Wie intelligent war der Urmensch Homo naledi – und was machte sein Knochen im Weltraum?

Der Paläoanthropologe Lee Berger ließ menschliche Fossilien ins All schießen und behauptet, der von ihm entdeckte, primitiv wirkende Urmensch Homo naledi habe seine Toten bestattet und symbolisches Denken beherrscht. Doch in der Fachwelt sind seine Thesen heftig umstritten.

8 Minuten
Vor schwarzem Hintergrund ist links der Schädel eines Urmenschen zu sehen, der in dieser Fotomontage vor einem Ausschnitt der Erdkugel, rechts im Bild, durch den Weltraum zu fliegen scheint.

Am 8. September 2023 ereignete sich etwas, dass es in der menschlichen Geschichte noch nie gegeben hatte: Erstmals verließen fossile Relikte von ausgestorbenen Verwandten des Homo sapiens die Erdoberfläche und durchquerten den erdnahen Weltraum. An Bord des Raumschiffs „VSS Unity“ der privaten US-amerikanischen Fluggesellschaft Virgin Galactic hoben an diesem Tag neben sechs lebenden Menschen zwei Fossilien der menschlichen Urgeschichte ab: der versteinerte Daumenknochen eines Homo naledi und das Schlüsselbein eines Australopithecus sediba ab. Sie stiegen rund 88 Kilometer hoch bis an den Rand des Weltraums und kehrten nach einer Stunde Flugzeit wohlbehalten zur Erde zurück.

Begeistert schwärmt der Paläoanthropologe Lee Berger von der University of the Witwatersrand in Johannesburg von dem Ereignis: Die Reise der Fossilien ins All würdige den Beitrag aller menschlichen Vorfahren und Verwandten für die Entwicklung der Menschheit. Ohne diese Vorfahren hätten so außergewöhnliche Unternehmungen wie die Raumfahrt niemals möglich werden können. Bergers Teams hatten sowohl den Vormenschen Australopithecus sediba als auch den Urmenschen Homo naledi entdeckt.

Fossilien im All als fragwürdige PR-Aktion

Doch andere Forscher sehen in der Aktion nur einen unverantwortlichen Werbegag. Für die Fossilien habe eine physische Gefährdung während des Fluges bestanden, etwa durch die kosmische Strahlung, beklagt der Isotopen-Geochemiker Robyn Pickering von der University of Cape Town. Und in einer Stellungnahme der European Society for the Study of Human Evolution heißt es: „Wir sehen nicht den wissenschaftlichen Wert dieses Projektes und […] fordern einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen unersetzlichen wissenschaftlichen Ressourcen“.

Das Foto zeigt einen Mann, Mitte fünfzig, mit braunem Filzhut und schwarzem Hemd, der in seiner rechten Hand einen etwa faustgroßen Schädel, zusammengesetzt aus hellbraunen fossilen Knochen und schwarzem Material, trägt.
Im November 2021 präsentierte Lee Berger diese Rekonstruktion eines Homo-naledi-Kindes. Bergers Entdeckungen sind wissenschaftlich spektakulär, doch seine Interpretation, wer diese Urmenschen waren und welche Fähigkeiten sie hatten, geht vielen Kollegen zu weit

Der in Südafrika arbeitende US-Amerikaner Lee Berger ist einer der schillerndsten Urmenschenforscher der Gegenwart – und jemand, der sich bestens auf Öffentlichkeitsarbeit und das Erzählen aufregender Wissenschaftsstorys versteht. Das begann schon mit seinem ersten großen Forschungs-Triumph, der Entdeckung der Vormenschen-Art Australopithecus sediba. Es war Bergers Sohn Matthew, der im Jahr 2008 – damals neun Jahre alt – das erste Fossil der neuen Spezies fand: Ein Schlüsselbein. Und zwar jenes, das nun den Ausflug ins All unternommen hat.

