Wattenmeer: Feiert die Vielflieger!

Die Zugvogeltage lockten Zehntausende Naturfreunde an und warben für den Schutz auf der gesamten Reiseroute

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
12 Minuten
Ein Schwarm Sanderlinge fliegt über eine Wattfläche im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.

Neulich habe ich endlich mal wieder einen richtigen Schwarm gesehen. Einen von der Sorte, die sich wie ein breites Wolkenband über den Himmel ziehen und dann auf die Landschaft niedergehen wie ein Regenschauer.

Es waren Alpenstrandläufer, an die tausend, die von der auflaufenden Flut an der Küste aufgescheucht worden waren und sich danach auf einer noch trockenen Wattfläche niederließen. Da saßen bereits einige hundert Brandgänse, über mehrere Quadratkilometer verteilt, die in aller Ruhe den Schlick nach Wattschnecken durchsiebten, Seite an Seite mit Säbelschnäblern und Rotschenkeln. Zwischendurch flogen auch noch zwei Wanderfalken und eine Kornweihe durchs Bild.

Ich war an die Nordsee gefahren, anlässlich der Zugvogeltage, zu denen der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer jedes Jahr im Oktober einlädt – in diesem Jahr zum zehnten Mal. Die Zugvogeltage sind eine dieser Veranstaltungen, für die man sich als Besucherin eigentlich selbst in einen Vogel verwandeln müsste, oder besser noch gleich in einen Schwarm. Denn das Programm wies in diesem Jahr über 250 Events auf, die sich, im Laufe einer Woche, über die gesamte ostfriesische Küste einschließlich der Inseln verteilten. Neben Exkursionen und Vorträgen gab es unter anderem Vogelmalkurse, Vogelbastelworkshops und „Zugfolkkonzerte“ mit Musik aus den Ländern, die entlang der Vogelzugrouten liegen.

Ein Schwarm Alpenstrandläufer im Flug.
Die knapp starengroßen Alpenstrandläufer sind die häufigsten Zugvögel im Wattenmeer. Oft formieren sie sich zu großen Schwärmen, die mal hell, mal dunkel wirken – je nach dem, ob die Vögel ihre Ober- oder ihre Unterseite zeigen.

Man konnte das alles aber auch verpassen und einfach nur ausgiebig aufs Watt gucken, etwa an den im Programm empfohlenen Beobachtungshotspots. Genau das habe ich getan. Und nebenher mein immer noch lückenhaftes Wissen über Wattenmeer und Vogelzug etwas aufgefüllt.

Dass der Küstenstreifen zwischen Niederlanden und Norddänemark ein bedeutender Zugvogel-Rastplatz ist, außerdem ein Bruthabitat für viele heimische Arten – soviel immerhin wusste ich schon vorher. Aber erst im Gespräch mit Experten des Nationalparks ist mir so richtig klar geworden, wie viele internationale Flugrouten sich im Wattenmeer kreuzen, wie eng seine ökologische Vernetzung mit Tausende Kilometer entfernten Lebensräumen ist. Und wie viele Millionen Vögel auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, dass Watt, Meer und die daran angrenzenden Habitate vor und hinter dem Deich erhalten und weiterhin geschützt werden.

Auf einem winterlich kahlen Busch haben sich Finken fünf verschiedener Arten versammelt.
Auf einem winterlich kahlen Busch haben sich Finken drei verschiedener Arten versammelt. Singvögel ziehen vor allem nachts über die Nordsee und rasten tagsüber auf den Inseln und an den Küsten
Eine Schneeammer streckt sich nach einem Graßhalm der aus dem Schnee ragt.
Man muss nicht unbedingt ins nordskandinavische Fjäll fahren, um Schneeammern zu beobachten: Im Winter sind sie auch auf den Salzwiesen am Watt anzutreffen

Wenn große, wolkenartige Schwärme über dem Watt aufsteigen, handelt es sich jedoch fast immer um die nach Individuen- und Artenzahlen größte Gruppe unter den Nationalpark-Gästen: Watvögel, vertreten mit knapp 30 Spezies von Austernfischer bis Zwergstrandläufer. Unter ihnen ist auch der „Leitvogel“ der diesjährigen Zugvogeltage: die Pfuhlschnepfe. Kaum eine Art demonstriert so eindrücklich, welche Bedeutung das Wattenmeer als meistbesuchter Vogelrastplatz zwischen Nordostkanada, Nordsibirien und westafrikanischer Küste hat.

