Von wegen große Ausnahme: Flugunfähige Vogelarten waren mal deutlich verbreiteter

Warum fliegen, wenn man nicht muss? Flugunfähige Vögel waren einmal ein Erfolgsmodell in der Evolution – bis die Menschen kamen.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
9 Minuten
Ein Grünfuß-Pfuhlhuhn mit roten Augen und gelbem Schnabel hält nach Nahrung auf dem Boden Ausschau.

Die Fähigkeit zu fliegen bietet große Vorteile: Vögel können schnell den Ort wechseln und weite Strecken zurücklegen, um Nahrung zu finden. Außerdem entkommen sie durch schnelles Abheben vielen ihrer am Boden lebenden Fressfeinde. Vögel, die nicht fliegen können, wirken auf uns wie eine evolutive Ausnahmeerscheinung, was sich im Grunde auch schon im Begriff „flugunfähig“ widerspiegelt.

Von mehr als 10.000 Vogelarten auf unserem Planeten gelten lediglich um die 60 als flugunfähig. Auf den ersten Blick scheint auch das für das Fliegen zu sprechen. Doch das ist die Folge einer verzerrten Wahrnehmung, argumentiert ein internationales Forschungsteam um Ferran Sayol vom University College London. In einer aktuellen Studie, die im Fachmagazin Science Advances erschienen ist, weisen die Wissenschaftler nach: Es liegt vor allem an uns Menschen, dass es nur so wenige flugunfähige Vertreter unter den Vögeln gibt. Heute sind es um die 60 entsprechende Arten. Doch noch vor rund 125.000 Jahren lebten auf der Erde vier Mal so viele.

Fliegen kostet Energie

Nicht fliegen zu können, muss kein Manko sein. Denn die Fortbewegung in der Luft hat einen entscheidenden Nachteil: Sie ist ziemlich energieaufwändig. Und Flügel eignen sich zwar zum Fliegen, aber wenn man mit ihnen beispielsweise auch tauchen will, muss man sowohl bei ihrem Aufbau als auch ihrer Leistungsfähigkeit Kompromisse eingehen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass Vögel, die nicht unbedingt fliegen müssen, um zu überleben, es mit der Zeit auch nicht mehr tun. Im Laufe der Evolution haben Vögel in verschiedenen Zweigen des Vogelstammbaums das Fliegen verlernt – aus verschiedenen Gründen.

Sieben halbwüchsige Straußenjunge stehen in einer Gruppe zusammen, im Hintergrund ein Elternvogel.
Eine Straußenfamilie in der Kalahari-Wüste in Südafrika: Die Mutter behält den Überblick und wacht über den Nachwuchs.

Strauße und Co sind schnell und wehrhaft

Prominente Nichtflieger sind etwa Pinguine, Rallen- und Laufvögel wie Kasuare, Nandus oder Kiwis. Auch Afrikanische Strauße gehören zu den Vögeln, die nicht mehr abheben. Sie sind dafür auch viel zu schwer. Im Laufe der Evolution haben sie auf eine andere Überlebensstrategie gesetzt: Bei Gefahr laufen sie mit ihren kräftigen Beinen schnell weg oder verteidigen sich mit gezielten Tritten ihrer kräftigen Füße. Strauße erteilen im Zweifel auch Menschen eine Lektion, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Pinguine fliegen unter Wasser

Königspinguine und Co hingegen haben sich aus einem Vorfahren entwickelt, der das Fliegen mit der Zeit aufgegeben hat zugunsten einer Fähigkeit, die für ihn mehr Vorteile brachte: das Tauchen. Möglich wurde dies auch, weil Pinguine vorwiegend dort leben, wo keine Landraubtiere sie bedrohen – auf entlegenen Inseln oder in der Antarktis. Ihre Flügel sind zu Flossen geworden. Sie helfen ihnen, quasi unter Wasser zu fliegen und dort ihre Beute zu jagen – eine hervorragende Anpassung an ihren Lebensraum.