Lee Berger gelang eine äußerst ungewöhnliche Entdeckung

Die spektakulärste Entdeckung von Lee Berger und seinen Mitarbeitenden aber dürfte die des Homo naledi sein. Allein der Fundort in der rund 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg gelegenen Rising-Star-Höhle war äußerst ungewöhnlich: Auf dem Boden einer extrem schwer zugänglichen, stockfinsteren Kammer der Höhle lagen 1550 Skelett-Bruchstücke von mindestens 15 verschiedenen Individuen – mehr als an jeder anderen Fundstätte in Afrika und so, als habe sie jemand einfach dorthin geworfen.

Die schematische Grafik zeigt vor beigem Hintergrund die braun gezeichneten Gänge einer Höhle. Rechts ist der Eingang zu sehen, dann führen nach links gewundene Gänge in die größeren Kammern.
In der Dinaledi-Kammer, tief im Inneren der südafrikanischen Rising-Star-Höhle, wurden die Knochen von Homo naledi gefunden. Doch wie kamen sie dorthin? Auf dem Weg in die finstere Kammer mussten die Urmenschen den nur 25 cm hohen „Superman's Crawl“, den „Drachenrücken“ und einen fast senkrechten Schacht passieren

Schon bei ihrer wissenschaftlichen Erstbeschreibung im Jahr 2015 gab die neue Urmenschenart Rätsel auf: Ein in Südafrika lebender, nur anderthalb Meter großer Zwerg mit winzigem Gehirn und zum Klettern geeigneten Händen, der aber gut aufrecht laufen konnte. Noch verblüffender war, als im Jahr 2017 die Datierung gelang. Denn es stellte sich heraus, dass die Fossilien nicht Jahrmillionen, sondern lediglich rund 250.000 Jahre alt waren; die primitiv wirkende Art existierte also noch, als es bereits den Homo sapiens gab. Und im Juni dieses Jahres meldete sich das Team um Lee Berger mit einem neuen Paukenschlag: Man habe Beweise für höhere geistige Leistungen bei diesem Wesen gefunden. Homo naledi soll seine Toten bestattet, abstrakte Muster in Felsen geritzt und Feuer entfacht haben.

„Diese neuen Funde lassen auf vorsätzliche Begräbnisse schließen, auf den Gebrauch von Symbolen und auf sinnstiftende Aktivitäten durch Homo naledi“, wird Lee Berger in einem Beitrag des Natural History Museums in London zitiert. „Daraus ergibt sich die zwangsläufige Schlussfolgerung, dass diese kleinhirnige Art aus der frühen menschlichen Verwandtschaft komplexe Praktiken im Zusammenhang mit dem Tod ausführte“.

Skelettreste, die wirken als habe jemand einen Toten in Hocklage bestattet

Doch was genau haben die Forschenden entdeckt? In der Höhle gibt es an zwei Stellen Senken, deren Füllmaterial gegenüber der Schichtfolge im umliegenden Boden verändert ist, wie geologische Untersuchungen ergaben. Dort könnten die Urmenschen Erdreich ausgehoben haben. Und in diesen Senken finden sich Skelettreste von Homo naledi: Die eine enthält die Relikte überwiegend eines Individuums, eines Jugendlichen, deren Anordnung auf eine Hocklage – also eine Positionierung des Verstorbenen mit angezogenen Beinen – hinweisen. In der zweiten fanden sich Knochenbruchstücke von mehreren Personen. Für Berger und sein Team aus mehr als 30 internationalen Fachleuten ist die Sachlage klar: Homo naledi-Angehörige gruben die Mulden in den Boden, legten ihre Verstorbenen hinein und häuften anschließend Material darüber.

Zu sehen sind zwei Fotos im Hochformat nebeneinander, die die hellbraunen, von Blitzlicht angeleuchteten Gesteinswände eines Höhlengangs zeigen. Auf dem einen Foto zwängt sich ein Forschender in blauem Overall in den engen, senkrechten Felsspalt, auf dem anderen Foto sieht man eine Person im beigen Overall mit rotem Helm, die aus der engsten Stelle des Spalts herauskommt.
Die Gänge der Rising-Star-Höhle sind an manchen Stellen so eng, dass sich nur kleine, drahtige Forscherinnen und Forscher hindurch zwängen können

Diese Schlussfolgerung ist allerdings umstritten. Der Paläoanthropologe Ottmar Kullmer vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt etwa sagt: „Ich finde die Interpretation etwas zu weit getrieben. Es fehlt an ganz klaren Nachweisen etwa der Berandungen der Gruben, die da ausgehoben wurden. Zumindest haben die Anschnitte von Begräbnisstätten, die ich kenne, ein ganz anderes Profil“.