Der Ironman unter den Zugvögeln

Ich habe bei meinem Besuch leider nur eine einzige Pfuhlschnepfe gesehen, und auch die war womöglich „nur“ ein Brachvogel, denn sie saß zu weit weg – es war gerade Ebbe, als ich über den Deich schaute, und die meisten Vögel hatten sich an den Kilometer entfernten Wassersaum des Watts verzogen. Viel mehr als die eine Schnepfe hätte ich aber ohnehin kaum zu sehen bekommen, denn die meisten sind Ende Oktober bereits abgezogen. Nur ein Teil der Population – der skandinavische – überwintert und mausert sich im westlichen, niederländischen Teil des Wattenmeers, wo es etwa drei Grad wärmer ist als an der deutschen Nordseeküste. Der andere Teil aber, der in der sibirischen Taiga brütet, fliegt Richtung Westafrika.

Wohin genau, nach welchem Zeitplan und auf welcher Strecke – das war lange Zeit nur ungefähr bekannt, erzählte mir Peter Südbeck, der Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Vor einigen Jahren aber wurden erstmals einige Vögel mit Satellitensendern bestückt, um ihr Zugverhalten genauer zu verfolgen. Die Erkenntnisse waren verblüffend, aber auch beunruhigend.

Eine Pfuhlschnepfe steht mit einem Bein im Schlick, das andere Bein ist angewinkelt.
Die Pfuhlschnepfe – hier trägt sie ihr Schlichtkleid – erkennt man am leicht aufwärts gebogenen Schnabel. Im Herbst rasten bis zu 60 000 Vögel im Wattenmeer, im Frühjahr, wenn zwei Populationen zeitgleich durchziehen, sind es fast doppelt so viele.

Denn sie zeigten, wie sehr der Flug- und Lebensrhythmus der Pfuhlschnepfe „auf Kante genäht“ ist, wie Südbeck es ausdrückt. Das Überleben, vor allem aber der Bruterfolg des Vogels hängen von der Versorgungslage in seinen Rastgebieten ab. Davon, dass diese nicht nur ausreichend, sondern optimal ist. Denn die (sibirische) Pfuhlschnepfe ist der „Ironman“ unter den Zugvögeln.

Die Auswertung der Senderdaten ergab, dass die Vögel nach ihrem Abflug vom Wattenmeer im Herbst rund 4500 Kilometer nonstop Richtung Südwesten fliegen – vier bis fünf Tage und Nächte, bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 65 Stundenkilometern. Das macht sie zur Ausnahmeerscheinung auch unter den Arten, die lange Strecken ziehen: Die meisten legen unterwegs mehrere Zwischenstopps ein. Viele Singvögel sind sogar kaum als Fernreisende zu erkennen, weil sie sich in Bodennähe von Busch zu Busch „hangeln“.

Eine Karte der Erde auf dem der Zugweg einiger Vogelarten eingezeichnet ist.
Der ostatlantische Zugweg verläuft vom Nordpolarmeer über Westeuropa entlang der gesamten Westküste Afrikas bis nach Namibia

Die Zugstrategie Direktflug spart zwar Zeit, ist aber enorm kräftezehrend. Buchstäblich „auf den letzten Tropfen“ kommt die Pfuhlschnepfe in ihren Winterquartieren an, die vor allem in Mauretanien und Guinea-Bissau liegen. In den fünf bis sechs Monaten, die sie dort in küstennahen Feuchtgebieten verbringt, frisst sie sich das Doppelte ihres Körpergewichts an – für den Frühjahrs-Nonstopflug zurück ans Wattenmeer. Kurz vor dem Abflug baut sie sogar ihren Organismus flugtauglich um: Die Verdauungsorgane werden geschrumpft zugunsten des Flugapparats, der an Kraft und Volumen gewinnt.

