Post aus Genf: Zehn Jahre erfolgreiche UN-Expertise für Menschen mit Albinismus

Mittwochs alle zwei Wochen erzählen unsere Korrespondentïnnen, was sie und die Menschen in ihrem Teil der Welt bewegt. Heute: Ramona Seitz über zehn Jahre UN-Mandat der Unabhängigen Expertin für Menschen mit Albinismus und wie dieses Mandat die Situation von Menschen mit Albinismus in Tansania und weltweit stärkt.

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Eine Illustration. Eine Erdkugel, auf der eine Frau am geöffnetem Laptop arbeitet.

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Triggerwarnung: brutale Gewalt, Mord

Rückblick: Tansania, Juni 2024. Asiimwe N. wurde nur zwei Jahre alt. Das kleine Mädchen aus der Region Kagera wurde entführt und ermordet. Weil sie Albinismus hatte und weil noch immer manche Menschen fälschlicherweise glauben, die Körperteile von Menschen mit Albinismus hätten magische Wirkung – eine tödliche Lüge, verbreitet von kriminellen Netzwerken.

Menschen mit Albinismus können – je nach Form und Ausprägung der Genveränderung – das Farbpigment Melanin nur wenig oder nicht bilden. Haut, Haare und Augen können betroffen sein. Auch zwei Schwarze Elternteile können ein Kind mit Albinismus, ein Kind mit weißer Haut, bekommen. In Tansania und manch anderen Ländern Afrikas gab es vor circa zwanzig bis zehn Jahren einen Anstieg an Attacken auf Menschen mit Albinismus. Inzwischen konnte über Aufklärungskampagnen und andere Initiativen die Zahl der Attacken deutlich gesenkt werden. Doch noch immer gibt es diese Verbrechen. Anders geworden ist, wie die Gesellschaften reagieren, beispielsweise in Tansania.

Asiimwes Tod löste einen Aufschrei in der Bevölkerung aus. Sie war am 30. Mai 2024 ihrer Mutter entrissen worden, wurde entführt, verstümmelt und ermordet. Das Entsetzen und die Anteilnahme der Menschen in Tansania waren riesig.

Der Musiker Maalim Nash drückte seinen Schmerz über den gewaltvollen Tod – und dass es wieder passiert war – in einem Song aus, der viral ging: „Nianzie Wapi?“. Er besingt das Unfassbare, er weint, er fühlt mit – wie ein ganzes Land. Bis ins tansanische Parlament wurde der Mord an Asiimwe besprochen. Man war sich einig: Menschen mit Albinismus sollten durch weitere Maßnahmen besser geschützt werden.

Tansania ist eines der am meisten betroffenen Länder, wenn es um Attacken auf Menschen mit Albinismus geht. Die kanadische NGO Under the Same Sun zählt weltweit 734 Berichte über Attacken auf Menschen mit Albinismus – aus 31 Ländern. Auf Tansania allein entfallen 209 Berichte, darunter „79 Morde, 100 Überlebende, eine vermisste Person, 26 Grabschändungen, 3 Menschen in Asyl“.

Genf, Schweiz, Anfang Juni 2025. Ich stehe zwischen Wasserspielen auf dem „Platz der Nationen“ und blicke auf den überdimensionalen roten Broken Chair. Der berühmte rote Stuhl vor den Vereinten Nationen mit einem verstümmelten Bein. Dahinter, über der Straße, das altehrwürdige UN-Gebäude mit der „Allee der Flaggen“ aller Mitgliedsstaaten.

Eine Skulptur eines überdimensionalen roten Stuhles mit einem verstümmelten, abgebrochenen Bein. Im Hintergrund ein historisches Gebäude der Vereinten Nationen in Genf mit einer Allee an Länderflaggen davor
Der überdimensionale rote „Broken Chair“ auf dem Platz der Nationen in Genf ist weit mehr als nur ein bei Tourist:innen beliebtes Fotomotiv. Die Skulptur „ruft alle auf, das Unannehmbare nicht hinzunehmen und sich dafür einzusetzen, dass die Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft auf angemessene Entschädigung gewahrt werden“, so geschrieben auf der Erklärtafel.