Kullmer fügt hinzu: „Höhlensedimentologie ist meist extrem kompliziert. Sowohl die Ablagerungen als auch die Erosionen können zum Beispiel durch Höhlenwässer und Deckeneinbrüche massiv verändert werden“. Gruben könnten auch durch fließendes Wasser ausgehoben und nachträglich wieder mit Sedimenten gefüllt worden sein, gibt Kullmer zu bedenken. Deshalb sei es in Höhlen schwierig, eine zeitliche Reihenfolge in der Ablagerung der Gesteine festzustellen. „Für ein Begräbnis-Szenario fehlen einfach die handfesten Beweise“.

Wie kamen die geometrischen Muster an die Höhlenwände?

Das Team um Lee Berger präsentierte ein weiteres Argument für die vermeintlich weit entwickelten geistigen Fähigkeiten von Homo naledi. An den Höhlenwänden aus Dolomitkalkstein, ganz in der Nähe der Kammer mit den fossilen Knochen, hatten die Forschenden kreuzförmige Muster und andere eingeritzte geometrische Formen entdeckt. Diese Gravuren seien von Homo naledi geschaffen worden und bezeugten einen wichtigen Schritt in der Evolution der Urmenschen – nämlich das Verwenden, Aufzeichnen und Weitergeben von Informationen, behauptet Berger. Fähigkeiten also, die einst nur dem Homo sapiens zugeschrieben worden waren. Einen Haken hat der Befund allerdings: Bislang ließen sich die Felsritzungen nicht datieren.

Auf dem Bild sind links die fossilen Knochen einer Hand mit sehr langen Fingern, darunter die Knochen eines menschlich wirkenden Fußes von der Seite zu sehen. Rechts daneben der seitlich gezeigte Schädel eines Urmenschen, der dicke Überaugenwülste, vorstehende Kiefer und einen nur kleinen Gehirnschädel hat.
Rätselhafter Körperbau: Die langen Finger der Hand von Homo naledi scheinen gut zum Klettern geeignet, der Schädel wirkt primitiv und enthielt nur ein geringes Gehirn, doch der Fuß ähnelt erstaunlich dem heutiger Menschen

„Wer kann sagen, dass nicht vor 5000 Jahren jemand in der Höhle gewesen ist und die Felsritzungen dort hinterlassen hat?“, gibt Gerhard Weber von der Abteilung für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien zu bedenken. „Die Autoren behaupten, da sei nie jemand mehr drin gewesen. Aber das ist schwer nachzuweisen. Und daher ist auch nicht klar, wer diese Ritzungen, wenn es denn welche sind, geschaffen hat: Ob es die Naledi-Leute waren oder Menschen, die vielleicht 200.000 Jahre später kamen“.

Tatsächlich ist nicht einmal sicher, ob die Strukturen im Fels von Menschenhand stammen. Ottmar Kullmer hält es für möglich, dass natürliche Prozesse sie hervorbracht haben könnten. „In Höhlenablagerungen, wo es sehr feucht ist, können auf dem Stein durch sogenanntes 'Edging’, also Erosion durch säurehaltige Wässer, durchaus solche tiefen Formen über die Zeit an der Felsoberfläche entstehen.“ Dolomit sei zudem sehr hart und das Werkzeug für solche Ritzungen müsste härter sein als das Gestein selbst.

