„Hier ist nichts mehr rund, hier ist alles kaputt“

Weltreporterin Kerstin Zilm über New York im September 2001 und die USA 20 Jahre später

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
7 Minuten
Schwarz-weiss-Foto von Trümmern des World Trade Centers, im Vordergrund eine Straßenschlucht mit einer Gruppe von Soldaten der Nationalgarde

Im September 2001 arbeitete ich als freie Journalistin in Washington DC. Anderthalb Jahre später zog ich um nach Kalifornien und wurde Leiterin des ARD Radiostudios für die US Westküste. Die Anschläge vom elften September haben das Land auch 4500 km entfernt von Ground Zero massgeblich verändert. Am Militärstützpunkt Camp Pendleton südlich von Los Angeles wurden tausende Soldaten für den folgenden Krieg in Afghanistan ausgebildet. 776 Menschen, die in Kalifornien lebten, wurden bei den Militäreinsätzen getötet. Aus Kalifornien kommt auch die einzige Kongressabgeordnete, die gegen den Einsatz stimmte – Barbara Lee aus Oakland.

An den Morgen des 11. Septembers 2001 erinnere ich mich bis heute in seltsamer Schärfe.

Ein sonniger Morgen in Washington DC

Es ist viertel vor neun, der Himmel wolkenlos. Durchs offene Fenster in Washington kommen frische Herbstluft und die Stimmen von zwei Nachbarinnen, die sich darüber beschweren, dass mal wieder jemand seine leeren Chips-Tüten und Cola-Becher im Waschkeller ‘vergessen’ hat. Ich sitze auf dem Sofa bei meiner dritten Tasse Kaffee und telefoniere mit einem Kollegen in Berlin. Wir sprechen darüber, wie ich die bevorstehende Tagung des Internationalen Währungsfonds als möglichst interessanten Hörfunk-Beitrag umsetzen kann.

Eine Frau Mitte dreißig, blond mit dunklem T-Shirt, posiert vor dem Reflecting pool und dem Washington Monument
Vor den Anschlägen – Weltreporterin Kerstin Zilm in Washington DC

Während wir reden, fällt mir auf, dass sich der Tonfall im Frühstücksfernsehen, das nebenher läuft, geändert hat – von locker-flockig zu nervös-angespannt. Ich schaue hoch von meinen Notizen und denke, ich sehe eine Vorschau für einen neuen Action Thriller von Roland Emmerich: Dicke Rauchwolken steigen aus dem World Trade Center in New York. In einem der Türme klafft ein riesiges, brennendes Loch. In den Straßenschluchten rennen Menschen um ihr Leben. “Breaking News, ” lese ich, ein Flugzeug ist in einen der Türme geflogen. “Ich glaube, ich muss die Aktuellen anrufen, ” sage ich dem Kollegen. Ich habe noch kein Handy und nur diese eine Festnetz-Leitung. Kaum lege ich auf, klingelt schon das Telefon.

Gekidnappt auf dem Weg nach Los Angeles und San Francisco

Die Westküste ist mit den Attacken am 11. September 2001 eng verbunden: Alle Flugzeuge, die die islamistischen Terroristen kidnappten waren auf dem Weg nach Kalifornien: Die zwei Flugzeuge aus Boston, die die Extremisten in New Yorks World Trade Center steuerten sollten sechs Stunden später in Los Angeles landen. Auch das Flugzeug aus Washington, das ins Pentagon stürzte, startete mit dem Ziel Los Angeles. Die Maschine, die in Pennsylvania abstürzte, war auf dem Weg von Washington nach San Francisco.

