„Ihr habt Euch mit der falschen Generation angelegt“

Massenproteste in Peru: Vier Peruanerinnen erzählen, was sie seit einer Woche auf die Straße treibt.

9 Minuten
Junge schwarzgekleidete Frau mit weißem Mundschutz hält Hand kämpferisch in die Höhe. Es ist Nacht. Im Hintergrund Bäume, Laternen und weitere Demonstrierende.

Seit das peruanische Parlament Präsident Martín Vizcarra abgesetzt hat, kommt das Land nicht zur Ruhe. In den vergangenen Tagen sind schätzungsweise insgesamt eine Million Menschen im Land auf die Straßen gegangen. Wir haben uns in Lima umgehört.

Als Andrea Morales auf Whatsapp las, dass das Parlament den Präsidenten tatsächlich abgesetzt hatte, war sie einen Moment lang wie erstarrt. Dann war der 23-jährigen Journalismus-Studentin aus Lima klar: „Jetzt müssen wir auf die Straße."

Doch das war erst mal gar nicht so einfach. „Seit dem Lockdown im März wegen Corona war ich voll mit den virtuellen Kursen an der Uni beschäftigt und hatte mich wenig um Politik gekümmert." Über die sozialen Netzwerke organisierte Andrea Morales eine Gruppe von Mit-Studierenden, die sie bisher nur über den Bildschirm kannte.

An jenem Montagabend trafen sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, mitten in der historischen Altstadt von Lima, seit jeher Treffpunkt für Demonstrationen. Trotz Covid, trotz Ausgangssperre ab 23 Uhr, trotz mangelnder Busverbindungen, trotz Ängsten der besorgten Eltern, die überzeugt werden mussten.

Ein Staatsstreich, aber durch den Kongress

Normalerweise funktioniert ein Staatsstreich in einem lateinamerikanischen Land ja so, dass ein demokratisch gewähltes Parlament von einem Alleinherrscher aufgelöst wird. In Peru ist es dieses Mal genau umgekehrt: Am Montag, den 9. November, hat der peruanische Kongress Präsident Martin Vizcarra wegen „permanenter moralischer Unfähigkeit“ abgesetzt und den recht unbekannten Parlamentspräsidenten Manuel Merino ins Präsidentenamt gesetzt.

Seitdem ist ganz Peru in Aufruhr. Jeden Abend ertönen Kochtopf-Konzerte. In allen Landesteilen gehen vor allem junge Menschen auf die Straße und protestieren gegen das, was sie als Staatsstreich einer korrupten Politikerklasse empfinden. Hunderttausende vor allem junger Peruaner*innen bevölkern die Straßen und Plätze.

Alle tragen sie Masken, vermeiden die sonst üblichen Protestrufe und schwingen statt dessen Rasseln und Tröten. Der Lärm ist ohrenbetäubend, das Gedränge gross. Immer wieder kommt es zu Übergriffen der Polizei, die das Kongressgebäude und andere Teile der Altstadt abschirmt und dafür Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstrierenden einsetzt.

In der Nacht zum Sonntag kam es zu ersten Todesopfern: Zwei junge Männer starben an vielfachen Gummigeschoss-Einschlägen der Polizei. 112 Personen wurden verletzt, 41 sind noch vermisst (update 16.11.: Es werden noch zwei Demonstranten vermisst) . „Die dunkelste Nacht Perus in den letzten 20 Jahren“, kommentierte Menschenrechtsanwältin Mar Perez in einem peruanischen Fernsehsender.

Dabei galt gerade Peru als eines der südamerikanischen Vorzeigeländer.

Mehrere demonstrierende Personen stehen zusammen. Eine Frau hält einen Karton hoch, auf dem aus Spanische steht: „Mit der Bildung macht man keine Geschäfte.“
„Mir der Bildung macht man keine Geschäfte“: Viele sind wegen der schlechten und dennoch teuren Universitätsbildung in Peru auf die Straße gegangen.

