Kampf um die Freiheit: Warum Markus Söder öfter mal einen Joint rauchen sollte

Bevormundung versus Selbstbestimmung: Dieses Framing beherrscht viele politische Auseinandersetzungen. Der vermeintliche Kulturkampf teilt die Gesellschaft in ideologische Lager und erschwert sachliche Debatten. Ein essayistischer Appell, das Narrativ ad acta zu legen und den Freiheitsbegriff neu zu definieren.

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Vor blau-gelb-orangefarbenem Himmel ist eine Kette zu sehen, deren Glieder sich auflösen und in Silhouetten von Vögeln übergehen.

Was für eine ungeheuerliche Nachricht das doch war! „Bayern verbietet das Gendern an Schulen, Hochschulen und Behörden“, twitterte Markus Söder, Ministerpräsident des Freistaats, Mitte März. Der CSU-Politiker nutzte für seine Botschaft sogar eine Bildkachel mit einem dicken, roten Strich.

Man stelle sich für einen kurzen Moment vor, die erklärten „Hauptgegner“ der Unionsparteien hätten eine solche Meldung produziert: „Grüne wollen Verbot von …“. Es ist eigentlich egal, welches Wort folgt, und es bräuchte sicher auch keinen roten Strich: Markus Söder wäre längst auf die nächsten Palme gestiegen, hätte in ihrem Wipfel ein Protestcamp errichtet und in wohlkalkulierter Erregung irgendetwas mit „Verbotspartei“ von oben heruntergebrüllt.

Freiheit versus Verbote, Leben und Leben lassen versus staatliche Übergriffigkeit: Dieser vermeintliche Konflikt ist zum wirkmächtigsten Narrativ der politischen Debattenkultur in Deutschland geworden. Nicht nur einzelne Positionen, sondern auch Personen, Parteien und Institutionen sehen sich auf dieser Skala zwischen Bevormundung und Selbstbestimmung verortet. Wobei das Bevormundungsende aus Sicht derer, die sich der Skala bedienen, das schlechte ist.

Gute Verbote, schlechte Verbote

An diesem Ende stehen die woken Grünen und natürlich die gänzlich spaßbefreite EU. Besser gesagt: Brüssel, jener vermeintlich ferne Beamtenapparat, mit dem „wir“ in Deutschland nichts zu tun haben, wenn er in „unser“ Leben eingreift. Brüssel beziehungsweise die Grünen und Verbote gehören nach dieser Erzählung ähnlich fest zusammen wie jene Buchstaben, die ein Gendersternchen künstlich auseinanderreißen würde. Deshalb fällt nicht einmal mehr negativ auf, wenn es gerade die CSU ist, die etwas verbietet.

Es gibt nach diesem Narrativ nämlich nicht nur schlechte, sondern auch gute Verbote. Für letztere tritt ein, wer sich besonders deutlich zur Freiheitsliebe bekennt, weil derartige Verbote nur die Freiheit anderer beschneiden.

Ein gutes Verbot war nach diese Lesart beispielsweise, als die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner nach einem Hinweis ihres Parteichefs Söder das Kiffen im Landtag untersagte – kurz nachdem sich, ausgerechnet, ein Grünen-Abgeordneter die Freiheit genommen hatte, auf den Arkaden des Maximilianeums demonstrativ einen Joint zu rauchen. Gut ist es auch, Geflüchteten – ach was, am besten gleich allen auf Sozialtransfers angewiesenen Menschen – das Bargeld zu verbieten, weil sie mit Sachleistungen oder Bezahlkarten nicht länger frei darin wären, mit dem wenigen Geld zu tun, was sie für richtig halten. Und natürlich ist das Gender-Verbot gut, weil es sich gegen diejenigen richtet, die im Ruf stehen, ständig Vorschriften zu machen.