Während an der US-Ostküste die großen Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Anschläge stattfinden, trauern an der Westküste noch immer Angehörige, Geschäftspartnerïnnen, Freundinnen und Freunde, die damals vergeblich auf die Ankunft der Passagiere warteten. In Los Angeles wird der Anschläge unter anderem vor den Toren zweier Feuerwachen gedacht, wo Denkmale an die Opfer und Rettungskräfte erinnern. In Beverly Hills ragt eine verbogene Stahlsäule, die aus den Trümmern in New York geborgen wurde, gen Himmel. Vor der Zentrale des Los Angeles Fire Department steht eine 23 Tonnen schwere Stahlstütze aus dem World Trade Center.

etwa zehn Meter hohe rostige Stahlstreben mit Gedenktafel vor einem lang gestreckten weißen Gebäude und blauem Himmel
Vor der Feuerwache steht eine ehemalige Stahlstütze des WTC

Blauer Himmel in Washington – Asche in New York

Zurück zum elften September 2001: Während ich mit Kollegïnnen rede und in Live-Gesprächen versuche zu beschreiben, was ich auf dem Bildschirm sehe und anderswo in Erfahrung bringen kann, fliegt das zweite Flugzeug ins World Trade Center. Keine Stunde später stürzt der erste Turm ein, dann der zweite.

Am nächsten Tag mache ich mich auf den Weg in die Innenstadt von Washington DC, um Töne, Stimmen und Eindrücke zu sammeln. Was mir zuerst auffällt, ist die Stille. Viele Straßen sind für den Verkehr gesperrt. Dann: der immer noch so irrsinnig blaue Himmel ohne Flugzeuge, ohne Kondensstreifen. Der Luftverkehr über den USA ist gesperrt. Soldatïnnen der Nationalgarde sind an jeder Straßenecke rund um den Kongress und das Weisse Haus positioniert.

Eine Woche später fahre ich für eine Hörfunk-Reportage nach New York. Mir stockt der Atem kaum dass ich aus dem Zug aussteige. Beißender mit Asche gefüllter Rauch hängt noch immer in der Luft. Auf den Bürgersteigen drängeln sich schon wieder Menschen, die meisten von ihnen mit roten Rändern um die Augen. Von der schlechten Luftqualität, nehme ich an, aber auch vom Weinen. An Laternenmasten, Häuserwänden und Bushaltestellen kleben Flugblätter mit Fotos und Namen der Vermissten. Davor sind an vielen Orten Kerzen und Blumensträuße aufgestellt. Ich stelle mich zu denen, die wortlos auf die Bilder schauen. Meistens sind es Kopien von lachenden Gesichtern auf Hochzeitsfotos, Urlaubsfotos, Familienfotos.

Auch in Manhattan ist die Nationalgarde im Einsatz. Je näher ich den eingestürzten Türmen komme, desto öfter werden mein Ausweis und meine Tasche kontrolliert, desto öfter muss ich husten und Wasser trinken, desto öfter halte ich an, um mich zu orientieren. Früher habe ich nach den Türmen des World Trade Centers gesucht, wenn ich mich in New York verlief. Vom Schutt dort steigt nun eine Rauchwolke auf. Die kann ich aber zwischen den Hochhäusern nicht sehen. Irgendwann komme ich nicht mehr weiter.

Ein gelber Bagger vor den Trümmern der eingestürzten Trümmer, Asche und Rauch in der Luft
Schutt-Entfernen in den Straßen um das World Trade Center

Nur Rettungskräfte und Versorgungsfahrzeuge werden zu den Trümmern durchgelassen. Polizisten fordern Passanten auf, schnell weiter zu gehen, die Arbeiten in den Ruinen nicht zu behindern. Zwei Blöcke weiter sehe ich die verbogenen Stahlsäulen, die aus Schuttbergen ihre Krallen in den Himmel recken. Dazwischen klettern Feuerwehrleute wie kleine Tiere durch die Trümmer. Sie suchen noch immer nach Überlebenden, bergen aber nur noch Tote.

“Niemand kann New York stoppen”

Vor der Börse treffe ich einen Mann und seine Tochter, die sich seit dem Tag des Anschlags nicht gesehen haben. Sie halten einander fest und wollen sich nicht aus den Augen lassen. In einer Pizzeria nebenan herrscht Hochbetrieb. Der Besitzer hat bei den Anschlägen Freunde verloren und trotzdem seinen Laden schon am nächsten Tag wieder geöffnet. Er erzählt mir, dass niemand die Menschen von New York stoppen könne, keine Bombe, nichts.

