Das Verschwindenlassen der mexikanischen Studenten war ein Staatsverbrechen

Vor knapp acht Jahren verschleppten Polizisten, Militärs und Mafiakiller 43 Lehramtsanwärter in der mexikanischen Stadt Iguala. Die kriminelle Spur führt bis zur Generalstaatsanwaltschaft. Eine Wahrheitskommission recherchiert, gegen viele Verdächtige wird ermittelt. Aber gibt es je Gerechtigkeit?

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
8 Minuten
Menschen  stehen vor leeren Stühlen mit den Bildern ihrer verschwundenen Angehörigen im Lehrerseminar Ayotzinapa

Sie wurden von lokalen korrupten Polizist*innen festgenommen, Mitgliedern der Mafiabande „Guerreros Unidos“ übergeben und dann auf einer Müllhalde verbrannt. Dieses Bild zeichnete der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam vom Verlauf eines Verbrechens, das als eines der schwersten der neueren Geschichte Mexikos gilt: das Verschwindenlassen von 43 Studenten in der Stadt Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero.

Bereits vier Monate nach dem Überfall auf die jungen Männer ließ Mexikos oberster Strafverfolger keinen Zweifel an dieser Darstellung vom Ablauf der Nacht des 26. auf den 27. September 2014. Das sei die „historische Wahrheit“, erklärte der Jurist. Er betrachtete damit den Fall als gelöst und wollte die Ermittlungen beenden. Zahlreiche vermeintliche Täter*innen, Kriminelle und örtliche Polizist*innen, saßen bereits hinter Gittern.

Knapp acht Jahre später kam nun eine Wahrheitskommission zu dem Schluss: „Die Kreation der ´historischen Wahrheit´ war eine konzertierte Aktion des Machtapparats auf höchster Regierungsebene, um zu verschleiern, was tatsächlich passiert ist.“ So steht es in einem Bericht der Kommission, der Mitte August vorgestellt wurde.

Manipulierter Tatort, gefolterte Zeugen

Das Verbrechen sollte bewusst auf ein lokales Problem reduziert werden. Um das zu erreichen, seien unter Beteiligung Murillo Karams der Tatort manipuliert und die Verbindungen der Behörden zu kriminellen Gruppen sowie die Beteiligung von Beamt*innen, Sicherheitskräften und Strafverfolger*innen verschwiegen worden, erklärte Kommissionsleiter Alejandro Encinas und sprach von einem „Staatsverbrechen“. Einen Tag nach der Präsentation des Berichts wurde Murillo Karam festgenommen, am 24. August erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen ihren ehemaligen Kollegen. Die Vorwürfe: Folter, Verschwindenlassen, Behinderung der Justiz.

Die Berge des mexikanischen Bundesstaats Guerrero. Sind hier die verschwundenen Studenten?
Berge von Guerrero: Wo sind die 43 verschwundenen Studenten?

Schon unmittelbar nach der Tat fragten sich viele:: Warum diese brutale Reaktion? Warum töteten die Täter*innen sechs Menschen und ließen 43 Studenten des Lehramtsinternats Ayotzinapa verschwinden? Die angehenden Lehrer hatten in Iguala mehrere Busse gekapert, mit denen sie nach Mexiko-Stadt fahren wollten, um dort an einer Demonstration zur Erinnerung an ein Massaker an hunderten Student*innen 1968 teilzunehmen. Doch das allein kann den blutigen Angriff nicht erklären, zumal die „Beschlagnahme“ von Bussen für politische Zwecke in Mexiko eine nicht unübliche Praxis radikaler Gewerkschafter*innen und sozialer Aktivist*innen darstellt.

Spitzel des Militärs unter den Opfern

Auch die Wahrheitskommission konnte den Tathintergrund nicht aufklären. Doch einiges spricht dafür, dass die Studenten unwissentlich einen Bus beschlagnahmt hatten, in dem sich große Mengen Heroin befanden, die in die USA geschmuggelt werden sollten. Das legen Recherchen einer internationalen Expertengruppe (GIEI) nahe, die sich auf Bitten der Angehörigen der Opfer mit dem Fall beschäftigt hatten. Das würde erklären, warum in den Angriff auch bundesstaatliche und föderale Sicherheitskräfte sowie Militärs eingebunden waren. Diese Kreise bilden die Netzwerke, die den massiven Drogenanbau, -transport und -schmuggel erst ermöglichen.

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Leere Stühle: Im Lehrerseminar Ayotzinapa wartet man auf die Rückkehr der verschwundenen Studenten