Eine neue Zeitrechnung: Die russische Invasion in die Ukraine ändert in Europa alles

Als „Regionalmacht“ unterschätzt, durch Fossilmilliarden reich gemacht, mit Desinformation erfolgreich: Wladimir Putins Russland ist eine Gefahr für alle offenen Gesellschaften. Ein Kommentar

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Militärkonvoi mit einem Raketenwerfer

Panzer rollen über die Grenze, feindliche Kampfflugzeuge schießen durch den Himmel, Bomben schlagen selbst im Westen des Landes ein: Die Ukraine, das nach dem Aggressor Russland zweitgrößte Land Europas, erlebt den schwärzesten Tag ihrer Geschichte seit 1945 – und mit der Ukraine die ganze Welt. Rund um den Globus ringen Politikerinnen und Politiker um Worte, die das Geschehen in angemessener Schärfe verurteilen und seine geschichtlichen Dimensionen richtig einordnen.

Wie mit positiven Vorzeichen am 9. November 1989 und mit negativen Vorzeichen am 11. September 2001 sowie zu Beginn der Corona-Pandemie kann niemand wissen, höchstens erahnen, welchen Verlauf dieses Geschehen nehmen wird. Nur eines ist klar: In der Nacht zum 24. Februar 2022 haben sich die Welt und das menschliche Zusammenleben einmal mehr so grundlegend verändert, dass es in der Geschichte ein „davor” und „danach” geben wird.

Europa war auch in jüngerer Zeit nicht frei von Kriegen – auf dem Kontinent selbst etwa 1968 beim Einmarsch von sowjetisch geführten Truppen in die Tschechoslowakei, beim Bruderkrieg um das zerfallende Jugoslawien, beim Krieg in Georgien und natürlich bei der russischen Invasion der ukrainischen Krim. Truppen europäischer Länder haben in Afghanistan, im Irak, in Libyen und in Syrien mitgekämpft.

Doch einen derartig mutwilligen und gefährlichen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland hat es in Europa nicht mehr gegeben, seit deutsche Truppen auf Befehl von Adolf Hitler am 12. März 1938 in Österreich und dann am 1. September 1939 in Polen einmarschiert sind.

Fiktive und fingierte Rechtfertigungen für den Einmarsch

Schon das Vergleichen schmerzt, weil die frühere Sowjetunion die größten Opfer an Menschenleben erbracht hat, um die Nazis zu besiegen, und eine Gleichsetzung verbietet sich. Aber die historischen Parallelen sind erschreckend: Träumte Hitler von einem großdeutschen Reich, will Putin ein großrussisches Reich schaffen, dem mindestens Belarus, wo seine Truppen nun ohne Kampfhandlungen stehen, und die von ihm „Kleinrussland” genannte Ukraine angehören. Demnächst könnte sich der Machthunger dann auf andere frühere Sowjetrepubliken erstrecken.

Zu den unheimlichen Parallelen zählt auch, wie Hitler deutsche Soldaten in polnischen Uniformen den Sender Gleiwitz angreifen ließ, um die Attacke als Verteidigung darstellen zu können, und wie Putin fingierte und fiktive Ereignisse zur Rechtfertigung dafür einsetzt, warum er nun „Friedenstruppen” in die Ukraine entsendet.

Dass dazu die Aussagen gehören, er wolle die Ukraine – deren Präsident Jude ist – „entnazifizieren” und daran hindern, Atomwaffen zu erwerben, zeigt, dass Putin es nicht einmal für nötig hält, sich beim Lügen Mühe zu geben. Die Auschwitz-Gedenkstätte hat die Aussage des russischen Präsidenten mit einer Solidaritätserklärung an die Ukraine inzwischen vollständig entlarvt. Der Ukraine mit historischen Argumenten das Existenzrecht abzusprechen, bezeichnet der Historiker Martin Cüppers als „unhaltbar, bösartig konstruiert" und als Widerspruch zu „allen Prinzipien, auf die sich die internationale Staatengemeinschaft gerade aufgrund der entsetzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs verständigt hat".

Eine Frau hält ein Plakat in die Höhe, auf dem steht: „We want peace“. Neben ihr hält ein Demonstrant ein Plakat in Türkisch hoch, das „Putin killer“ bedeutet.
Demonstration gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine in Istanbul.
Putin mit erhobenem Zeigefinger am Rednerpult vor den russischen Nationalfarben.
Drohgebärden werden wahr: Der russische Präsident Putin Mitte Februar beim Besuch von Bundeskanzler Scholz in Moskau.
Schwesig und der russische Botschafter mit FFP2-Masken vor der technischen Anlage mit Röhren.
DManuela Schwesig (SPD), die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, und der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, besichtigen im April 2021 die Gasanlandestation von Nord Stream 2. Die fast fertiggestellte Gaspipeline soll einmal 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr von Russland nach Deutschland befördern. Die USA wollen sie mit Sanktionen stoppen.