Es geht um die Wurst

Was lernen wir daraus? Gute Verbote treffen die Richtigen: Menschen, mit denen Leute wie Markus Söder nichts zu tun haben oder jedenfalls nichts zu tun haben wollen. Schlechte Verbote dagegen treffen die Falschen. So ist es bei der Debatte über ein „Verbrennerverbot“, so war es, als sich der (grüne!) Wirtschaftsminister Robert Habeck vermeintlich anschickte, uns per Heizungsgesetz die Heizungen aus dem Keller zu reißen. Besonders häufig haben schlechte Verbote zudem etwas mit Essen zu tun. Meistens, weil angeblich jemand den anderen etwas wegnehmen möchte, was Leute wie Markus Söder – im Gegensatz zu Joints – gerne mal durchziehen, sagen wir: Wurst.

Tatsächlich gibt es beim Essen eine lange Tradition, Verbote zu sehen, wo keine sind. Der Trend ließ sich spätestens 2010 nicht mehr stoppen, als eine radikalisierte Bäckerlobby gegen die EU in den „Brot-Krieg“ zog, wie es Bild formulierte, um das aus Brüssel diktierte „Einheits-Brot“ zu verhindern. 2021 lief irritierenderweise der verbrennerautoproduzierende Volkswagen-Konzern zur falschen Seite über, als er die Currywurst vom Speiseplan seiner Beschäftigten strich – und das zugunsten von vegetarisch-veganem Essen, was sogar Altkanzler Gerhard Schröder in Wallung brachte, der den „Kraftriegel der Facharbeiter“ prompt für unersetzlich erklärte. Noch vor dem grünen Bundesernährungsminister Cem Özdemir schaffte es sogar sein CSU-Vorgänger Christian Schmidt, sich, natürlich auch in der Bild-Zeitung, des „Ernährungsdiktats“ schuldig zu machen, weil auch er anscheinend in die Kochtöpfe der Republik hineinregieren wollte. Die Ernährungspolitik ist anscheinend anfällig für „Bevormundung“.

Das Interessante an all der Aufregung aber ist: Keine dieser Meldungen stimmte.

Die Europäische Kommission hatte keine Kriegserklärung in Form von Rezepturvorgaben für Brote abgegeben. Sie hatte 2010 lediglich versucht, geltendes EU-Recht umzusetzen und zu definieren, bis zu welchem Salzgehalt Brot noch als gesund beworben werden darf – was sie aufgrund des Widerstands der Lobbygruppen bis heute nicht erreicht hat, weshalb sie seit vielen Jahren gegen eine demokratisch verabschiedete Verordnung verstößt.

VW hatte kein Currywurst-Verbot und keine vegetarische Zwangsernährung geplant, sondern lediglich das Angebot in einer seiner vielen Betriebskantinen auf pflanzliche Gerichte umgestellt, offenbar auf Wunsch der Beschäftigten. Und weder Christian Schmidt noch Cem Özdemir hatten irgendjemandes Freiheit eingeschränkt, essen zu dürfen, was schmeckt. Sie hatten, als die Bild- und Shitstorms gegen die Minister hereinbrachen, lediglich eine für Unternehmen freiwillige Zuckerreduktionsstrategie beziehungsweise eine Einschränkung der an Kinder gerichteten Werbung für überzuckerte und anderweitig ungesunde Lebensmittel vorbereitet. Essen war weiterhin erlaubt – selbstverständlich auch Chips, Schokolade oder süße Frühstücksflocken.

Es geht nicht um Logik oder Wahrheit, sondern um Framing

Wir lernen also: Es reicht, wenn die Erzählung ins gängige Narrativ passt – stimmen muss sie nicht. Sonst wäre alles auch einigermaßen verwirrend: Gute Verbote und schlechte Verbote. Echte Verbote und vermeintliche Verbote, die gar nichts verbieten. Verbote, die von den Verbotsgegnern vorbereitet werden – und Minister, die qua Parteibuch auf der Skala ganz weit am Ende „Bevormundung“ stehen, die dann aber gar nichts verbieten.

Kommen Sie noch mit? Das müssen Sie nicht. Denn es geht nicht um Logik oder gar Wahrheit. Es geht allein um Framing.