Wirtschaftswachstum und Korruption

Wer Peru in den letzten 20 Jahren nur unter volkswirtschaftlichem Blick betrachtete, war des Lobes voll: stetiges Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation, stabiler Wechselkurs, Freihandelsverträge mit der ganzen Welt. Eine einigermaßen stabile Demokratie. Doch im Innern zeigte sich der Verfall.

Spätestens als vor sechs Jahren die Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht öffentlich wurden, kam ans Licht, wie korrumpierbar die politische Klasse war. Seit 1985 sind oder waren alle peruanischen Präsidenten entweder im Gefängnis (Alberto Fujimori und Ollanta Humala), in Auslieferungshaft (Alejandro Toledo) oder stehen unter Hausarrest (Pedro Pablo Kuczynski). Ex-Präsident Alan Garcia hatte sich erschossen, bevor die Polizei ihn abholen konnte.

Martin Vizcarra war im März 2018 dem wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Pedro Pablo Kucyznski im Präsidentenamt nachgefolgt. Durch seine Reformen im Wahl- und Justizbereich hatte er sich schnell mit dem Parlament angelegt. Zuletzt geriet Vizcarra selbst unter Korruptionsverdacht. Mit der schwammigen Verfassungsklausel „permanente moralische Unfähigkeit“ hat ihn der Kongress am 9. November mit 105 von 130 Stimmen des Amtes enthoben.

Präsident Vizcarra wollte aufräumen

Dabei war Vizcarra ein belieber Präsident. Er hatte das Land so gut als möglich durch die Corona-Krise geführt. Doch er konnte weder die tiefgehende Korruption abschaffen noch das rückständige Gesundheitswesen auf die Schnelle sanieren. Im Juli 2021 hätte Vizcarra das Amt abgegeben. Denn im April 2021 stehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an, bei denen Vizcarra verfassungsgemäß nicht mehr antreten kann.

Nach seiner Absetzung übernahm der bis dahin unbekannte Parlamentspräsident Manuel Merino die Regierung. Ganz legal. Doch deswegen noch lange nicht legitim. Denn der Kongress gilt selber als korrupt: Gegen 68 der 130 Abgeordneten sind Straf- und Untersuchungsverfahren im Gange, die von Mord bis Geldwäsche reichen. In Peru gibt es praktisch keine klassischen politischen Parteien mehr, sondern Wahlbünde, die sich um Partikularinteressen scharen und die sich die Pfründe und Gewinne unter sich aufteilen.

Auch deswegen sind Andrea Morales und schätzungsweise über eine Million Peruaner*innen im ganzen Land auf die Straßen gegangen.

Junge Frau mit weißem Mundschutz, Brille, trägt ein Plakat vor der Brust, auf dem in spanisch steht: „La democracia no se vende“. Die Demokratie lässt sich nicht verkaufen.
Die 23-jährige Studentin und Polit-Aktivistin Andrea Morales hat jeden Tag an den Demos teilgenommen und Kommiliton*innen organisiert.

„Es reicht nicht, ein tolles Plakat zu malen“

Sehr bald haben Andrea Morales und ihre Kommiliton*innen erfahren, dass mit der Polizei nicht zu spaßen ist. Tränengas und Gummigeschosse flogen. Andrea Morales war schon früher politisch aktiv gewesen und bereitete sich vor. „Es reicht nicht, ein paar Filzstifte und einen Karton mitzubringen, um ein tolles Plakat zu malen“, sagt die 23-jährige. „Wir mussten lernen, dass man sich mit Essig oder Natron vor Tränengas schützen kann, oder wie man eine Tränengasbombe entschärft.“

Einen Crash-Kurs im Demonstrieren haben die jungen Peruaner*innen bei ihren chilenischen Nachbarn gefunden: Dort protestieren Jugendliche seit über einem Jahr, und im Internet zirkulieren Anleitungen, wie man eine Demo unverletzt überstehen kann.

