Klimaschäden befürchtet: Lecks an Gasleitungen Nord Stream 1 und 2

An den Nord Stream-Pipelines tritt Gas aus, Explosionen sollen sie verursacht haben. Wie sehr sind Gasversorgung und Umwelt betroffen?

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
8 Minuten
Erdgas läuft aus einem Leck in der Pipeline vor der dänischen Insel Bornholm.

Lecks an Pipelines: Wie sehr ist die Umwelt betroffen?

An den beiden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 war am 26. September 2022 ein plötzlicher Druckabfall registriert worden. Nachdem zuvor von drei Lecks die Rede war, wurden inzwischen vier Lecks an den Gasleitungen in der Ostsee festgestellt. Zwei davon befinden sich im dänischen und zwei im schwedischen Hoheitsgebiet. Zwei Lecks betreffen Nord Stream 1, zwei weitere Lecks die nie in Betrieb genommene Leitung Nord Stream 2. Die genaue Ursache ist noch unklar; der Verdacht der Sabotage steht im Raum.

Umweltexperten gehen derzeit von lokalen Auswirkungen aus. „Bei einem Leck in der Nord Stream-Pipeline steigt das Gas direkt an die Wasseroberfläche, das heißt die Auswirkungen werden wahrscheinlich lokal bleiben. Dort entsteht für die Tiere allerdings die Gefahr zu ersticken. Das betrifft besonders die Tiere, die nicht schnell flüchten können“, sagt Nadja Ziebarth, Leiterin des Meeresschutzbüros des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND).

Reines Methan sei zwar ungiftig, doch die genaue Zusammensetzung des entweichenden Gases sei nicht bekannt. „Da unklar ist, welches Gemisch genau in Nord Stream transportiert wird, könnten durch andere Gase unbekannte Schäden im marinen Ökosystem lokal entstehen“, warnt Ziebarth.

Da keine Abschottungsmechanismen an den Pipelines existieren, werde aller Voraussicht nach der gesamte Inhalt der Röhren entweichen. Die Deutsche Umwelthilfe forderte die Nord Stream AG und die deutschen Aufsichtsbehörden auf, das verbleibende Gas aus allen Ostsee-Strängen abzupumpen. „Alles, was man jetzt entnimmt, endet nicht in der Atmosphäre, so Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. Für Reparaturarbeiten sei es auch möglich, Gas abzupumpen. Warum dies nicht geschehen ist, bleibt unklar.

Nach derzeitigem Kenntnisstand ist davon auszugehen, dass die Lecks an den Nord Stream Pipelines das größte Gas-Leck der Welt sind. Im Aliso Canyon in den USA im Jahr 2015 wurde das bislang größte Methan-Leck dokumentiert. 2016 berichtete das Fachjournal Science, dass dort insgesamt rund 97.100 Tonnen Methan ausgetreten sind. Der daraus resultierende Treibhauseffekt entspreche dem von mehr als einer halben Million Pkw in den USA innerhalb eines Jahres. Zur Erinnerung: Bei den Nord Stream Pipelines wird von 300.000–350.000 Tonnen entwichenem Methan ausgegangen, also der über 3-fachen Menge im Vergleich zum Aliso Canyon Leck.

Was bedeuten die Lecks für die Gasversorgung in Deutschland?

Da über die Leitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 zuletzt kein Gas aus Russland geliefert wurde, ist die aktuelle Gasversorgung Deutschlands nicht betroffen. Dies bestätigt auch die Bundesnetzagentur. Im Lagebericht der Bundesnetzagentur vom 28. September 2022 heißt es auf Twitter: „Lagebericht #Bundesnetzagentur 28.09.22 (13 Uhr): – #Gasversorgung in im Moment stabil. – Aktuelle Speicher-Füllstände: 91,43%, Rehden 75,77%. – zur Zeit keine Gaslieferungen über Nord Stream 1.“

Was ist Nord Stream 2?

Nord Stream ist ein System von Unterwasser-Gasleitungen, die von Russland direkt nach Deutschland verlaufen. Die Route dieser Ostsee-Pipeline ist insgesamt über 1.200 Kilometer lang. Mit Erdgas aus Russland deckt Deutschland einen Teil seines Energiebedarfs.

Die Pipeline Nord Stream 1 wurde 2011 eingeweiht und transportiert Erdgas von Wyborg nach Lubmin bei Greifswald. Die Leitung Nord Stream 2 verläuft von Ust-Luga weitgehend parallel ebenfalls nach Lubmin. Diese zweite Pipeline wurde 2015 vom russischen Konzern Gazprom und fünf euro­päischen Konzernen aus der Taufe gehoben – ein Jahr nach der Krim-Annexion durch Russland.