Wer lange Strecken fliegen will, muss futtern, futtern, futtern

Während des Flugs werden nicht nur die kompletten Fettreserven, sondern auch Teile des Brust- und Herzmuskels „verbrannt“. Beides müssen die Schnepfen im Wattenmeer wieder aufbauen, was sie tun, indem sie den Großteil ihrer wachen Zeit mit dem Stochern nach Wattwürmern verbringen, ihrer bevorzugten Nahrung. „Vogelzug heißt vor allem: fressen, fressen, fressen!“ sagt Peter Südbeck. Der Druck, das Körpergewicht schnell zu verdoppeln, ist diesmal noch größer als im Winterquartier, denn schon vier bis sechs Wochen nach Ankunft an der Nordsee brechen die Vögel zu ihren Brutgebieten in Sibirien auf – wiederum 4– bis 5000 Kilometer nonstop.

In letzter Zeit gerät der fein austarierte Flugplan der Pfuhlschnepfen, aber auch vieler anderer Langstreckenzieher zusehends aus dem Gleichgewicht – durch den Klimawandel, der die Temperaturen vor allem in höheren Breitengraden stark steigen lässt. Auf der sibirischen Taimyr-Halbinsel etwa setzt die Schneeschmelze 10 bis 15 Tage früher ein als noch vor einigen Jahrzehnten; entsprechend früher schlüpfen die Insekten, von denen sich die frisch geschlüpften Küken in ihren ersten Lebenswochen nähren.

Eine Gruppe von Bergstrandläufern stochert in einem Tümpel nach Ringelwürmern und anderen Kleintieren; die Aufnahme stammt aus einem Naturschutzgebiet an der kalifornischen Küste.
Wenn sie nicht gerade fliegen oder schlafen, fressen sie, um die Fettreserven für den nächsten Flug aufzufüllen. Das gilt für die Watvögel des Wattenmeers ebenso wie für diese Bergstrandläufer, die in einem Naturschutzgebiet an der Küste Kaliforniens rasten

Es gibt Anzeichen dafür, dass zumindest die Pfuhlschnepfen die Zeitverschiebung teilweise ausgleichen, in dem sie vier bis fünf Tage früher aus dem Wattenmeer Richtung Brutgebiet aufbrechen. Das jedenfalls legen Untersuchungen niederländischer Ornithologen nahe. Diese zeigen aber auch, dass der Erfolg dieser Ausgleichsmaßnahme entscheidend vom Futterangebot im Wattenmeer abhängt. In Jahren mit hohem Vorkommen an Wattwürmern steigt der Bruterfolg der Schnepfen, in Jahren mit knapperem Angebot werden deutlich weniger Küken flügge.

Was steckt hinter dem Auf und Ab der Schnepfen-Bestände?

Ob die Pfuhlschnepfen den Wettlauf gegen den Klimawandel langfristig gewinnen, ist fraglich: Zählungen im Wattenmeer zeigen, dass der Bestand der sibirischen Population seit Jahren abnimmt. Die skandinavischen Schnepfen sind dagegen im Aufwind, aus Gründen, die auch die Experten für Vogelzug noch nicht genau benennen können. Was kein Wunder ist: Die Überlebensstrategien von Zugvögeln werden eben von vielen Faktoren beeinflusst, in Lebensräumen, die zum Teil auf verschiedenen Kontinenten liegen und in vielfältiger Wechselbeziehung miteinander stehen. Die Forscher beginnen erst, dieses Beziehungsgeflecht im Detail zu erkunden.

Doch je eingehender sie dies tun, desto mehr sind sie motiviert, es den Vögeln gleich zu tun – und sich ihrerseits zu vernetzen, vor allem mit den Menschen, die in den Gebieten entlang der Vogelzugrouten leben. Denn was bringt es, wenn Zugvögel in ihrem Brutgebiet mühsam geschützt werden, aber in der Zwischenzeit ihre Überwinterungsbiete zerstört werden?

