Kolumbiens bellende Bestseller-Autorin
Vom halbtoten Straßenköter zur Diva der Buchmesse: Linda Guacharacas Geschichte motiviert nicht nur Schulkinder, ihr Leben in die Hand zu nehmen

Das ist die Geschichte von Linda Guacharaca und darüber, wie sich das Leben von einem Tag auf den anderen vollkommen verändern kann: für eine Straßenhündin, für viele kolumbianische Schulkinder und für eine Jura-Dozentin.
Die Geschichte beginnt an einer Raststätte ein paar Kilometer vor Bogotá in einer Februarnacht 2013. Yamila Fakhouri und ihr Freund halten dort an, um etwas zu essen. Vor der Türe lungern Hunde herum, um Essensreste zu ergattern. Yamila Fakhouri geht mit einem Knochen hinaus.
„Ich hatte noch nie so ein Tier gesehen“
„Ich gehe an diesem Lastwagen vorbei. Es war total dunkel, und auf einmal springt mir etwas an die Hand, in der ich den Knochen hatte“, sagt Yamila Fakouri. „Ich habe einen Schrecken bekommen. Natürlich war der Knochen weg. Ich schaute nach unten, und da war Linda…“
Die Beinchen der Hündin sind wie Fledermaus-Flügel: Haut und Knochen. Sie kann nicht laufen, die Hinterbeine nicht ausstrecken. Sie bewegt sich wie eine Raupe. Ohne zu überlegen, steckt Yamila Fakhouri die Straßenhündin in den Kofferraum des Autos und nimmt sie mit nach Hause. Das einzige, an das die Jura-Dozentin in dieser Situation denkt ist, ob die Hündin wohl jemand gehört. Sie fragt im Restaurant neben der Tankstelle nach. Da weiß man nur, dass es eine Hündin ist, die bereits einmal läufig war, und dass sie überfahren wurde.
Weil sie so wahnsinnig hässlich ist, nennt Yamila sie Linda, die Schöne.

Die Diva der Buchmesse
Vier Jahre später sitzt Linda ordentlich gekämmt und mit einem rosa Halstüchlein geschmückt als erste schreibende Hündin auf der Buchmesse in Bogotá. Ihr Buch La vida es Linda geht weg wie heiße Semmeln. Die Leute stehen Schlange, um ein mit ihrer Pfote gestempeltes Exemplar zu bekommen. Und sie lernt ihren Schriftstellerkollegen Fernando Vallejo kennen, einen passionierten Tierschützer.
„Über ein Jahr lang kratze ich an den Türen, um einen Verlag zu finden, der meine unheimlichen Abenteuer veröffentlichten möchte. Nachdem mir mehrere Türen vor der Nase zugeschlagen wurden, beschloss ich, zusammen mit meiner Mama, mein erstes Buch selbst zu veröffentlichen”, schreibt Linda in ihrem Blog.

Die erste Auflage des Buches kam durch Crowdfunding im Eigenverlag zustande – eine harte Hürde in einem Land, in dem eher wenig gelesen wird und wo man nicht so sehr in Projekte vertraut, die sich noch nicht materialisiert haben. Heute sind Linda Guacharacas Bücher – mittlerweile sind es vier – Besteller. Übersetzungen auf Englisch und Deutsch sind in Arbeit.
In ihrem ersten Buch „erzählt” die Hündin Linda, wie es ihr nach der Begegnung mit ihrer späteren Ghostwriterin Yamila Fakhouri ergangen war.


