteil folgt. Richtig, es gibt eine solche solide Mehrheit – noch. Die gilt es, zu nutzen. Der liberale, demokratische Verfassungsstaat muss ein Immunsystem aufbauen, solange er noch gesund genug dazu ist. Oder, um die Metaphorik zu wechseln: Jetzt, bei einigermaßen blauem Himmel über Deutschland, ist der Zeitpunkt, die Stellen zu identifizieren, an denen es durchs Dach regnet, wenn das Wetter schlecht wird. Und sie zu flicken, solange die Witterungsverhältnisse es noch zulassen. Denn wenn der Sturm da ist, dann ist es zu spät.

Tugend, Sex und Reichtum

ADAM BODNAR ist Beauftragter für Bürgerrechte der Republik Polen, ein Amt mit Verfassungsrang, und einer der letzten, die den Kampf um die Rechtsstaatlichkeit in Polen aus der Position eines offiziellen Staatsvertreters führen – ein Mann, dessen Mut und Hartnäckigkeit ich enorm bewundere. Er erzählt die Geschichte von Stanisław Zabłocki, einem Richter am Obersten Gerichtshof, der durch die so genannte „Justizreform“ aus seinem Amt entfernt werden soll. Die Tugend richterlicher Unabhängigkeit, verkörpert durch Richter Zabłocki, werde weiterleben, so Bodnars Hoffnung – im Gedächtnis freier Menschen und wahrhaftiger Richterinnen und Richter in Polen.

In der Türkei zeigt sich, dass nach einer Säuberung der Justiz selbst ein einigermaßen standhaft gebliebenes Verfassungsgericht an ganz unerwartete Grenzen stößt: Selbst wenn das Verfassungsgericht noch den Mut aufbringt, sich zugunsten von Grundrechtsträgern der Staatsmacht in den Weg zu stellen – die Instanzrichter verweigern einfach den Gehorsam. BASAK CALI zeichnet diesen jähen Gegensatz zwischen Legalismus und Konstitutionalismus im Detail nach, und TOLGA SIRIN zeigt, wie der Fall sich in die türkische Verfassungsdoktrin einfügt und wie der Konflikt zwischen Verfassungs- und Strafjustiz enden könnte.

In Indien scheint sich die Position des Obersten Gerichtshof in Sachen Strafbarkeit von gleichgeschlechtlichem Sex zu lockern, wie GOVIND MANOHARAN berichtet: 2013 hatte der Oberste Gerichtshof dem Versuch unterer Gerichte, diese aus der Kolonialzeit stammende Strafnorm zu überwinden, eine harte Abfuhr erteilt. Aber jetzt scheint ihm ein neues Verfahren Anlass zu geben, darüber noch einmal nachzudenken.

In Deutschland ist nach einer aktuellen DIW-Studie der Reichtum so ungleich verteilt wie nie zuvor, was aber verfassungsrechtlich schwer zu problematisieren ist, solange das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz nur zum Schutz der Freiheit da ist. ALEXANDER THIELE fordert, dieses Verständnis zu überdenken und auch den Aspekt der Gleichheit in die Auslegung des Sozialstaatsprinzips einzubeziehen.

In der Europäischen Union hat der EuGH jüngst der Niederlassungsfreiheit von Unternehmen erneut einen extrem liberalen Anstrich verpasst und ihnen das Recht zum „Regime Shopping“ bescheinigt, um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer_innen im Aufsichtsrat loszuwerden. MARTIN HÖPNER kritisiert diese Rechtsprechung scharf.

Ebenfalls in Deutschland ist eines der umstrittensten Themen derzeit der Familiennachzug für Syrer_innen und andere Geflüchtete mit so genanntem subsidiären Schutz. Dass dieser Streit völkerrechtlich nicht im luftleeren Raum stattfindet, zeigt BENEDIKT BEHLERT.

Anderswo

ELSPETH GUILD und STEVE PEERS berichten von einer neuen EuGH-Entscheidung zu der Frage, wann ein Drittstaatsangehöriger mit Aufenthaltserlaubnis in einem EU-Mitgliedsstaat in einem anderen abgeschoben werden kann.

JEAN PHILIPPE DEROSIER gibt einen Überblick über die in 2018 anstehenden institutionellen Reformen in Frankreich und verspricht ein Jahr voller „leidenschaftlicher verfassungsrechtlicher Diskussionen“.

MIGUEL ÁNGEL PRESNO LINERA erklärt unter der Überschrift „Immunität heißt nicht Straflosigkeit“, wie die in der spanischen Verfassung garantierte parlamentarische Immunität mit der Strafverfolgung katalanischer Abgeordneter aus dem Sezessionistenlager zusammengeht.

Auf I-CONnect gibt es derzeit ein äußerst spannendes kleines Symposium zu der Krise um das Verfassungsgericht der Slowakei, mit Beiträgen von SIMON DRUGDA und MAREK DOMIN; weitere Beiträge von KAMIL BARANÍK und TOMÁS LALÍK folgen. Wir erwarten zum gleichen Thema in der kommenden Woche einen Beitrag von MICHAL OVÁDEK.

MEG RUSSELL wagt zehn Vorhersagen, wie das Oberhaus in Großbritannien sich zu dem Gesetz, das den Brexit regelt, verhalten wird.

PIERRE DE VOS hält nicht allzu viel von der Ankündigung von Präsident Jacob Zuma, in Südafrika eine Kommission einzurichten, um die grassierende Korruption (, state capture’) im Land zu untersuchen.

LEONID SIROTA kritisiert die Entscheidung der Regierung in Kanada, Programme von NGOs für Sommer-Jobs nur noch bei erklärter Treue u.a. zu Frauenrechten in punkto Abtreibung zu fördern.

In der nächsten Woche wird uns BIANCA SELEJAN GUTAN auf den neuesten Stand in Sachen Justiz in Rumänien bringen. Dort ist bekanntlich die bis ins Mark korrupte postsozialistische Regierungspartei PDS dabei, die Justiz als hinderlichen Faktor beim Ausplündern des Landes zu neutralisieren – ein Vorgang, der kein bisschen weniger alarmierend ist als der in Polen und Ungarn. Dass die europäische S&D-Partei die rumänischen Genossen genauso deckt wie die Europäische Volkspartei ihren Liebling Viktor Orbán, gehört zu den vielen bitteren Aspekten dieses aktuellen Kapitels europäischer Verfassungsgeschichte.

Aber lassen wir uns nicht entmutigen. Ihnen eine gute Woche!

Ihr Max Steinbeis

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