Auf einem Spielplatz rede ich mit Eltern, die versuchen, für ihren Nachwuchs ein Gefühl von Normalität zu schaffen. Damit sind sie nur bedingt erfolgreich. Eine Mutter sagt, dass sie von der Wohnung aus die oberen Stockwerke des World Trade Centers sehen konnten und ihre Kinder sie nun fragen, wie Gott so etwas zulassen konnte.

Bis spät am Abend laufe ich am nächsten Tag durch Manhattan, zum UN-Gebäude, zum Hudson River, zur Fähre mit Blick auf die Freiheitsstatue, zum Empire State Building, zu einer Kirche nahe Wall Street. Es ist dunkel, als ich mich auf die Treppen vor einem Café setze. Jemand hat ein Mikrofon aufgestellt. Ein Gitarrist spielt “America The Beautiful” und viele summen mit. Nach ihm rezitiert ein weißhaariger Mann um die 70 ein Gedicht von Allen Ginsberg. Als eine junge Frau von ihrem Verlobten erzählt, von der geplanten Hochzeit, vom letzten Abschied vor seinem Arbeitstag im ‘Windows on the World’, dem Restaurant im obersten Stockwerk des World Trade Centers, laufen mir Tränen über das Gesicht während ich mein Mikrofon an den Lautsprecher halte.

Männer und Frauen stehen vor einem Maschendrahtzaun, wo Kerzen, Fahnen und Kränze an die Opfer der Anschläge vom 11. September erinnern. Im Hintergrund Bäume und ein Park
Angehörige und Besucher halten vor einer Gedenkstätte inne

“Das wird keine runde Geschichte”

Noch in der Nacht rufe ich den Redakteur in Berlin an. “Das wird keine ‘runde Geschichte’, wie wir sie geplant haben, ” sage ich ihm. “Hier ist nichts mehr rund. Hier ist alles kaputt, zertrümmert, Schutt und Asche. So muss auch die Geschichte sein.”

Doch ich erinnere mich nicht nur an die Trümmer, die Asche in der Luft und die Traurigkeit. Von den Tagen in New York nahm ich auch ein starkes Gefühl der Gemeinschaft mit. Ich glaubte, nichts könne die Menschen dieser Stadt, die Bewohner dieses Landes mehr auseinanderreißen. Ich dachte auch, ich hätte die USA für immer tief in mein Herz geschlossen.

Das war offensichtlich ein großer Irrtum. Heute, zwanzig Jahre später, sind die USA so gespalten wie ich sie nie erlebt habe. Jeder Schicksalsschlag – ob Waldbrand, Sturm oder Überflutung, ob Amokläufe in Schulen oder fast 650 tausend Covid-Tote – scheint die Menschen der USA mehr zu polarisieren. Nicht nur am Tag der Wahl von Donald Trump habe ich überlegt, ob ich in diesem Land weiter leben möchte. Warum ich trotzdem in Kalifornien bleiben möchte, ist eine andere Geschichte.

schwarze gekrümmte Stahlsäule vor einer vierspurigen Straße mit Palmen und Rasen auf dem Mittelstreifen
In Beverly Hills erinnert eine verbogene Stahlsäule an 911

150 Kilometer südlich von Los Angeles trauern am 11. September 2021 auf einem Marinestützpunkt Angehörige und Freundïnnen um Militärs, die zwei Wochen zuvor beim Selbstmordanschlag am Flughafen von Kabul ermordet wurden. Zehn der getöteten 13 Soldatïnnen waren in Camp Pendleton stationiert. Alle bis auf einen waren zwischen 20 und 23 Jahre alt. Zu jung, um sich an ein New York zu erinnern, in dem die zwei Türme des World Trade Centers Bewohnern von Manhattan und Besuchern aus aller Welt wie mir Orientierung gaben.

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