Keine Mehrheit für EU-Renaturierungsgesetz – Entscheidende Abstimmung auf Freitag verschoben

Nach dem Ende einer Last-Minute-Blockade durch die FDP waren die Chancen für ein Inkrafttreten des wichtigsten Naturschutz-Vorhabens seit langem eigentlich gut. Nach dem Umfallen Ungarns gibt es aber keine Mehrheit mehr. Die entscheidende Abstimmung wurde auf Freitag verschoben.

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Uralte Eichen stehen locker im grünen Wald

Kurz vor seinem eigentlich geplanten Inkrafttreten droht dem wichtigsten europäischen Naturschutzgesetz das Scheitern. Unter den 27 Mitgliedstaaten fand sich in einer Sitzung der Botschafter am Mittwoch keine ausreichende Mehrheit, um den Weg für das Gesetz endgültig freizumachen. Daraufhin verschob die belgische Ratspräsidentschaft die Abstimmung auf Freitag. Damit ist völlig offen, ob das Gesetz nach zweijährigen Verhandlungen und zahlreichen Änderungen in Kraft treten kann oder endgültig scheitert.

Vor der Entscheidung zur Verschiebung hatte die FDP nach Verhandlungen mit dem Bundesumweltministerium am Dienstagabend ihren Widerstand gegen eine Zustimmung Deutschlands aufgegeben und ein sofortiges Aus für das Vorhaben verhindert, in den nächsten Jahren geschädigte Ökosysteme auf 20 Prozent der Fläche Europas zu renaturieren. Nachdem aber Ungarn am Mittwoch überraschend seine Enthaltung ankündigte, fehlt dem Gesetz eine qualifizierte Mehrheit.

Um Inkrafttreten zu können, müssen 15 Mitgliedsstaaten zustimmen, die zugleich auch mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Hätte die FDP nicht eingelenkt, hätte sich die Bundesregierung bei der Abstimmung im Rat der Umweltminister am kommenden Montag enthalten müssen. Ein solches in Brüssel inzwischen als „German Vote“ gefürchtetes Abstimmungsverhalten Deutschlands hätte das Ende des Gesetzes bedeutet.

Ungarn kippt die Mehrheit für das Gesetz – 64,05 statt 65 Prozent

Weil am Mittwoch aber auch Ungarn überraschend das Lager der Befürworter verlassen hat, fehlt dem Gesetz nun selbst mit den Stimmen Deutschlands eine Mehrheit. Nach einer RiffReporter vorliegenden Übersicht über das Abstimmungsergebnis sprachen sich 19 Staaten für das Gesetz aus, vier dagegen und weitere vier enthielten sich. Damit ist zwar das Mehrheitsziel bei der Zahl der Länder klar erreicht. Die Vorgabe, dass mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentiert sind, scheitert aber mit 64,05 Prozent denkbar knapp.

Gegen das Gesetz stimmten danach die Niederlande, Italien und Polen. Finnland, Österreich, Belgien und Ungarn enthielten sich.

Letzte Chance Freitag

Die neuerliche Abstimmung soll nun am Freitag um 15.00 Uhr stattfinden. Befürworter des Gesetzes hoffen, dass sich beim am Donnerstag beginnenden Gipfel der Staats- und Regierungschefs noch eine Lösung findet.

Auf Seiten der Gegner des Gesetzes hatte offenbar vor allem Belgiens Premierminister Alexander De Croo hinter den Kulissen versucht, das Gesetz noch zu verhindern, wie der belgische Stadaard berichtete. Nach Informationen des Blattes kontaktierten De Croo und Mitglieder seines Kabinetts verschiedene Regierungen, um sie dazu zu bewegen, ihre Unterstützung für das Gesetz zurückzuziehen. Beim ungarischen Regierungschef Viktor Orbán hatte er offenbar Erfolg.

Lindner lenkt ein

FDP-Chef Christian Lindner hatte die Blockade über einen Prüfvorbehalt überraschend zu Wochenbeginn geltend gemacht und auf Belastungen der Landwirtschaft durch das Gesetz verwiesen. Der Schritt kam überraschend, denn eigentlich war die Sache geklärt: Anfang November hatten sich EU-Ratspräsidentschaft, EU-Parlament und EU-Kommission im Trilogverfahren auf einen Text für das Gesetz geeinigt, dem danach auch der Vertreter Deutschlands auf Botschafterebene bereits zugestimmt hat. Im Februar gab schließlich auch das EU-Parlament abschließend grünes Licht.

