Ob indigene Weltsicht oder westliche Aufklärung: Die Natur fordert ihr eigenes Recht

In der indigenen Weltsicht ist „Mutter Erde“ ein mystisches Wesen mit eigenen Rechten. Für uns im Westen klingt das seltsam. Aber wir können die Rechte der Natur auch aus unserer weltlichen, aufklärerischen Rechtstradition ableiten, sagt Philosoph Tilo Wesche im Interview.

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Wandgemälde, in grünen Tönen. Zeigt den Kopf einer liegnden, schlafenden Frau im Wasser. Um ihren Kopf herum windet sich eine grosse Schlange. Weitere Fische schwimmen im Wasser.

Mutter Erde und Mutter Boa im peruanischen Regenwald

Als Mariluz Canaquiry im peruanischen Nauta am 9. November 2023 vor der Richterin darlegte, warum der Fluss Marañón ein eigenes Recht erhalten sollte, berief sie sich auf ihre Ahnen und auf ihren vor Jahren im Fluss verschwundenen Cousin: „Er lebt in einer Stadt unter dem Marañon weiter.“ Davon ist die 56-jährige Frau vom Volk der Kukama überzeugt.

Der Fluss Marañón, an dem sie aufgewachsen ist, kann besser geschützt werden, wenn er als Person mit Rechten gesehen wird. „Er ist wie unser Kind, wir müssen auf ihn aufpassen“, sagt Mariluz Canaquiry, selbst vielfache Mutter und Großmutter.

Brustbild einer rund 50-jährigen indigenen Frau mit langen schwarzen Haaren. Im Hintergrund grünes Buschwerk.
Mariluz Canaquiry hat als Präsidentin der Frauenorganisation der Kukama vor Gericht beantragt, dass der Fluss Marañón eigene Rechte erhält. Die Entscheidung der Richterin steht noch aus.

Im Amazonas-Städtchen Nauta bedeutet dies vor allem, den Fluss zu schützen vor dem Erdöl. Das ist immer wieder in den letzten Jahrzehnten aus einer alten Pipeline ausgetreten, tötete Fische und machte das Wasser für den menschlichen Gebrauch ungenießbar. Eine andere Rechtsgrundlage gäbe dem Fluss auch ein Argument gegen das Vorhaben des peruanischen Staates, ihn zu einer breiten Wasserstraße für den Handelsverkehr auszubaggern.

In den nächsten Monaten muss die Richterin in Nauta entscheiden, ob sie dem Anliegen von Mariluz Canaquiry und ihrer Frauenorganisation Huaynakana nachkommT und dem Marañón eine eigene Rechtspersönlichkeit zuspricht.

Ein Fluss in der Dämmerung. Auf dem Fluss ein Kanu, darin sitzt ein rund 12jähriger Junge und paddelt.
Im Amazonasgebiet ist der Fluss Quelle allen Lebens, Wasserstraße, Lieferant für Lebensmittel. Schon Kinder lernen mit dem Kanu umzugehen und zu fischen.

Ein Eigentumsrecht für das Anthropozän

Mariluz Canaquiry in Peru ist mit ihrem Anliegen nicht allein, einen Fluss, Berg oder ein Ökosystem mit eigenen Personenrechten auszustatten und dadurch besser zu schützen. An die 400 Verfahren liefen oder laufen weltweit. Vorreiter sind dabei Neuseeland, Ecuador oder Spanien. Sehr oft wird das Recht der Natur mit der Kosmovision der indigenen Völker begründet. Ein Berg, ein Fluss, ein Feuchtgebiet gilt als heilig.

Wie aber kann ein Eigenrecht der Natur in einem Land wie Deutschland begründet werden, wo niemand mehr an Germanengötter glaubt, die im Wald hausen? Tilo Wesche, Professor für praktische Philosophie in Oldenburg, hat sich darüber Gedanken gemacht.

Brustbild eines rund 50-jährigen Mannes mit weissen Haaren und Brille.
Der Philosophieprofessor Tilo Wesche von der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg begründet das Recht der Natur mit dem westlichen Eigentumsrecht.

Hildegard Willer: Herr Wesche, wie sind Sie als Professor für praktische Philosophie auf das Thema „Rechte der Natur“ gestoßen?

Tilo Wesche: Zum einen habe ich mich gefragt, was uns in der ökologischen Debatte hinsichtlich Erderwärmung, Artensterben, globale Vermüllung und Ressourcenerschöpfung eigentlich fehlt. Uns fehlt es nicht an Wissen, sondern an Alternativen, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen. Dabei geht es mir nicht um große Utopien, sondern darum, wie wir uns auf eine nachhaltige Gesellschaft hinbewegen können. Zum anderen habe ich mich viel mit Eigentumstheorien beschäftigt und von daher war es naheliegend, die Fragen zu stellen: Wem gehört die Natur? Und was bedeutet es, Eigentum an der Natur zu haben?

Wie hat man im Westen historisch die Beziehung zwischen Eigentum und Natur verstanden?

Wesche: Ich war überrascht zu sehen, dass sowohl in religiösen als auch kulturellen Traditionen die Natur nicht dem Menschen gehört. Es gibt die Vorstellung, dass Gott Eigentümer der Natur ist, weil er die Welt geschaffen hat. In Neuseeland gehört der Fluss Wanganui den Ahnen, das ist auch ein Eigentumsverhältnis.