„Schon ein neugeborenes Mädchen hat eine stärkere Immunantwort als ein Junge“

Unser Abwehrsystem ist nicht geschlechtsneutral: Männer sterben öfter an Infektionskrankheiten, Frauen bekommen eher Autoimmunerkankungen. Der Immunologe Marcus Altfeld über Impfungen, die für Männer optimiert sind, die Kehrseite eines starken Immunsystems und die wichtigsten Maßnahmen, um Krankheiten vorzubeugen.

vom Recherche-Kollektiv Der andere Körper:
9 Minuten
Ein Baby liegt zugedeckt auf einer Couch. Es hat die Augen geschlossen und scheint zu schlafen. Neben dem Baby im Hintergrund sind eine Taschentuchbox, ein Nasenspray, ein Fieberthermometer und mehrere kleine braune Medikamentenfläschchen zu sehen.

Herr Altfeld, Studien haben gezeigt, dass Frauen ein stärkeres Immunsystem haben als Männer. Warum ist das so?

Marcus Altfeld: Daran wird gerade viel geforscht, einiges verstehen wir schon, vieles noch nicht. Was wir verstehen, ist einmal der Einfluss der Geschlechtshormone. Die weiblichen, vor allem Östrogen, stärken im Allgemeinen die Funktion von Immunzellen. Das männliche Geschlechtshormon Testosteron dagegen kann die Funktion der Immunzellen unterdrücken und reduzieren.

Wie funktioniert das?

Alle Immunzellen – sowohl T-Zellen, die körperfremde Antigene erkennen, als auch B-Zellen, die Antikörper produzieren – haben Rezeptoren, die die Geschlechtshormone erkennen. Wie viel Östrogen oder Testosteron auf diese Zellen trifft, beeinflusst deren Funktion. Das gilt sowohl für das angeborene Immunsystem als auch für das adaptive, das sich im Laufe des Lebens als Reaktion auf den Kontakt mit Krankheitserregern entwickelt.

Nach der Menopause produzieren Frauen weniger Östrogen. Verschwinden im höheren Alter die Geschlechterunterschiede?

Sie nehmen ab. Aber hier kommt ein zweiter Punkt ins Spiel: die Rolle der Chromosomen. Lange Zeit dachte man, das zweite X-Chromosom bei weiblichen Organismen sei inaktiv und habe keine wirkliche Funktion. Mittlerweile ist klar, dass auch das zweite X-Chromosom abgelesen werden kann. Dadurch werden Gene, die auf dem X-Chromosom liegen, bei einigen weiblichen Zellen in höherem Maße abgelesen und in Proteine umgewandelt als bei männlichen. Und das betrifft auch viele der Gene, die unsere Immunantwort regulieren, zum Beispiel die, die es uns erlauben, Hepatitis-, HI- oder SARS-Corona-Viren zu erkennen.

Auch eine 60-jährige Frau hat also im Durchschnitt eine stärkere Immunantwort gegen Krankheitserreger als ein 60-jähriger Mann?

Ja. Und schon ein neugeborenes Mädchen hat eine stärkere Immunantwort gegen Erreger als ein gleichaltriger Junge. Dafür sind zum Teil wieder die chromosomalen Faktoren verantwortlich, zum Teil aber auch die Sexualhormone. Schon in der Embryonalphase wird bei Jungen Testosteron ausgeschüttet und bei Mädchen Östrogen. Durch diese Hormonausschüttung bilden sich die sekundären Geschlechtsmerkmale, und nebenbei verändern sich auch die Immunzellen.

Welche Folgen hat das?

Es scheint unter anderem einer der Gründe dafür zu sein, dass die Kindersterblichkeit bei Jungen höher als bei Mädchen ist. Vor allem die Sterblichkeit durch bakterielle und virale Durchfallerkrankungen und durch Infektionen der Atemwege – also durch die beiden häufigsten Todesursachen in der frühen Kindheit.