Zehn Jahre Ni Una Menos: Eine Bewegung, die Lateinamerika verändert hat

Am 3. Juni 2015 protestierten zum ersten Mal Hunderttausende in Argentinien gegen Femizide. Die Bewegung Ni Una Menos breitete sich anschließend auf dem ganzen Kontinent aus. Nun sind ihre Errungenschaften in Gefahr.

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Eine Frau hält ein Banner mit der Aufschrift: Ni Una Menos

In den Wochen vor dem Femizid beobachtete Marcela Morera schleichende Veränderungen bei ihrer Tochter. Julieta Mena war damals 22 Jahre alt, sie lachte viel, hörte gerne Musik und wollte an der Universität studieren. Den Freund ihrer Tochter beobachtete Morera als kontrollierend, eifersüchtig und unsicher. Er wollte nicht, dass Julieta die Universität besucht, immer wieder machte er ihr Handy kaputt und tauchte unangemeldet an der Haustür auf, um zu kontrollieren, ob sie zu Hause war. Eines Tages kam sie mit einem blauen Fleck nach Hause. Sie habe ihn verdient, sagte Julieta zu ihrer Mutter. „In dem Moment ist für mich alles zusammengebrochen“, erinnert sich Morera. Wenige Tage später war ihre Tochter tot. Ihr Freund hatte sie erschlagen.

Es waren Femizide wie dieser, die in Argentinien die Bewegung Ni Una Menos (Nicht eine weniger) in anstießen. Am 3. Juni 2015 protestierten Hunderttausende im ganzen Land wegen des Mordes an einer 14-jährigen Schülerin. Auch sie war schwanger, als ihr Freund sie ermordete und im Garten seiner Großmutter vergrub. Raquel Vivanco demonstrierte damals vor dem Kongress in Buenos Aires. Schülerinnen, Studentinnen und Rentnerinnen hatten sich hier versammelt; sie trommelten, sangen und schrien gemeinsam: „Hört auf uns zu töten“. Es war der größte Protest, den Vivanco bis dahin erlebt hatte. „Ich fühlte mich wie ein kleiner Teil in einer riesigen Menschenmasse“, erinnert sie sich. „Dieser Tag hat die Geschichte der feministischen Kämpfe in Lateinamerika verändert.“

Nach dem Femizid an ihrer Tochter nahm Marcela Morera Kontakt zu einem Frauenhaus auf, wo sie Trost und Unterstützung fand. Jedes Wochenende verbrachte sie dort und sprach mit Frauen, die Gewalt erlebten. „Ich habe verstanden, dass die Frauen nicht selbst schuld an der Gewaltsituation sind, sondern dass die Männer sie so stark manipulieren, dass sie in der toxischen Beziehung wie gefangen sind“, sagt sie. „Aber als ich das verstand, war es für meine Tochter schon zu spät“. Morera begann, als freiwillige Helferin in dem Frauenhaus zu arbeiten und sich mit anderen Angehörigen von Opfern von Femiziden zu vernetzen. Später gründete sie die Angehörigenorganisation Atravesados por el Femicidio (Vom Femizid geprägt).

Trotz gesetzlicher Fortschritte ist die Zahl der Femizide nicht gesunken

Etwa zur gleichen Zeit gründete Raquela Vivanco die feministische Beobachtungsstelle „Ahora que si nos ven“ (Jetzt sehen sie uns), um Femizide und Gewalttaten gegen Frauen zu dokumentieren. Lateinamerika und die Karibik gelten als eine der gefährlichsten Regionen für Frauen weltweit. Mindestens 11 Frauen werden dort jeden Tag getötet, in Deutschland ist es etwa eine. Die Bewegung Ni Una Menos breitete sich von Argentinien aus in ganz Lateinamerika und darüber hinaus aus. „Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Phänomen. Femizide sind die Spitze des Eisbergs“, sagt Vivanco. Aus der Wut über die Femizide entstand eine breite gesellschaftliche Bewegung, die Gewalt gegen Frauen anprangert.

Raquel Vivanco blickt in die Kamera
Raquel Vivanco registriert seit 2015 Femizide in Argentinien.
Eine Frau bei einem feministischen Protest in Santiago de Chile
Die Bewegung Ni Una Menos breitete sich von Argentinien aus nach ganz Lateinamerika aus.
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