Ursprünglich war die Skulptur von Handicap international konzipiert worden, um ein „Sprachrohr für die Opfer von Explosivwaffen“ zu sein, so steht es auf der Erklärtafel. Heute verkörpert dieser rote Stuhl „den verzweifelten, aber würdevollen Schrei der vom Krieg gezeichneten Zivilbevölkerung“. Er ruft alle auf, das Unannehmbare nicht hinzunehmen. Unweigerlich muss ich an Tansania denken.

Ich denke an Interviews, die ich am Rande von UN-Veranstaltungen geführt habe. Ich denke auch an die viel zu vielen Menschenrechtsverletzungen auf unserer Erde und daran, was aus unserer Welt geworden ist.

Ich denke an Menschen mit Albinismus.

Am 13. Juni ist Internationaler Tag der Aufklärung über Albinismus (International Albinism Awareness Day, IAAD). Außerdem jährt sich in diesem Jahr zum zehnten Mal das UN-Mandat der Unabhängigen Expertin für die Rechte von Menschen mit Albinismus.

Als Aufgaben des Mandats nennen die UN auf ihrer Website unter anderem „das Bewusstsein für die Rechte von Menschen mit Albinismus zu schärfen und Stereotypen, Vorurteile und schädliche […] Praktiken und Überzeugungen zu bekämpfen, die [Menschen mit Albinismus] daran hindern, ihre Menschenrechte wahrzunehmen und gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft teilzunehmen“. Auch soll die Unabhängige Expertin „sich mit Staaten und anderen relevanten Akteuren beraten“ und „dem Menschenrechtsrat Empfehlungen bezüglich der Rechte von Menschen mit Albinismus zu unterbreiten“.

Von 2015 bis 2021 war die Nigerianerin Ikponwosa Ero die erste Mandatsinhaberin, seit August 2021 ist Muluka-Anne Miti-Drummond aus Sambia im Amt. Beide Expertinnen habe ich im Zuge meiner journalistischen Recherchen zur Situation von Menschen mit Albinismus getroffen – hier in Genf oder in Dar es Salaam, Tansania.

Portraitaufnahme einer Frau mit lockigen Haaren und Brille. Die Frau hat Albinismus.
Ikponwosa Ero beim Africa Albinism Network Forum 2023 in Dar Es Salaam. Von 2015 bis 2021 war die Nigerianerin die erste Unabhängige Expertin der UN für die Rechte von Menschen mit Albinismus.
Eine Frau mit einer roten Halskette
Muluka-Anne Miti-Drummond beim Africa Albinism Network Forum 2023 in Dar es Salaam. Seit 2021 ist sie UN-Unabhängige Expertin für Menschen mit Albinismus.
Zwei Frauen posieren für Fotos vor einem Sprecher-Pult der UNO
Unsere Autorin Ramona Seitz und Ikponwosa Ero, UN-Unabhängige Expertin für Menschen mit Albinismus von 2015 bis 2021.

Als das UN-Mandat eingeführt wurde, war ich in Tansania, genauer gesagt: in Mwanza am Viktoriasee. Ich war in einer dieser Regionen, in der Menschen mit Albinismus besonders gefährdet waren – und leider in Einzelfällen immer noch sind. Dort habe ich neben Angst und Leid auch positive Entwicklungen gesehen. Schulen und Gemeinden, die Kinder mit Albinismus vorbildlich integrieren.

