Nach der Landtagswahl in Hessen: Der Schock nach dem AfD-Erfolg und ein Erklärungsversuch

Hohe AfD-Wahlergebnisse gab es bislang im Osten. Jetzt ist die AfD zweitstärkste Kraft in Hessen und die Erzählung von der Partei der „Abgehängten“ greift nicht mehr. Ihr Erfolg hat einen anderen Ursprung: Die fehlende Bereitschaft zu Veränderungen

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
4 Minuten
Die Balken zeigen das vorläufige Ergebnis der Landtagswahl in Hessen: CDU: 34,6 %, Grüne: 14,8 %, SPD: 15,1 %, AfD: 18,4 %, FDP: 5 %, Linke: 3,1 %

Für mich fühlt es sich an wie ein schlimmer Kater. Nur habe ich weder gesoffen noch gefeiert. Ich war am Sonntag wählen, so wie 66 Prozent der Hessinnen und Hessen. Das Wahlergebnis lässt mich nicht los, auch nicht am Tag danach. Seit dem frühen Montagmorgen kreist ein Gedanke durch meinen Kopf: Ich wohne in einem Bundesland, in dem die AfD, eine rechtsextreme, antidemokratische Partei, zweitstärkste Kraft geworden ist. Deutlich vor der SPD, noch deutlicher vor den Grünen. Das hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich hatte an Umfragehochs und einen Medien-Hype geglaubt. Aber nicht daran, dass so viele Menschen die extreme Rechte wählen.

Bisher haben wir mit Bauchgrimmen in die ostdeutschen Bundesländer geschaut, wo die AfD schon vor Jahren die 20-Prozent-Marke riss. Die großen Veränderungen seit der Wiedervereinigung hätten die Menschen dort überfordert, hieß es zur Begründung. Sie fühlten sich nach De-Industrialisierung und Abwanderung vom restlichen Land abgehängt und weder wahr- noch mitgenommen. Deshalb wählten sie die AfD, die „Gegen-die-da-oben-Partei“.

Heute, am Tag nach den Wahlen in Hessen und Bayern, denke ich: Falsch! Denn auch hier, in meinem Wahlkreis im wirtschaftsstarken Rhein-Main-Gebiet, liegt die AfD bei 18,4 Prozent. Das ist noch unter den magischen 20 Prozent, reicht aber trotzdem zur zweitstärksten Kraft.

Ich wurde in der Stadt geboren, in der ich heute lebe. Hier gab es weder dramatische gesellschaftliche Umbrüche noch Abwanderung. Im Gegenteil: Die Region boomt, es wird an jeder Ecke gebaut, weil so viele Menschen Arbeit finden und herziehen. Im wirtschaftsstarken Bayern sieht es nicht anders aus: Dort haben 30 Prozent der Bürgerinnen und Bürger rechts der CSU gewählt. Sicher nicht alles „Abgehängte“ und „Unverstandene“.

Unsere Veränderungsphobie

Was ist der Grund? Das werden Politikwissenschaftlerïnnen in den kommenden Wochen und Monaten genau analysieren. Ich habe den Eindruck, es herrscht eine große Veränderungsphobie. Wir wollen so weiterleben wie bisher und blenden aus, dass „weiter so“ keine Option sein kann. Wir sehen uns mit Klimaerwärmung und Artensterben einer Doppelkrise gegenüber. Es brauche „schnelle und tiefgreifende sowie in den meisten Fällen sofortige Senkungen der Treibhausgasemissionen in allen Sektoren in diesem Jahrzehnt“, um die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, fordert der Weltklimarat IPCC in seinem aktuellen Bericht. Für Deutschland als Landgebiet bedeutet 1,5 Grad Erderwärmung ein Plus von 3 Grad – mit weitreichenden Folgen für jede und jeden von uns: Schon in diesem Jahr gab es Temperaturrekorde und Wetterextreme. Wir müssen uns auf mehr Hitzesommer, Starkregen wie im Ahrtal, eine Zunahme an Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und UV-bedingtem Hautkrebs einstellen, von den ökologischen Verwerfungen gar nicht zu sprechen. Heißt: Wir müssen uns bewegen. Auch, wenn es wehtut.