Welche Rolle spielt Nord Stream 2 für die deutsche und europäische Energieversorgung?

Bislang keine. Die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 ist zwar baulich nahezu fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb. Insofern wird die Nicht-Inbetriebnahme kurzfristig keine Auswirkungen auf die deutsche Energieversorgung haben. Das finale Genehmigungsverfahren hatte die Bundesregierung angesichts der Eskalation des Russland-Ukraine-Konflikts gestoppt.

Ob Deutschland und Europa auf die Versorgung über Nord Stream 2 mittelfristig angewiesen sind, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Pipeline sei unnötig, unrentabel und widerspreche den Klimazielen Deutschland, hatte unter anderen die Energieökonomin des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, gegenüber dem ZDF mehrfach wiederholt.

Wie geht es mit Nord Stream 2 weiter?

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) kündigte an, den Versorgungssicherheitsbericht unter dem Eindruck dieses Winters und der neuen Verhältnisse des durch Russland gestarteten Angriffskrieges neu zu schreiben. Dieser Bericht stelle die “Sicherheitsfrage der Energieversorgung ins Zentrum und die muss neu bewertet werden”, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Dabei handele es sich bei dem Stopp der Pipeline um keine Sanktionen im engeren Sinne, sondern um ein Prüfverfahren, das durchgeführt werden müsse. “Da sich die Wirklichkeit, vor der dieses Prüfverfahren durchgeführt wird, verändert hat, muss sich auch die Prüfung der Wirklichkeit verändern.”

Die USA haben Nord Stream 2 auf die Sanktionsliste gesetzt. Das heißt, dass alle Unternehmen, die mit dem Nord Stream 2-Verbund Handel treiben – also alle Banken und alle Geschäftspartner – künftig mit Sanktionen belegt werden. Nachdem die Amerikaner die Eigentümergesellschaft auf ihre Sanktionsliste gesetzt haben, meldete diese zunächst Insolvenz an. Doch die Insolvenz wurde aufgeschoben. Nord Stream 2 mit Sitz im Schweizer Kanton Zug erhielt vom Kantonsgericht nun bis zum 10. September eine provisorische Nachlassstundung, wie aus einem Eintrag im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) hervorgeht.

Die Europäische Union hat Nord Stream 2 bislang auf keine Sanktionsliste gesetzt. „In diesem Fall allerdings haben wir eine deutsche Antwort gefunden, die zum gleichen Resultat führt“, sagt Habeck mit Blick auf die stillgelegte Genehmigung.

Warum kritisierten die Ukraine und Polen das Pipeline-Projekt?

Bereits in den Anfängen stieß das Projekt in Polen und der Ukraine auf politischen Widerstand. Die Länder befürchteten, von Gaslieferungen abgeschnitten zu werden und noch stärker in die Abhängigkeit von Russland zu geraten. Der Bau einer Ostsee-Gaspipeline war zunächst von der EU unterstützt worden. Nordstream 1 erhielt im Jahr 2000 den Status eines „Transeuropäischen Netzes“ (TEN).

Diese positive Einschätzung schwand aber, so berichteten die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer Analyse. Zum einen, weil Russland zur Jahreswende 2005/2006 der Ukraine wegen politischer Differenzen den Gashahn zudrehte, und dies zu einem Lieferausfall in die EU führte. Zum anderen, weil sich ähnliche Vorfälle gegenüber Weißrussland, Georgien und dem EU-Mitglied Litauen wiederholten.

„Mit dem Missbrauch von Energie als politischem Druckmittel stiegen die Zweifel an der Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant. Zugleich wurde der EU ihre eigene energiepolitische Verwundbarkeit vor Augen geführt“, stellten die Wissenschaftlichen Dienste im Jahr 2008 fest.

Welche Rolle spielte Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder für Nord Stream 2?

Eine zentrale Rolle für den Bau dieser Gasleitungen spielt der ehemalige deutsche Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Er hatte in seiner zweiten Amtszeit den Ausbau massiv vorangetrieben, unter anderem mit der Begründung, die Pipeline sei ein “Friedensprojekt”. Trotz heftiger Proteste aus Polen und dem Baltikum wurde die 5,7 Milliarden Euro teure Gasleitung am 8. September 2005 in Berlin in Anwesenheit vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin besiegelt.

Nicht einmal einen Monat nach dem Ende seiner Kanzlerschaft wurde Schröder Aufsichtsratsvorsitzender bei der Betreibergesellschaft der Pipeline, der späteren Nord Stream AG. Die Nord Stream AG wird durch den russischen Staatskonzern Gazprom dominiert. Der Verein Lobbycontrol, der sich kritisch mit Lobbyismus in Politik und Industrie auseinandersetzt, kritisiert dieses Vorgehen scharf.