Ich habe 2016, ein Jahr nach Beginn des UN-Mandats, eine konstruktive journalistische Recherche gestartet. Mein Ziel: Das Leid nicht übersehen, aber auch schauen, was gut läuft. Denn an vielen Orten haben viele Menschen gemeinsam große Fortschritte erreicht. In etlichen Teilen Tansanias haben Menschen mit Albinismus gemeinsam mit Menschenrechtsaktivist:innen, NGOs, religiösen Institutionen, Politiker:innen, Künstler:innen und vielen weiteren Akteur:innen dazu beigetragen, Vorurteile abzubauen und Menschen mit Albinismus besser zu integrieren.

Ein Kind mit Albinismus von hinten fotografiert, im Gespräch mit einer Frau
Unsere Autorin Ramona Seitz im Gespräch mit einem Kind mit Albinismus in seiner Schule in Mwanza, Tansania.

Dass das Leben für Menschen mit Albinismus in Tansania und anderen Ländern wieder etwas sicherer geworden ist, ist neben vielen Akteur:innen im Land auch der Arbeit der UN-Expertinnen zu verdanken.

Sie haben Plattformen und Netzwerke geschaffen sowie Gesetzgebungen maßgeblich beeinflusst. So etwa den Aktionsplan 2021–2031 der African Union zur Beendigung von Attacken und anderer Menschenrechtsverletzungen an Menschen mit Albinismus sowie länderspezifische Pläne.

Am 5. Februar 2025 wurde Tansania am länderübergreifenden African Court für Menschenrechte in einem historischen Urteil schuldig gesprochen, die Rechte von Menschen mit Albinismus nicht ausreichend zu schützen.

Manches, was im Urteil von Tansania gefordert wird, beispielsweise die Einführung eines National Action Plans, war zu dem Zeitpunkt bereits umgesetzt. Am 3. Dezember 2024 hatte Tansania seinen „National Action Plan on Albinism“ verkündet. Doch „einen Nationalen Aktionsplan einführen, ist das eine, ihn umzusetzen, ist das andere“ sagt Perpetua Senkoro, eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, die selbst Albinismus hat. Sie bewertet positiv, dass es das Dokument nun gibt, betont aber: „Die Arbeit fängt gerade erst an“.

Vom Opfer zur Mutmacherin

Während ich auf dem Platz der Nationen in Genf stehe und zum Broken Chair blicke, denke ich an Mariam Staford in Tansania. Die damals junge Mutter war im Jahr 2009 nachts attackiert worden. Ihr kleiner Sohn musste mit ansehen, wie Kriminelle seiner Mutter beide Arme abhackten.

Gemeinsam mit meinem RiffReporter-Kollegen, dem Fotografen Björn Göttlicher, konnte ich Mariam Staford im Jahr 2018 besuchen. Eine NGO hatte ihr inzwischen Prothesen finanziert, womit sie Strickmaschinen bedienen und Kleidung herstellen kann. Mariam ist für mich zu einem Sinnbild an Resilienz geworden. Ihre Freundlichkeit, ihre Zuversicht machen vielen Menschen Mut.

Eine Frau mit Albinismus und Armprothesen und eine Schwarze Frau begutachten einen Pullover
Mariam Staford und ihre Mitarbeiterin zeigen einen selbst hergestellten Pullover. Das Foto entstand 2018, als unsere Autorin Ramona Seitz und Fotografen-Kollege Björn Göttlicher sie zuhause besuchten.
Eine Frau mit Albinismus und Armprothesen blickt für ein Foto in eine Kamera, sie lächelt.
Mariam Staford ist Überlebende eines Attentats. Ihre Arme hat sie verloren. Mit ihrer Resilienz und ihrem Optimismus ist sie für viele zum Vorbild geworden. Eine starke Frau.

Wenn ich den Broken Chair in Genf anschaue, denke ich an diese mutige Menschenrechtsverteidigerin, zu der sie geworden ist. Mariam Staford hat als Überlebende vor den Vereinten Nationen ihre Geschichte erzählt. Wann immer sie kann, setzt sie sich für die Rechte von Menschen mit Albinismus ein. Damit niemandem mehr das passiert, was ihr passiert ist.

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