Linda kämpft sich zurück ins Leben
Es stellte sich heraus, dass die Linda nicht nur halb verhungert war, sondern einen siebenfachen Knochenbruch erlitten hatte. Das rechte Hinterbein hing lose herum. Sie hatte eine Beule in der Magengegend. Die Tierärzte rieten zu einer Notoperation oder dazu, sie einzuschläfern. Kommt nicht in Frage für Yamila Fakhouri.
Mit der kranken Hündin Linda muss sie viel Zeit zu Hause verbringen. Sie kann nicht ausgehen, nicht verreisen. Es ist wie eine Art Lockdown. Um nicht traurig zu werden, fängt sie an, einen Blog zu schreiben für ihre Familie und ihre Freunde – und zwar aus der Sicht von Linda.
„Wundert euch also nicht, dass ich, sobald ich meine zitternden Pfoten in die Maisonettewohnung mit Kochnische, Balkon und spektakulärem Blick auf Bogotá gesteckt hatte, im Wohnzimmer unter dem verkroch, was sie „Sofa“ nannten, und mich auch mit einer Scheibe Schinken vor der Nase nicht herauslocken ließ. Ich verbrachte die Nacht bewegungslos in dieser Ecke, während die dunkelhaarige junge Frau oben im Schlafzimmer eine Panikattacke erlitt wegen dem, was sie gerade getan hatte: ein unbekanntes, misstrauisches, verängstigtes, unterernährtes und bewegungsunfähiges Tier in ihr Haus zu holen… und in ihr Leben, “ schreibt Linda.

Strenges Trainingsprogramm
„Sie bestand darauf, mit mir so oft spazieren zu gehen wie sie mich fütterte. Angeblich, um mich zu trainieren, in der Überzeugung, dass ich wieder laufen würde. Da ich nicht der gleichen Meinung war, wollte ich mich nicht vom Sofa erheben. Dann trug sie mich auf ihren Armen und setzte mich vor der Haustür ab… Ich versuchte aufzustehen, aber es war eine gigantische, herkulische und titanische Anstrengung mich allein mit Vorderpfoten-Antrieb aufzurichten, weshalb ich mich wieder auf den Boden fallen ließ. Arriba, Linda, hoch mit dir, drängte sie.“
Linda erzählt ihren Alltag, wie sie wieder laufen lernt und wie sie das Allerschlimmste übersteht: gewaschen zu werden. „Es war eine harte, superharte Zeit, die ich dem nicht wünsche, der mich überfahren hat, nicht denen, die mir monatelang dabei zusahen, wie ich da draußen am Verhungern war und auch nicht dem Erfinder der Dusche… Nicht einmal meinem schlimmsten Tierarzt!“

Sie schlackert wie die besten Salsatänzer
Durch Lindas Sichtweise bekommt alles eine humorvolle Wendung. Sie zieht die Blicke an, weil sie so krumm ist und das gebrochene Bein herumschlackert. Sie aber findet: „Ich hab tumbao!“Tumbao haben die besten Salsatänzer, wenn sie in einen Flow geraten, und Linda fühlt sich als die attraktivste Hündin im Park.
„Du wirst es nicht glauben, aber kaum hatte ich meine Pfoten in die Stadt gesetzt, wurde ich berühmt“, schreibt Linda. „Jeder, der vorbeikam, interessierte sich für meine Geschichte. Meine Kollegen, die Obdachlosen, riefen voller Bewunderung aus: So hässlich und so klapperdürr… Aber du hast jemanden, der dich liebt!“

Yamila Fakhouri, die in Bogotá heimisch gewordene Jura-Dozentin aus Spanien, führt zunächst eine Art Doppelleben: „Ich schrieb die Blogs aber mein Name tauchte nirgends auf. Ich war immer noch Dr. Fakhouri an der Universidad de los Andes. Gleichzeitig gab es diesen spielerischen, lustigen, kreativen Teil von mir in den Blogs”, sagt sie. „Im Laufe der Zeit habe ich alle Widerstände überwunden, auch die meiner Eltern, die von der Idee als Ghostwriterin von Linda zu leben, anstatt Strafrecht zu unterrichten, nicht gerade begeistert waren. Meinem Doktorvater habe ich später ein Exemplar des ersten Buches geschenkt.“
Bald hat Lindas Blog tausend Besucherïnnen. Dann kommt die Presse auf die Geschichte, und es entsteht das erste Buch: „La vida es Linda“ (Das Leben ist schön). Gerade ist die sechste Auflage erschienen.