Gegen die Ramsch-Universitäten

Sirley Calderon gehört mit ihren 47 Jahren zu den wenigen Demonstrant*innen, die die vierzig überschritten haben. Die Hausfrau fürchtet besonders um die Zukunft ihrer Kinder. „So viel Korruption, soviel Angst. Ich habe Sorge um meine Kinder, dass sie keine gute Ausbildung bekommen. Der Präsident will die korrupten Universitäten unterstützen."

In Peru ist eine Universitätsausbildung immer noch der Garant für den sozialen Aufstieg. Da die Plätze an staatlichen Universitäten nicht ausreichen, besucht ein Großteil der peruanischen Studierenden private Universitäten. Viele Eltern kratzen ihr letztes Geld zusammen, um ihre Kinder an eine Privatuni zu schicken, an der sie jedoch eine schlechte Ausbildung erhalten.

Denn in Peru ist eine Universität in erster Linie ein Geschäft, seit das Land vor fast 30 Jahren gewinnorientierte private Universitäten zugelassen hat. Im Parlament sitzen mehrere dieser Universitäts-Konzern-Besitzer, die sich mit Händen und Füßen gegen die von Vizcarra begonnene Universitätsreform wehren. Diese stellt sie unter strenge staatliche Aufsicht und legt ihnen Anforderungen an Qualitätsbildung auf, die sie nicht erfüllen können. Diese Unireform ließ sie sogar diesen Staatsstreich in die Wege leiten.

Junge Frau sitzt auf den Stufen eines grossen historischen Platzes in Lima. Neben sich ein Plakat. „Hoy luchamos por todos los peruanos que no pueden estar presentes“. „Heute kämpfen wir für all jene Peruaner, die nicht hier sein können“
Peru gehört zu den Ländern, in denen weltweit am meisten Menschen an Covid19 gestorben sind. Deswegen haben wenig ältere Menschen an den Demos teilgenommen, und stattdessen ihre Kinder und Enkel geschickt.

Vom Corona-Virus geprägt

“Wir kämpfen für all jene Peruaner, die nicht hier sein können.“ Die 24-jährige Marly Viena hält ihr Plakat mit roten Lettern in die Kamera. „Ich bin hier auch anstelle meiner Eltern, Großeltern und Geschwister, die nicht da sein können, weil sie zur Corona-Risikobevölkerung gehören.“

Die junge Juristin hat eben ihren Job bei der staatlichen Kartellbehörde an den Nagel gehängt. Zuviel Korruption, sagt sie. Jobs würden dort nur nach Beziehungen vergeben, nicht nach Können. Sie ist aufgebracht gegen die herrschende politische Klasse. Es reicht ihr. „Das Beste wäre, wenn die Regierung zurücktritt, und aus den 19 Abgeordneten, welche die Absetzung nicht unterstützt haben, eine Übergangsregierung gewählt wird."

Junge Frau mit Mundschutz trägt ein Plakat. Darauf steht auf Spanisch: „Ihr habt Euch mit der falschen Generation angelegt.“
Mariafé Barragán (22) trägt den Klassiker der Proteste: „Ihr habt euch mit der falschen Generation angelegt.“

Eine bessere Wahl treffen

Mariafe Barragan hält eines der Plakate hoch, die bei den Demos am häufigsten zu sehen sind. Darauf steht: “Ihr habt euch mit der falschen Generation angelegt.“ Barragan ist 22 Jahre alt und angehende Juristin. Sie sagt:

„Ich bin nicht einverstanden mit dem neuen Präsidenten, nicht damit, dass es keine Gewaltenteilung mehr gibt. Klar, es ist legal. Aber wir stehen als Land immer noch unter dem Corona-Schock, das schürt jetzt zusätzlich die wirtschaftliche und soziale Instabilität. Ich möchte, dass wir gute Regierende haben, dass wir bewusst wählen und dass die Leute wissen, wie wichtig ihre Stimme ist.