Werkzeuge und Feuergebrauch – die Belege sind umstritten

Es gibt zwei weitere Indizien, die das Homo-naledi-Team vorträgt, um das Begräbnis-Szenario zu stützen: Zum einen liege bei jenem Skelett, das in Hockstellung gefunden wurde, ein Steinwerkzeug in der Nähe der rechten Hand. Zum anderen gebe es Verfärbungen am Boden, die Hinweise auf Feuerstätten seien. Doch Kritiker sind weder davon überzeugt, dass es sich bei dem Stein um ein Werkzeug handelt, noch dass die Verfärbungen den Feuergebrauch belegen.

Seltsam ist auch, dass Lee Berger und seine Crew ihre Ergebnisse auf unübliche Weise veröffentlichten. Zunächst präsentierten sie am 5. Juni 2023 drei sogenannte Preprints – also von Fachleuten noch nicht gegengelesene Publikationen. Noch ungewöhnlicher war der nächste Schritt. Sie luden Kolleginnen und Kollegen ein, ihr Preprint-Paper „Burials and engravings in a small-brained hominin, Homo naledi, from the late Pleistocene: contexts and evolutionary implications“ wissenschaftlich zu begutachten („Peer review“) und publizierten den Preprint mitsamt den Kommentaren am 12. Juli auf der Plattform „eLife“.

Das Bild zeigt die graphische Darstellung der Bögen und Wölbungen eines Gehirns. In überwiegend grünen, blauen und gelben Farben sind die verschiedenen Strukturen zu erkennen.
Das Gehirn von Homo naledi war klein, doch zeigen anatomische Details – hier eine graphische Darstellung des Schädelinneren –, dass sein Gehirn schon in Richtung moderner Mensch strukturiert war. Aber reichte das aus, um ihm die Bestattung von Verstorbenen und die Nutzung von Symbolen zuzutrauen?

Offenbar war es ihnen nicht gelungen, eine der renommierten Wissenschaftszeitschriften wie „Nature“ oder „Science“ für eine Publikation zu gewinnen. Und auch die Kommentare der Gutachter bei eLife fielen nicht gerade schmeichelhaft aus. „Die vier Reviewer sind offenbar einhellig der Meinung, dass dieses Paper überhaupt keine Substanz enthält, die die überwältigend neuen und erstaunlichen Hypothesen untermauern würde“, fasst Gerhard Weber zusammen.

Der südafrikanische Paläoanthropologe ist auf Sponsoren angewiesen

Es sind nicht nur die unzureichenden Beweise für die angeblichen Gräber, mit denen viele Fachleute Probleme haben. „Begräbnisse sind sehr aktive Handlungen und das Höhlensystem ist komplex“, sagt Ottmar Kullmer. „Die Individuen müssten es durch Kanäle und Tunnel bis tief in die Höhle schaffen. Aber ohne Licht, ohne Feuer? Und es fehlt an eindeutigen Nachweisen der Feuernutzung.“ Doch selbst mit Feuer wäre es wegen des Sauerstoffverbrauchs in den engen Höhlenkammern problematisch gewesen, so Kullmer. Und es gebe ein weiteres Rätsel: Es seien keinerlei Grabbeigaben gefunden worden. Der Frankfurter Forscher hält es daher für eher wahrscheinlich, dass die Urmenschen aus anderen Gründen in die Höhle gelangt und dort gestorben seien. Das könne auch über einen längeren Zeitraum, also nacheinander geschehen sein.

Für den Wiener Paläoanthropologen Gerhard Weber steckt Kalkül hinter der voreiligen Veröffentlichung der Forschungsergebnisse. Lee Berger ist auf Sponsoren angewiesen, die seine Ausgrabungen finanzieren – etwa die National Geographic Society – und setzt sehr auf öffentliche Aufmerksamkeit. Kürzlich ist eine Dokumentation über die neuesten Entdeckungen bei Netflix ausgestrahlt worden. Im August erschien Bergers Buch „Cave of Bones“ – herausgegeben von National Geographic. Und auch der Weltraumflug der Fossilien passt in dieses Schema.

„Eine Evidenz sehe ich nicht“, betont Gerhard Weber mit Bezug auf die Begräbnisszenarien des Urmenschen. „Aber es ist eine Geschichte, die sich in den Medien gut verkauft.“

Und darin liegt Lee Bergers große Stärke.

VGWort Pixel