Die Kinder entdecken Linda
Auf der Buchmesse in Bogotá schenkt Yamila Fakhouri das Buch eine Lehrerin, die in der Region Antioquia unterrichtet. Wo es der zwölfjährige Camilo entdeckt, der wegen seiner Hyperaktivität den Unterstützungsunterricht besucht. Es ist das erste Buch, das er bis zum Ende liest, alle 250 Seiten. Er schreibt Linda, dass ihm ihr Buch so gut gefallen hat, weil es so liebevoll ist, und dass er Tierarzt werden will. „Ich hoffe, dass du uns bald besuchst und ich dir dein Bäuchlein streicheln kann.“
Währenddessen wird Linda immer berühmter. Es erscheint eine ganze Seite im Diario ADN, einer Gratis-Zeitung, die vor der Metro in Medellín verteilt wird, aber auch El Espectador und El Tiempo berichten mehrmals über die schreibende Hündin. Die Kinder sehen sie auch im Fernsehen. Denn Linda hat mittlerweile nicht nur laufen gelernt, sondern reist auch quer durch Kolumbien und Spanien. Darüber berichtet sie in ihrem zweiten und dritten Buch.

Eine Schulklasse im Linda-Fieber
Ein halbes Jahr später schreibt Camilos Lehrerin. „Linda, schau mal in deine Emails, alle Kinder haben durch Camilo dieses Buch entdeckt und alle haben dir geschrieben. Das war vor drei Tagen, und jetzt machen sie mich verrückt!“ Die Schulklasse aus Apartadó in Antioquia beschließt, Lindas Geschichte auf die Bühne zu bringen. Sie laden Linda zur Aufführung ein, und die Hündin reist durch ganz Kolumbien, um dort hinzukommen, wo sonst keiner freiwillig hingeht, weil es eine nicht ganz ungefährliche Gegend ist.
Yamila Fakhouri und Linda werden glorreich auf einem geschmückten Wagen durch das Städtchen kutschiert. Dahinter trottet ein dürrer Straßenhund, ganz schüchtern auf dem Bürgersteig. Als der Wagen an der Schule ankommt, steht da ein großes Schild: Hunde verboten!
Während Linda ohne Probleme hinein spaziert, schlägt die Türe vor der Nase des Straßenköters zu. Doch bevor die Gäste aus Bogotá einschreiten können, sagt die Lehrerin: „Die Kinder haben die Hündin schon zum Tierarzt gebracht. Sie heißt jetzt «Linda, die Zweite» und sie haben eine Familie für sie gefunden!”
„Die Kinder hatten ein Plakat gemalt, sie hatten sich alle T-Shirts machen lassen mit Lindas Look mit ihrem roten Halstuch“, erzählt Yamila Fakhouri. „Sie haben sich auf uns geschmissen, sie haben geweint, und dann habe ich dieses Theaterstück gesehen und habe auch geheult, weil das war wirklich mein Leben!“
Für die Kinder wird Linda zum Vorbild. Auch für Fabio, der einen halb gelähmten Arm hat. Im Theaterstück spielte er zwei Rollen, er trägt Stühle und macht überall mit. „Ich bin so wie du“, hatte er Linda geschrieben.
Viele Menschen lassen sich durch Lindas Geschichten inspirieren
Die Botschaft, die Lindas Geschichte für die Kinder vermittelt, lautet: ¡Arriba! Auf! Selbstüberwindung. Über den eigenen Schatten springen. Das wird Yamila Fakhouri bei ihren Besuchen in dieser und anderen Schulen klar.
Doch nicht nur die Kinder lassen sich durch Linda inspirieren. Unter den Fans, die ihr schreiben, sind viele schwer kranke Menschen, die neuen Mut schöpfen, sagt Yamila Fakhouri.
Auch ihr Leben hat Linda verändert. Sie unterrichtet heute kein Strafrecht mehr, sondern forscht zu den Rechten der Tiere, schreibt und gibt einen Podcast heraus.