Gerhard Schröder wurde mit seinen Verbindungen in die deutsche Spitzenpolitik zum hoch bezahlten Lobbyisten für eine umstrittene Pipeline, die er zuvor als Kanzler vorangetrieben hatte. Der Staatskonzern Gazprom nominierte Schröder für seinen Aufsichtsrat, nach eigenen Angaben habe er schon vor längerer Zeit auf die Nominierung verzichtet. Der Altkanzler war noch zu Kriegsbeginn Aufsichtsratschef beim staatlichen russischen Energieunternehmen Rosneft. Am 20. Mai 2022 teilte der Konzern mit, dass Schröder seinen Posten bei Rosneft aufgibt. Nur einen Tag zuvor hatte das Europaparlament darauf gedrängt, Schröder auf die Sanktionsliste gegen russische Oligarchen zu setzen, wenn er trotz des Ukrainekriegs an seinen Posten in russischen Unternehmen festhalte.

Wie abhängig ist Mecklenburg-Vorpommern von Nord Stream 2?

Die SPD-geführte Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern hat 2021 eine “Klimastiftung” auf den Weg gebracht. Während Mecklenburg-Vorpommern rund 200.000 Euro Stiftungskapital beisteuerte, stammte die größte Zuwendung von zunächst 20 Millionen Euro von der Nord Stream 2 AG. Diese ist ein Tochterunternehmen des russischen Energiekonzerns Gazprom, der wiederum vom russischen Staat über eine Mehrheit im Aufsichtsrat kontrolliert wird.

Erklärtes Stiftungsziel ist „die Durchführung und Förderung von Maßnahmen und Projekten des Klimaschutzes und zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Natur im Land Mecklenburg-Vorpommern und an sowie vor den Küsten des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie an und vor den Ostseeküsten der Ostseeanrainerstaaten.“

Doch in der Satzung steht auch, die Stiftung solle bei der Errichtung der Pipeline Nord Stream 2 helfen, da Erdgas die „klimaschonendste Übergangstechnologie zur Sicherung der notwendigen Energieversorgung“ sei.

Für die Einrichtung dieser Stiftung wurde Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) heftig kritisiert. Laut einem Medienbericht wird Schwesig vorgeworfen, sich mit Putins Staatskonzern Gazprom verbündet zu haben, um US-amerikanische Sanktionen zu umgehen. Erst am 22. Februar 2022 gab Schwesig bekannt, ihre Landesregierung habe “die Klima- und Umweltstiftung gebeten, ihre Arbeit ruhen zu lassen.”

Dem ZDF zufolge will die umstrittene „Klimastiftung“ die Arbeit des gemeinwohlorientierten Teils doch fortführen. Vorstandsvorsitzender Erwin Sellering hatte noch Ende Mai zugestimmt im September zurückzutreten und damit den Weg für eine Auflösung frei zu machen. Dies hatte die Landesregierung gefordert.

Warum sind die Akten zu Nord Stream 2 so lückenhaft?

Mecklenburg-Vorpommern gründete mit der „Klimastiftung“ eine intransparente Tarnkonstruktion, um beteiligte Unternehmen vor drohenden US-Sanktionen zu schützen. Die politische und rechtliche Aufarbeitung dieser Vorgänge erweist sich nun als schwierig. So konnten zentrale Fragen immer noch nicht geklärt werden, etwa wer die Idee zur Gründung der Stiftung hatte oder wer wann über die konkreten Planungen und Vorgänge informiert war.

Eine mögliche Erklärung für die offenkundigen Lücken in den Akten liefern Recherchen von t-online. Da die US-amerikanische Regierung das Projekt strikt ablehnte, drohten 2020 US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 und den daran beteiligten Unternehmen. Dem wollte die Gazprom-Tochter entgegenwirken und bestand fortan gegenüber der Landesregierung auf einer Kommunikation, die dem Bericht nach als „konspirativ“ bezeichnet werden kann. Staatskanzlei und Ministerien fügten sich offenbar.

So sollten wichtige Informationen nur noch in persönlichen Gesprächen übermittelt werden – aus Angst vor einer möglichen Überwachung durch US-Geheimdienste. Das soll ein internes Dokument der Staatskanzlei belegen.

Inzwischen hat ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Schweriner Landtag seine Arbeit aufgenommen. Die entsprechenden Akten sollen jedoch erst bis zum Jahresende vollständig vorliegen.