Auf dem Luftbild des Bijagos Archipels, einer Gruppe von 88 großteils unbewohnten Inseln vor der Küste Guinea-Bissaus, sind die ausgedehnten Wattflächen zu erkennen, auf denen die vom Wattenmeer kommenden Zugvögel Station machen.
Der Bijagos-Archipel, eine Gruppe von 88 großteils unbewohnten Inseln vor der Küste Guinea-Bissaus, ist einer der wichtigsten Rastplätze für alle Vögel, die auf dem Ostatlantischen Zugweg unterwegs sind.

Vor drei Jahren schlossen sich die Wattenmeerstaaten Dänemark, Deutschland und Niederlande zur „Wadden Sea Flyway Initiative“ zusammen. Deren Ziel ist es, die Rast- und Nahrungsplätze von Zugvögeln von den Brutgebieten in der Arktis bis zu den entferntesten Überwinterungsgebieten im südlichen Afrika systematisch und wirksamer als bisher zu schützen. Zum Beispiel den Bijagos-Archipel in Guinea-Bissau oder den Nationalpark Banc d’Arguin an der Küste Mauretaniens: Dort verbringen fast alle eurasischen Pfuhlschnepfen den Winter, und mit ihnen der größte Teil sämtlicher Vögel, die auf dem ostatlantischen Zugweg unterwegs sind.

Noch sind beide Gebiete weitgehend intakt. Doch die Länder, in denen sie liegen, sind arm und politisch instabil; ihre Bevölkerung wächst stark und mit ihr der Druck, auch wenig genutzte Naturressourcen stärker als bisher zu erschließen. Verschmutzung durch Abwässer und Pestizide ist ebenso ein Problem wie die illegale Jagd und Fischerei.

Der Große Brachvogel ist durch seinen langen, gebogenen Schnabel auch aus großer Entfernung unverkennbar. Er steht am Ufer.
Der Große Brachvogel ist durch seinen langen, gebogenen Schnabel auch aus großer Entfernung unverkennbar. Sein flötender Ruf gehört zum charakteristischen Soundtrack des Wattenmeers.

Zum Glück, sagt Peter Südbeck, hätten er und seine Kollegen bei ihren Besuchen in Westafrika zahlreiche Menschen getroffen, denen der Schutz von Natur und Vögeln ernsthaft am Herzen liege – Regierungsvertreter ebenso wie Mitarbeiter von lokalen NGOs. Diese Menschen will die Wattenmeer-Initiative unterstützen, finanziell ebenso wie mit technischem und wissenschaftlichem Know-how. Als eine der ersten großen Aktionen wurde 2014 ein Monitoring entlang der gesamten Vogelzugrouten zum und vom Wattenmeer initiiert.

Das mit der Inspiration funktioniert schon ziemlich gut.

In über 30 Staaten schwärmten mehr als 1500 Zähler aus, um die Bestände überwinternder Wat- und Wasservögel zu erfassen. Diese Zählungen bilden, zum einen, eine unerlässliche Grundlage für künftige Schutzmaßnahmen. Zum anderen sind sie aber auch eine Werbemaßnahme für die Vögel selbst. Denn je mehr Menschen Vögel beobachten, sich von ihnen faszinieren und inspirieren lassen, desto mehr werden sich früher oder später auch aktiv für ihren Schutz einsetzen – das jedenfalls ist die Vision der „Wadden Sea Flyway Initiative“. Und es ist auch das zentrale Anliegen der Zugvogeltage.