Die Parteistrateg:innen haben eine Zielgruppe ausgemacht, denen bereits der Anschein eines überbordenden Eingriffs in die – nein: in ihre – Freiheit die Nackenhaare aufstellt. Dieser Reflex lässt sich prima bedienen, und zwar auch dann, wenn der Empörung eigentlich der wahre Kern abgeht, es also gar kein Verbot gibt.

Der „Veggie Day“: Erweckungserlebnis für die einen, Trauma für die anderen

Der „V-Day“ vor mehr als zehn Jahren war in dieser Hinsicht Erweckungserlebnis und Trauma zugleich: 2013 hatten die Grünen in ihrem Programm zur Bundestagswahl angeregt, dass öffentliche Kantinen einen fleischlosen „Veggie Day“ zum Standard machen „sollen“. Ein Appell, nicht mehr. Bild jedoch titelte: „Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!“ In einem Kommentar zeichnete die Redaktion das Bild eines drohenden „Kerzen-Tags“, in dem wir alle „im Dämmerlicht sitzen“ müssten. Das alles war Quatsch, doch die Grünen schmierten im Zuge der Empörungswelle in den Umfragen ab – und trauten sich über Jahre hinweg mit keinem vergleichbaren Gedanken mehr an die Öffentlichkeit. Jetzt freilich sind sie qua Regierungsfunktion wieder zuständig für die innerhalb der Ampelkoalition (also auch mit den Liberalen) verabredete „Ernährungswende“, einschließlich der Werbeverbote.

Als Cem Özdemir seinen Entwurf für dieses Vorhaben präsentierte, wiederholte sich die Geschichte. „Bald wird uns das Atmen verboten“, hieß es bei BILD-TV, und obwohl es nur um Werbung für Ungesundes ging, sahen Zuschauer:innen in ihren Kommentaren die „freie Essenswahl“ in Gefahr. Erneut war es egal, ob die servierte Geschichte wahr ist oder nicht: Es reichte, dass sie wahr sein könnte –also gefühlt. Sie bediente ein anschlussfähiges Narrativ, das Empörung hervorruft – und weil die Empörung so zuverlässig eintritt, wird es wieder und wieder bedient.

Insekten für Veganer:innen: Das Problem der Parteien

Soziale Medien verstärken diese Spirale, sie basieren auf genau diesem Mechanismus. Ihre Algorithmen schieben in der Timeline nach oben, was Nutzer:innen in ihrem vorhandenen Glauben bestätigt. Neue Verbotspläne von Grünen oder der EU? Logisch. Wollen wir nicht.

Viele mehr oder weniger klassische Medien funktionieren genauso: Empörungswellen erzeugen Klicks, Klicks erzeugen Werbeerlöse. Und niemand muss zur AfD schauen, um festzustellen: Politiker:innen bedienen sich zunehmend derselben Mechanismen – gemessen an Stimmanteilen durchaus erfolgreich, Stichwort: Markus Söder. Und damit haben wir noch nicht über Hubert Aiwanger gesprochen, der zuletzt unter anderem dagegen kämpfte, dass Brüssel uns in seinem Vegan-Wahn zwangsweise Insektenpulver unterjubeln wolle. Irgendjemand wird den Freie-Wähler-Chef später gewiss darauf aufmerksam gemacht haben, dass Insekten nicht besonders vegan sind. Doch wie schon gesagt: Um Logik geht es längst nicht mehr.

Die Entwicklungen der Parteienlandschaft verstärken diesen Trend. Hatten sogenannte Volksparteien noch den Anspruch, Politik für alle zu machen und verschiedene Interessen und Perspektiven bereits in der innerparteilichen Diskussion auszugleichen, so lässt sich heute festhalten: Dieses Konzept Volkspartei ist tot.