Denn die Politiker*innen, die bisher gewählt wurden, haben nur ihr eigenes Wohl im Auge. Die Korruption dauert schon zu lange. Wer sich auf die Politik einlässt, macht sich dabei die Finger schmutzig, weil am Ende immer nur das Geld zählt. Mit einigen Freund*innen gehe ich in die Armenviertel, da, wo es kein Internet gibt, um über die Bedeutung der Wahlen aufzuklären.“

Für eine neue Verfassung

Momentan überwiegt die Entrüstung. Aber was soll danach kommen? Hier sind die Vorstellungen unterschiedlich. Einige wollen eine neue Übergangsregierung, andere warten auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichtes, in der Hoffnung, diese würde nachträglich die Klausel der „moralischen Unfähigkeit“ für ungültig erklären.

Andrea Morales möchte gleich eine neue Verfassung: „Die Verfassung ist der Schlüssel zu allem, zu den wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Dass der Markt nicht mehr die alleinige Bedeutung bekommt.“ Chile – wo die Bürgerproteste zu einer neuen verfassungsgebenden Versammlung geführt haben – sei das Vorbild. Aber noch sind sie mit ihrem Anliegen in der Minderheit, weiß Andrea Morales.

Kongress genauso korrupt wie die Gesellschaft

Ein Grundübel sei, dass nicht alle Menschen, die sich über die aktuelle Regierung empören, gewillt sind, selber politisch aktiv zu werden. „Alle sagen, dass der Kongress uns nicht repräsentiert“, sagt Pilar Gavilano, Psychoanalytikerin und Vorsitzende der peruanischen psychoanalytischen Gesellschaft. „Aber natürlich repräsentiert er uns. Er repräsentiert die negativen Anteile in uns, die wir nicht sehen wollen: unsere destruktiven und egoistischen Anteile, unsere eigene Neigung zur Korruption.“

Es sei sehr schwierig, diesen inneren Konflikt auszuhalten. Einfacher sei es, alles Schlechte und Schmutzige nach außen zu projizieren und sich selber als „rein“ und „unkorrumpierbar“ zu sehen. Wer möchte, dass die Politik die guten Anteile repräsentiere, müsse in die Politik gehen.

„Wir sind schon zu lange politisch abstinent, sind traumatisiert durch die politische Geschichte unseres Landes“, kommentiert die Psychoanalytikerin. „Es ist einfacher, außen vor zu bleiben und sich dann darüber zu beschweren, wie eklig die Politik sei", sagt Pilar Gavilano.

Jugend muss Angst vor Politik ablegen

Die 23-jährige Andrea Morales gehört zu den wenigen jungen Peruaner*innen, die keine Angst davor haben, sich in die Politik zu begeben. Sie glaubt, es brauche noch Zeit, bis ihre Kommiliton*innen nicht nur die Entrüstung, sondern auch die Politik für sich entdecken.

„Unsere Generation ist apolitisch, hat sich immer nur für einen guten Abschluss und danach für einen guten Job interessiert”, sagt Andrea Morales. Das würde sich nun ändern. “Wir merken, wie uns die Politik alle angeht, wenn unser Recht zu protestieren eingeschränkt wird." Nach und nach, so ihre Hoffnung, werden die jungen Peruaner*innen ihre Angst vor der Politik ablegen. Die Angst, so korrupt und verhasst zu werden, wie die Politiker*innen, gegen die sie auf die Straße gehen.

Interims-Präsident ist weg, Proteste gehen weiter

Am Sonntagmorgen ist Interims-Präsident Manuel Merino zurückgetreten. Wer ihm im Amt nachfolgt, ist noch unklar.

Andrea Morales und ihre Kommiliton*innen werden weiter protestieren. Sie wollen sich besser gegen Polizeigewalt schützen, mit Helmen und Taschenlampen. Ein Mitglied ihrer Gruppe wird noch vermisst. „Wir haben Angst, aber die Angst lähmt uns nicht.“

Update am 17. 11.: Am 16. November hat das peruanische Parlament ein neues Parlamentspräsidium gewählt. Der Vorsitzende, Francisco Sagasti, wird das Präsidentenamt bis Ende Juli übernehmen. Sagasti ist ein liberal-konservativer Ingenieur und Ökonom, der sich vor allem mit Innovationspolitik in Wissenschaft und Technologie beschäftigt hat.

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