Drei Menschen stehen auf einem Gerüst und habe Spektive dabei. Auf dem Boden daneben sind noch mehr Personen mit Ferngläsern oder Spektiven. Das Foto wurde von oben aufgenommen.
Der Vogelturm am Hafen von Varel am Jadebusen ermöglicht Beobachtern während der Zugvogeltage einen spektakulären Blick über Watt und Salzwiesen.
Von einem Vogelturm an der Küste bei Varel/Ostfriesland blickt man über Salzwiesen und Watt zur Nordsee
Blick vom Vogelturm in Varel aufs Watt. Um die Rotschenkel erkennen zu können, die rechts vom Segelboot sitzen, braucht man allerdings ein Spektiv.

Wenn man an einem sonnigen Herbstmorgen, bei auflaufender Flut, von einem der eigens für die Veranstaltung errichteten Beobachtungstürme aufs Watt guckt, gewinnt man den Eindruck: Das mit der Inspiration funktioniert schon ziemlich gut.

Einer dieser Türme steht am Hafen von Varel am Jadebusen, genauer gesagt stand, denn er ist bereits wieder abgebaut worden: Die Salzwiesen des Deichvorlands gehören nun wieder ausschließlich den Vögeln.

Je höher das Wasser steigt, desto näher kommen die Vögel

Eine Stunde hatte ich auf dem Turm bleiben wollen, gute drei bin ich schließlich geblieben. Denn eine besonnte, mehrere Quadratkilometer weite Wattfläche zur Vogelzugzeit ist wie eine Freilichtbühne: überall Bewegung und Gewimmel; keine Blickrichtung, in der nicht ständig irgendetwas flattert, stochert, schnäbelt, paddelt. Alle paar Minuten flog eine neue Formation durchs Bild, tauchte eine Art auf, die ich seit Monaten und Jahren nicht mehr gesichtet hatte: Zwergtaucher (kaum größer als eine Badewannenente), Pfeifenten (der vanillegelbe Stirnfleck leuchtet noch in 200 Metern Entfernung), Dunkler Wasserläufer (im Gegenlicht und im Schlichtkleid kaum von Rotschenkeln zu unterscheiden) und Ringelgänse (dank des schiefergrauen Halses sogar ohne Fernglas unverkennbar).

Die Regie in Form der auflaufenden Flut sorgte dafür, dass alle Vögel immer näher ans Land heranrückten. Und dort, auf den Salzwiesen, gab es als Zugabe noch Strandpieper und Gebirgsstelzen zu sehen.

Ein Schwarm kontrastreich schwarzweiß gemusterter Säbelschnäbler fliegt über einen Deich, auf dem Schafe grasen
Säbelschnäbler gehören zu den Vögeln, deren Name sich allein durch ihr Aussehen erklärt. Ihr markantes weißschwarzes Federkleid macht sie auch für Beobachtungsanfänger leicht bestimmbar – besonders wenn sie im Schwarm auffliegen

Die letzten beiden hätte ich allein womöglich nicht entdeckt, ebenso wenig wie es mir gelungen wäre, den Dunklen Wasserläufer und eine vorbeifliegende junge Kornweihe zu identifizieren. Zum Glück halfen zwei Experten der Nationalparkverwaltung beim Entdecken und Bestimmen. Beide hatten gut zu tun. Denn im Laufe des Vormittags kamen Dutzende weitere Vogelfreunde auf den Turm. Erfahrene „Ornis“ waren darunter, die mit routinierten Griffen ihre Spektive aufbauten, aber auch viele, die erkennbar auf die Tipps der Experten angewiesen waren: „Die mit dem roten Ring um den Hals? Das sind Brandgänse. Die weißen daneben sind Lachmöwen. Nein, die meisten Vögel brüten hier nicht, die ziehen nur durch. Halten Sie sich am besten ein Auge zu, wenn Sie durchs Spektiv sehen!“

Kaum noch Vögel hinter dem Deich

An sonnigen Wochenenden, sagte mir der Ornithologe Guido Reichert, kämen bis zu 700 Beobachter auf den Turm. Insgesamt haben die neun Zugvogeltage in diesem Jahr einen Rekord von rund 20 000 Besuchern verzeichnet. Die große Mehrheit kommt aus der Region, was durchaus nicht selbstverständlich ist, denn die Bewohner des ostfriesischen Küstenhinterlands haben lange eher „mit dem Rücken zum Deich gewohnt“ – so drückte es ein aus Wilhelmshaven stammender Besucher des Beobachtungsturms aus.