Kulturkampf als Inszenierung

Selbst die CSU, die in Bayern noch am stabilsten hohe Wahlergebnisse einfährt, setzt nicht auf Ausgleich, sondern auf Abgrenzung. Dahinter dürfte die Erkenntnis stehen, dass jede Partei nur noch eine spezielle Klientel erreichen kann. Diese gilt es zu mobilisieren, wobei drei Elemente helfen: Das Bestätigen vorherrschender Meinungen. Das Vermeiden von Irritationen (die Welt ist schon komplex genug). Und das Empören über den politischen Gegner.

So ist der Kulturkampf um „die Freiheit“ vor allem auch: eine Inszenierung.

Sie soll eigenen Interessen dienen und konkurrierende Kräfte diskreditieren. Der Grat vom Gegner zum Feind wird dabei recht schmal – was uns allen zu denken geben sollte angesichts der Tatsache, dass auf Worte längst Taten folgen und die politische Auseinandersetzung auch mit Gewalt geführt wird. Dazu rufen Markus Söder und andere freilich nicht auf, dennoch: Manchmal wäre es besser, Markus Söder nähme noch einen Zug aus einem Joint, bevor er seinen nächsten Tweet abstößt.

Warum aber bekommen in der deutschen Parteienlandschaft derzeit die Grünen Wut und Hass besonders ab? Nur zu einem Teil dürfte es daran liegen, dass sie auch de facto mit am stärksten für ein Konzept stehen, dass auf regulative Veränderung setzt. Damit gibt die Partei Union, FDP und AfD gleichermaßen die Vorlage, ihr wirkmächtiges Narrativ zu bedienen, mithin jeden Vorschlag als Ausbund der Verbotskultur zu brandmarken. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass die Grünen selbst – vielleicht auch infolge ihres Veggie-Day-Traumas – sowie ähnlich Denkende hoffnungslos in der Defensive verharren. Die Deutungshoheit über den Freiheitsbegriff halten andere.

Um wessen Freiheit geht es?

Dies müsste keineswegs so sein. Denn Vorschläge für Gesetzesänderungen, sogar neue Verbote, sind keineswegs gleichbedeutend mit weniger Freiheit und mehr Bevormundung. Die Themen ließen sich gänzlich anders verhandeln – wenn man nur fragt, um wessen Freiheit es eigentlich geht.

Würden das Verbrennerverbot oder eine andere, vor allem als Eingriff in liebgewonnene Gewohnheiten diskutierte Klimaschutzmaßnahme nicht vor allem die Freiheit nachfolgender Generationen schützen, in einer lebensfreundlichen Umwelt leben zu können? Und geht es bei der Beschränkung der Lebensmittelwerbung wirklich nur um die Freiheit von Unternehmen, ungestört Werbung treiben zu dürfen? Oder doch mindestens genauso um die Freiheit von Kindern, gesund aufzuwachsen, was ihnen ein durch Werbung deutlich mitgeprägtes Umfeld nachweislich erschwert? Plötzlich würde aus der Debatte Freiheit versus Bevormundung eine wertvolle Sachdiskussion, in der es darum ginge, wessen Freiheit es zu schützen gilt und welche Freiheit schwerer wiegt.

Dass sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum jemand, der sich für regulative Eingriffe positioniert, das Etikett des Kampfes für die Freiheit gibt, ist eine vertane Chance. Die Definition des Freiheitsbegriffs wird so sehr anderen überlassen, dass Landesregierungen sogar eine Pflicht zum gesunden Schulessen mit der Begründung ablehnen, dass sie den Einrichtungen und Kommunen nicht vorschreiben wollen, was diese anzubieten haben – als ob die Freiheit der Kinder, ein gesundes Essen zu erhalten, bedeutungslos wäre. Das groteske Beispiel macht zudem deutlich: Der größte Eingriff in die Freiheit ist manchmal, alles beim Alten zu lassen. Denn mancher Eingriff schafft Freiheiten, die es bis dahin nicht gab.

Höchste Zeit, den Freiheitsbegriff neu zu definieren und bei der Inszenierung „Freiheit versus Bevormundung“ nicht länger mitzuspielen.

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