Eine Gruppe von Königspinguinen mit schwarz-weißem Federkleid und schwarz-orangenen Schnäbeln watschelt auf dem Sand.
Königspinguine kommen an den Strand von Südgeorgien, eine Insel im Südatlantik. Die Vögel können bis knapp einen Meter groß werden und bis zu 300 Meter tief tauchen.

Auf stürmischen Inseln verlernen selbst Insekten das Fliegen

Selbst Insekten verlernen das Fliegen, wenn diese Art der Fortbewegung keinen Vorteil bringt oder sogar schadet – wie zum Beispiel auf Inseln im hohen Norden oder im tiefen Süden der Erde. Dort ist es so stürmisch, dass fliegende Insekten leicht mit dem Wind aufs Meer getrieben werden. Krabbeln ist sicherer, sowohl für Fliegen als auch für Motten. Diese These vertrat schon der Begründer der Evolutionstheorie Charles Darwin vor 160 Jahren. Australische Forschende bestätigen Darwin nun weitgehend. Sie gehen davon aus, dass Insekten auf stürmischen Inseln besser überleben, wenn sie Energie und Biomasse nicht in Körperteile zum Fliegen stecken, sondern sie in Fortpflanzung investieren.

Warum fliegen, wenn man nicht muss?

Je nachdem, wo man lebt, kann es also durchaus von Vorteil sein, das Fliegen zu verlernen. Und das kam laut der Science Advances Studie im Laufe der Evolution offenbar häufiger vor als man annehmen würde, wenn man lediglich heute noch lebende Vogelarten berücksichtigt. Laut den Autoren der Studie entwickelte sich Flugunfähigkeit mindestens 150 Mal unabhängig voneinander, vor allem eben auf Inseln, auf denen die dort lebenden Vögel nicht vor vierbeinigen Fressfeinden in die Luft fliehen mussten.

Einst gab es demnach weltweit mindestens 226 verschiedene Arten von Vögeln, die nicht oder kaum fliegen konnten – darunter Eulen, Spechte oder Ibisse. Erst als die Welt zusehends von reisefreudigen und hungrigen Menschen erobert wurde, erwies sich Flugunfähigkeit als Sackgasse der Evolution. Besonders dramatisch war die Entwicklung auf der Inselgruppe von Hawaii. Sie war einst ein wahrer Hotspot flugunfähiger Vögel – mit insgesamt 23 Arten, die sich ausschließlich am Boden aufhielten. Doch keine einzige davon hat die Ankunft der Menschen auf der Inselgruppe bis heute überlebt. Studien-Erstautor Ferran Sayol sagt:

„In Millionen von Jahren haben sich 150 verschiedene Gruppen flugunfähiger Vögel entwickelt, doch in nur rund 100.000 Jahren haben wir Menschen drei Viertel davon ausgerottet.“

Die 60 flugunfähigen Arten der Gegenwart sind also nur ein kleiner Rest der einstigen Vielfalt. Der Niedergang der Nichtflieger ging bereits zu Beginn des Jungpleistozäns vor 126.000 Jahren los, als die Menschheit begann, sich verstärkt über den Planeten auszubreiten. Seitdem sind durch menschliches Zutun rund 580 Vogelarten verschwunden. Überproportional viele davon konnten nicht fliegen, in Summe laut Studie 166 Arten.

Nichtflieger brauchen Schutz

Überleben in einer Welt mit Menschen: Das wird auch in Zukunft eine Herausforderung für die 60 flugunfähigen Spezies bleiben, die es bis heute geschafft haben. Etwa die Hälfte von ihnen sind gefährdet. Damit sind sie auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN überrepräsentiert.