Schon bei der Parlamentsabstimmung hatten die deutschen FDP-Abgeordneten in einer Allianz mit Konservativen, Rechtskonservativen und Rechtsaußen das Gesetz abgelehnt, gegen das auch die großen Verbände aus Land- und Forstwirtschaft mobil gemacht haben.

Ein Drohnenfoto eines wiedervernässten Waldes
Ein Fünftel der Fläche der Europäischen Union soll mit dem Gesetz in einen guten ökologischen Zustand versetzt werden. Nicht überall allerdings soll, wie hier, Wildnis entstehen.

Aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland ist für die Umsetzung der Verordnung über die Wiederherstellung der Natur entscheidend, dass keine zusätzlichen Belastungen für landwirtschaftliche Betriebe entstehen.

Wortlaut der Protokollnotiz zur deutschen Zustimmung zum Renaturierungsgesetz

Protokollnotiz als Kompromiss

Als Zugeständnis an Lindner wurde nun eine Protokollnotiz vereinbart. „Deutschland wird dem EU Nature Restoration Law zustimmen und zu Protokoll geben, dass bei der Umsetzung keine zusätzlichen Belastungen für Landwirte entstehen sollen“, bestätigte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums am Montagabend.

In der RiffReporter vorliegenden Protokollnotiz heißt es, das Gesetz trete „in einer Zeit grundlegender Herausforderungen für den Landwirtschaftssektor“ in Kraft.
„Aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland ist für die Umsetzung der Verordnung über die Wiederherstellung der Natur entscheidend, dass keine zusätzlichen Belastungen für landwirtschaftliche Betriebe entstehen.“

Eine ausgeräumte Agrarlandschaft mit endlosem Acker und Windrädern im Hintergrund.
Die europäische Agrarlandschaft gleicht häufig einer Agrarwüste – auch, weil dort im großen Maßstab Futtermittel angebaut werden
Eine Brache mit einem Wald im Hintergrund
Im EU-Jargon „unproduktive Flächen“, im wahren Leben Hotspots der Artenvielfalt: Der Erhalt und die Schaffung von Brachflächen gehört zu den wichtigsten Maßnahmen zur Wiederbelebung der Agrarlandschaft

Ein Fünftel der Fläche der EU soll grün werden

Kern des Gesetzes ist die Verpflichtung, bis zum Jahr 2030 Maßnahmen zur Renaturierung zerstörter oder geschädigter Ökosysteme auf 20 Prozent der Fläche der Staatengemeinschaft einzuleiten. Die Vorgabe gilt für alle Ökosysteme – vom Meer bis zum Gebirgswald. Bis 2050 sollen alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen.

Der Anlauf zur flächendeckenden Renaturierung ist bitter nötig, um den dramatischen Verlust der Artenvielfalt in der EU zu stoppen. Der Verlust von Lebensräumen und der darin lebenden Tier- und Pflanzenarten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der EU stark beschleunigt. Nach mehr als einem Jahrhundert der Industrialisierung sind inzwischen mehr als 80 Prozent aller Lebensräume in der Gemeinschaft einem schlechten ökologischen Zustand.

Artenschwund hat Folgen für Menschen

Viele Tier- und Pflanzenarten kämpfen ums Überleben. Dieser Verlust an Biodiversität hat auch unmittelbare Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in der Gemeinschaft: Kanalisierte Flüsse und zerstörte Auen bieten keinen wirksamen Hochwasserschutz in Zeiten des Klimawandels mehr und die geschädigten Wälder haben sich bereits zu Emittenten von Treibhausgasen entwickelt, statt sie zu speichern. Auch das Insektensterben in Folge einer zu intensiven Landwirtschaft entwickelt sich mittlerweile zu einer ernsten Gefahr für die Lebensmittelproduktion. Schon heute leidet die Hälfte der von Bestäubung abhängigen Ackerkulturen in der EU unter Mangelerscheinungen.

Ein Rebhuhn schaut aus einer Wiese
Symbol für die Aussterbekrise im Agrarland: Das Rebhuhn kämpft in der Agrarsteppe ums Überleben.