In seiner Schulzeit, erzählte er mir, sei das Wattenmeer nicht einmal Thema im Biologieunterricht gewesen. „Und wenn wir als Kinder an den Strand gingen, badeten wir am liebsten in den braunroten Abwässern einer Kammgarnspinnerei, weil die so schön warm waren. Was diese Brühe in der Natur anrichtete, hat damals niemand gekümmert. Wir wussten einfach nicht, was wir für einen Schatz vor der Haustür haben!“

Heute ist das natürlich anders, und dazu hat auch die Gründung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer beigetragen.

Eine Gruppe von rund 15 Kindern in bunten Anoraks steht auf einer Wiese und blickt durch Ferngläser und ein Spektiv
Wer auf Spiekeroog Urlaub macht, kommt ums Vogelgucken nicht herum. Ranger zeigen schon den Kleinsten, wie man mit Fernglas und Fernglas umgeht – und natürlich auch, was man dadurch alles sehen kann
Ein aus Frottee-Handtüchern geformter Schwan liegt auf dem Bett in einer Pension in Horumersiel am Wattenmeer-Nationalpark.
Die gewachsene Sympathie der Wattenmeer-Anwohner für die Vogelwelt drückt sich auch in Details aus – wie diesem anmutigen Frottee-Schwan auf einem Hotelbett bei Horumersiel

Heute können Limikolen, Gänse und Enten im (von Mikroplastik abgesehen) weitgehend sauberen, giftfreien Schlick nach Futter stochern. Was ins Meer fließt, ist durchweg geklärt, die Nährstoffeinträge der Flüsse sind zurückgegangen, Fisch- und Muschelfang sind in den Schutzzonen zumindest stark eingeschränkt. Dadurch ist das Angebot an Wattschnecken, -würmern und Muscheln vermutlich nach wie vor üppig genug, um zwölf Millionen Vögel pro Jahr satt zu machen. Und damit sie ungestört fressen und rasten können, halten markierte Wege und Betretungsverbote Wattwanderer und Sportler auf Abstand.

Die besonderen Momente im Leben eines Vogelbeobachters

Ich könnte jetzt natürlich, für jede dieser positiven Entwicklungen, eine nicht so erfreuliche aufzählen. Etwa die, dass die Bestände der meisten Wattenmeer-Zugvögel seit Jahren zurückgehen, aus teils noch ungeklärten Gründen. Dass man hinter dem Deich kaum noch Vögel sieht, weil die Feuchtwiesen, auf denen früher Scharen von Limikolen rasteten und brüteten, bis auf wenige Reste von intensiver Landwirtschaft vereinnahmt worden sind.

Dass der Nationalpark zu Lande und zu Wasser von immer mehr Windparks umstellt wird, die zum Teil auch die Einflugschneisen der Vögel blockieren, dass auf mehreren Nordseeinseln immer noch Enten, Gänse und sogar bedrohte Waldschnepfen gejagt werden dürfen. Und dass alle Schutzbestimmungen letztlich nichts gegen einen Schiffsunfall ausrichten könnten, der das Wattenmeer-Ökosystem auf Jahre hinaus zerstören würde.

Ein Schwarm Nonnengänse zieht am Pilsumer Leuchtturm vorbei.
Ein Schwarm Nonnengänse zieht am rot-gelbem Pilsumer Leuchtturm vorbei. Auf einigen Ostfriesischen Inseln ist die Jagd auf Gänse, Enten und auch Waldschnepfen nach wie vor zu bestimmten Zeiten erlaubt.

Ich gestehe aber, dass ich diese Negativentwicklungen während der Zugvogeltagen weitgehend ausgeblendet habe. Es muss im Leben eines Vogelbeobachters auch Momente geben, in denen man ohne Hintergedanken einfach fasziniert einem Strandläufer-Schwarm hinterher schaut.