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Der Dodo lebt wenigstens als Emoji weiter

Eine der prominentesten ausgerotteten Arten ist der Dodo, eine große flugunfähige Taubenart, die im Indischen Ozean auf der Insel Mauritius lebte. Ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts wurde Mauritius häufiger von Schiffen angefahren und wenig später auch besiedelt. Die Menschen brachten Ratten und Haustiere wie Schweine und Affen mit. Das besiegelte das Schicksal der Dodos endgültig. Denn die Vögel nisteten nicht nur auf dem Boden, sie waren offenbar auch sehr zutraulich. Forschende gehen davon aus, dass das Aussterben der Dodos vor allem auf das Konto von Ratten, Schweine und Co ging, die Dodo-Eier und Jungvögel fraßen. Spätestens 1690, wenn nicht sogar schon Jahrzehnte früher, war der letzte Dodo verschwunden.

Zeichnung eines Dodos mit einem großen Schnabel, kleinen Flügeln und kräftigen gelben Krallen.
Diese Zeichnung eines Dodos fertigte der irische Maler Charles Collins im 18. Jahrhundert an, vermutlich inspiriert vom flämischen Maler Roelant Savery. Das Bild ist heute in der McGill University Library in Montreal ausgestellt.

Das Aussterben der Art erregte zunächst kaum Aufmerksamkeit. Alte Seefahrerberichte von zutraulichen Dodos wurden zum Teil als Seemannsgarn abgetan. Erst als der französische Naturforscher Georges Cuvier am Ende des 18. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen bewies, dass es auf der Erde einmal Arten gab, die mittlerweile nur noch als Fossile existierten – dass das Aussterben von Arten also grundsätzlich möglich ist – nahm das Interesse am Dodo wieder zu.

Das lag auch daran, dass der Dodo noch zu seinen Lebzeiten von dem vergleichsweise bekannten flämischen Künstler Roelant Savery in mehreren Gemälden festgehalten worden war. Diese dienten später vielen Illustratorïnnen als Vorlage. Mitte des 19. Jahrhunderts erschien ein Buch über den Dodo, und in London sahen Millionen Besucherïnnen eine Rekonstruktion des Vogels in Ausstellungen und Museen.

„Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass wir am Beispiel des Dodo zum ersten Mal in unserer Geschichte begriffen haben, dass wir in der Lage sind, eine Art auszurotten, “

das sagt der Ökologe Ferran Sayol. Dass wir diese zerstörerische Fähigkeit besitzen, mag für Menschen heute keine Überraschung mehr sein. Doch im 18./19. Jahrhundert war diese Erkenntnis zumindest in christlich orientierten Gesellschaften, die an die göttliche Schöpfung und Allmacht über das irdische Leben glaubten, offenbar ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke.

Durch Ausrottung unsterblich geworden

Dass der Dodo außerdem zu einer Referenz in der modernen Popkultur wurde, liegt vermutlich auch daran, dass der britische Schriftsteller Lewis Carroll die Art in „Alice im Wunderland“ auftauchen lässt – als eines der Tiere, die in dem See der von Alice selbst geweinten Tränen schwimmen. So wurde der Dodo durch seine Ausrottung unsterblich, um es mit dem britischen Autor Edward Lucie-Smith zu sagen.

Seit Ende 2020 gibt es auch ein Dodo-Emoji. Es ist das erste Mal, dass in der Emoji-Welt eine von Menschen ausgerottete Art auftaucht. Der Ökologe Ferran Sayol freut sich darüber, „weil das Emoji die Gefährdung flugunfähiger Arten symbolisiert.“ Um diese Gefährdung wirklich bewusst zu machen, müsste aber in der öffentlichen Wahrnehmung wohl das Bild des naiven, vermeintlich sowieso zum Aussterben verdammten Dodo durch eine realistischere Vorstellung ersetzt werden: Schließlich war der Dodo an seinen Lebensraum bestens angepasst und hätte vermutlich bis heute auf Mauritius überlebt – wenn nicht der Mensch gekommen wäre.