Gesetz bringt Klima- und Naturschutz zusammen

Besonders umstritten waren die im Gesetz vorgesehenen Renaturierungen auf Landwirtschaftsflächen. Sie fallen in das Gesetz, weil ein erklecklicher Teil der Landwirtschaft auf trockengelegten Moorböden stattfindet. Bis 2030 sollten auf 30 Prozent der für landwirtschaftliche Nutzung entwässerten Moore Renaturierung auf dem Weg sein, ein Viertel davon soll wiedervernässt werden. Die Anhebung der Wasserstände gilt als wirksamste Methode, um die biologische Vielfalt auf zerstörten Mooren zu fördern und den Ausstoß großer Mengen Treibhausgase aus dem trockenen Torfboden zu stoppen. Degradierte Moorböden tragen zu sieben Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen bei.

Kein Landwirt wird zur Renaturierung gezwungen

Um die Bedenken der Landwirte auszuräumen, wurde in den Verhandlungen ein Passus in das Gesetz eingefügt, der ausdrücklich festlegt, dass Landwirte nicht verpflichtet werden können, an Programmen zur Wiedervernässung teilzunehmen. Geplant sind stattdessen finanziell lukrative Anreize für die freiwillige Teilnahme an solchen Programmen.

„Gesetz für die Landwirtschaft“

Darauf, dass das Renaturierungsgesetz nicht gegen die Landwirtschaft gerichtet ist, sondern sogar überlebenswichtig für sie ist, haben zahlreiche Wissenschaftler hingewiesen. Mehr als 6000 Forscherinnen und Forscher haben in einem Appell die Verabschiedung des Gesetzes gefordert – gerade um die Landwirtschaft zu erhalten. Denn die ökologische Krise in der Agrarlandschaft gefährde die Ernährungssicherheit in Europa, argumentieren sie.

Ein fortschreitender Verlust der biologischen Vielfalt, etwa von Vögeln und Insekten, führe zu weiteren Verschlechterungen bei Bestäubung, Bodengesundheit und natürlicher Schädlingsbekämpfung, argumentieren sie. »Wenn die EU die Gesundheit, Produktivität und Widerstandsfähigkeit ihrer Böden … wiederherstellen will und die Natur weiterhin die europäische Ernährungssicherheit, die Beschäftigung, die Abschwächung des Klimawandels und die Wirtschaft unterstützen soll, muss sie ihr Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschieden und umsetzen«, heißt es in dem Appell.

Erleichterung über Abwendung von „German Vote“

Obwohl der jüngste Konflikt in der Ampelregierung weitgehend hinter den Kulissen ausgefochten wurde, hatte der Streit um die Zustimmung zum Renaturierungsgesetz das Potenzial zu einer weiteren Belastungsprobe für die instabile Koalition zu werden. Vereinzelt sprachen Grünen-Politiker von einer „roten Linie“ nach zahlreichen vorangegangenen Zugeständnissen an die Koalitionspartner und die Lobby der industriell geprägten Landwirtschaft. Bereits mehrfach hatte die FDP bei anderen Themen – zuletzt dem Lieferkettengesetz – in letzter Minute bereits beschlossene Zustimmungen zu europäischen Gesetzesvorhaben blockiert und damit eine deutsche Enthaltung erzwungen. Das Verhalten, lange und kontrovers über ein Gesetz zu verhandeln und dann über eine Enthaltung die eigene Uneinigkeit zu dokumentieren, ist inzwischen als „German Vote“ in Brüssel bekannt.

Kritik auch an SPD

Kritisiert wurde auf Seiten der Grünen auch die mangelnde Unterstützung durch den größten Koalitionspartner. „Die SPD guckt mal wieder zu“, hieß es. Auf Unverständnis stieß auch, dass Lindner die Zustimmung zum Renaturierungsgesetz offenbar bereits abgezeichnet hatte und auf Druck aus den eigenen Reihen zurückzog. Entsprechend groß war die Erleichterung nach der Einigung am Dienstagabend.

Der Staatssekretär im Umweltministerium, Jan-Niclas Gesenhues nannte das Einlenken der FDP im Gespräch mit RiffReporter „eine sehr wichtige Entscheidung für Natur, Klima und die natürlichen Grundlagen unseres Wohlstands.“ Das EU-Renaturierungsgesetz markiere den wichtigsten Fortschritt für den Naturschutz in Europa seit drei Jahrzehnten, betonte er.

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