Nur: Viele Hessen und Bayern scheinen davon nichts wissen zu wollen, wenn sie mit der AfD eine Partei wählen, die „keinen Grund für Alarmismus beim Klimawandel“ sieht, die einfach bestreitet, dass sich durch die Verbrennung fossiler Energieträger das Klima aufheizt, und die vom „sogenannten `Klimaschutz´“ spricht.

Keinem wehtun, niemandem etwas abverlangen, allen alles recht machen: Auch darauf basierte der Erfolg von 16 Regierungsjahren unter Angela Merkel. Wir haben uns darin eingekuschelt und uns über Kleinigkeiten gefreut, zum Beispiel, dass wir Recyclingweltmeister sind.

Inzwischen sehen wir den Preis dieser Politik. Die Deutsche Bahn liegt am Boden, wir haben eine Pflegekrise, einen wachsenden Fachkräftemangel, ein teures und wenig effizientes Gesundheitswesen, die Bildungsergebnisse unserer Kinder sind dramatisch schlecht, weil Schulen vernachlässigt werden. Der Ausbau erneuerbarer Energien, die Mobilitätswende – überall hängen wir hinterher. Wir verweigern den Einbau von Wärmepumpen, obwohl andere Länder diese Chance längst nutzen.

Dabei galt und gilt Deutschland als das Land der Ingenieurinnen und Ingenieure. Wir sind und waren immer stolz auf unsere Innovationsfähigkeit. Doch statt sich aufzuraffen, zu wagen, die Probleme anzugehen und die große Transformation hin zu einer sozialeren und vor allem nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft anzupacken, stecken wir offenbar lieber den Kopf in den Sand. Wir bekämpfen die Flut an Plastikmüll mit dem Verbot von Strohhalmen und lamentieren, dass die Cola oder der Aperol wegen aufgeweichter Papierhalme nach Pappe schmecken.

Wird jetzt der Umweltschutz geopfert?

Man muss sicher nicht alle Entscheidungen der Ampel-Regierung gutheißen. Ich finde es richtig und wichtig, über verschiedene Handlungsansätze zu diskutieren. Wir müssen ringen und ausprobieren, wir werden Fehler machen, daraus lernen und dann bessere Wege finden. Aber es ist fatal, auf die Parteien zu setzen, die uns glauben machen, wir könnten weiterleben wie bisher, die behaupten, es gäbe einfache Lösungen. Parteien, deren Konzept auf simplen Parolen basiert. Nämlich: Es würde alles gut, wenn nur weniger Ausländer kommen, alle Krankenhäuser erhalten bleiben oder neue Atom- und Gaskraftwerke gebaut werden. Es ist nicht so.

Heute ist Tag eins nach der Hessenwahl. Ich habe einen Kater und großen Frust. Ich bin ratlos und voller Fragen. Ich habe Angst, dass die demokratischen Parteien angesichts des AfD-Erfolgs einknicken und ihre Politik für Klima- und Umweltschutz, für Gleichberechtigung und Integration weiter eindampfen. Aber eins weiß ich auch: Nach der Schockstarre muss es weitergehen. Ich werde weiter für ein diverses, offenes Deutschland kämpfen und mich gegen Rassismus und Ausgrenzung stellen. Ich werde für Klima- und Umweltschutz auf die Straße gehen, mein eigenes Handeln hinterfragen, diskutieren, zuhören, um gute Lösungen ringen, auch wenn diese große Veränderungen mit sich bringen. Ich hoffe, dass viele Menschen genauso denken und bereit sind, das Land zu verändern. Jetzt erst recht. Denn das ist die bittere Wahrheit, die uns rechte Parteien vorenthalten: Dieses Land muss sich verändern, wenn wir gut und in Frieden weiterleben wollen.

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