Kubanische Rieseneule jagte auf langen Beinen

Nicht in jedem Fall freilich lässt sich eindeutig der Mensch für aus Aussterben einer bestimmten Art verantwortlich machen. Gerade bei Arten, die schon länger verschwunden sind, kann die Beweisführung schwierig sein. Ein Beispiel dafür ist die kubanische Rieseneule Ornimegalonyx. Aus Knochenfunden schließt man, dass dieser Vogel mehr als einen Meter groß werden konnte und lange Beine und große Krallen besaß. Er jagte wohl Nagetiere, konnte vermutlich höchstens flattern und lebte bis vor rund 6.000 Jahren auf Kuba. Die Art starb aus, nachdem Jägerïnnen und Sammlerïnnen die Karibikinsel besiedelten. Zu dieser Zeit veränderte sich der Lebensraum der Rieseneule aber nicht nur durch menschliche Eingriffe wie Brandrodungen, sondern auch durch Veränderungen im regionalen Klima nach dem Ende der Eiszeit. Die archäologische Beweislage ist deswegen nicht eindeutig.

Ratten bekämpfen, um Vögel zu retten

Auch viele kleinere flugunfähige Vogelarten sind ausgestorben, nachdem Menschen sich auf ihrer Insel angesiedelt haben und unter anderen Ratten oder Hauskatzen mitgebracht haben, die sich über die Vögel, ihre Jungtiere und ihre Eier her machten. Diese Probleme bestehen auf etlichen Inseln, wo es noch flugunfähige Vögel gibt, auch weiterhin.

Auf der Lord Howe Insel vor der Ostküste Australiens behaupten sich die letzten rund 230 Lord-Howe-Rallen, siehe Foto in der Macalay Library. Um das Überleben der kleinen braunen Vögel zu sichern, haben Artenschutz-Teams die Insel zunächst von sämtlichen verwilderten Hausschweinen und Ziegen befreit und später ein Programm zur Vernichtung aller eingeschleppten Ratten durchgeführt. Die Rallen können sich jetzt wieder frei auf der Insel bewegen, die zum UNESCO Weltnaturerbe gehört. Zwischenzeitlich waren die Rallen in Gehegen geschützt worden. Direkt nach dem Aussetzen, zurück in der Natur, haben einige Vögel angefangen, sich zu paaren, berichten beteiligte Forschende beim australischen Sender ABC.

Von Maßnahmen gegen Ratten und verwilderte Hauskatzen profitieren auf Inseln auch fliegende Vögel. Das zeigt das Beispiel des Newton-Raupenfängers auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean, über das Flugbegleiter Thomas Krumenacker berichtet hat.

Fünf schwarz-weiße Eselspinguine mit schwarz-rotem Schnabel stehen auf Schnee.
Diese Eselspinguine auf der Antarktischen Halbinsel könnten bald eine eigene Art sein. Forschende schlagen als Artnamen Westantarktischer Eselspinguin vor.

Gibt es bald wieder mehr flugunfähige Vogelarten?

Es kommt auch heute noch gelegentlich vor, dass die Zahl der bekannten Vogelspezies zunimmt: Und so könnten es bald 63 anstelle von 60 flugunfähigen Arten sein. Aus einer Art von Eselspinguin könnten nämlich offiziell vier werden. Das hat kürzlich ein britisch-amerikanisches Forschungsteam um Joshua Tyler von der Universität Bath nach Genomanalysen in verschiedenen Eselpinguin-Kolonien vorgeschlagen.

In Zukunft könnte es dann Südgeorgische und Westantarktische Eselspinguine geben, dazu noch Falkland- und Kerguelen-Eselspinguine. Diese Unterscheidung wäre mehr als ein Zahlenspiel, sie könnte ebenfalls beim Artenschutz helfen. Denn bislang stehen Eselspinguine mit dem Vermerk „nicht gefährdet“ auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN. Die Bestände der Kerguelen-Eselspinguine und ihrer südgeorgischen Cousins nehmen jedoch laut dem Forschungsteam ab. Eine Anerkennung als eigene Art könnte helfen, sie besser zu schützen.

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