Mai Thi Nguyen-Kim: „Ich dachte alles, was die Wissenschaft braucht, ist mehr Aufmerksamkeit“

Die Journalistin im Pandemia-Gespräch über das Verhältnis von Medien und Wissenschaft und warum sie das Wort „Covidioten“ ablehnt

35 Minuten
Mai Thi Nguyen-Kim bei der lit.Cologne Sonderedition Veranstaltung 'Mit Fakten gegen Fakes! Mai Thi Nguyen-Kim über die kleinste gemeinsame Wirklichkeit' im Theater im Tanzbrunnen. Köln, 22.10.2021

Wie sprechen Wissenschaft und Medien eigentlich über Corona? Und mit wem? Warum erreichen sie so viele Menschen nicht mit den Fakten? Was ist schief gelaufen in den vergangenen zwei Jahren Pandemie-Berichterstattung?

In der neuen Folge des Pandemia-Podcasts wollten Nicolas Semak, Laura-Salm-Reifferscheidt und ich einen kritischen Blick auf unser eigenes Tun werfen. Wir haben dafür auch zwei Menschen, die in den vergangenen zwei Jahren sehr viel und sehr erfolgreich kommuniziert haben, zu ihren Erfahrungen befragt: Mai Thi Nguyen-Kim und Christian Drosten.

In der Pandemia-Folge spielen wir Ausschnitte aus den beiden Gesprächen. Die Langfassung gibt es als Bonus-Episoden – und hier für alle als Transkript nachzulesen. Wir haben das Gespräch zur besseren Lesbarkeit ein wenig gekürzt und sprachlich geglättet.

Ich war total überrascht von der großen Impflücke.

Pandemia: Mai, du schreibst ja in deinem Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit", dass du dir nicht sicher bist, ob die Corona-Pandemie die bisher beste oder die bisher schwierigste Zeit für die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft ist. Das ist jetzt so ein Jahr her. Wie hat sich deine Meinung geändert?

Mai Thi Nguyen-Kim: Sie wird zunehmend pessimistischer. Inzwischen bin ich fast geneigt zu sagen, dass die ganze Pandemie dem Vertrauen und dem Verständnis in die Wissenschaft eher geschadet hat als genützt.

Pandemia: Wow. Warum?

Mai Thi Nguyen-Kim: Ich glaube, ich war da selber ein bisschen naiv, weil ich anfangs dachte, alles, was die Wissenschaft braucht, ist mehr Aufmerksamkeit. Ich dachte, das einzige Problem der Wissenschaft ist, dass sich niemand dafür interessiert und dass niemand zuhören will. Das war natürlich gefärbt durch meine persönliche Erfahrung. Auch damals als Chemikerin, das war ja immer so der Gesprächs-, der Small-Talk-Killer, wenn man am Anfang der WG-Party fragt, „Was machst du so? Ich bin Chemikerin“ – und dann ist so totale Ratlosigkeit bis Angst im Gegenüber zu sehen. Ich hatte so eine ganz naive, wholesome Vorstellung davon, dass Homo sapiens ja total das neugierige Wesen ist und eigentlich wollen wir alle verstehen und wir wurden nur vergrault in der Schule von unseren Chemielehrerinnen oder Chemielehrern und wenn man sich nur damit mal befasst, dann findet man es ja doch ganz toll und dann verstehen wir das alles besser. Ich habe bei der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, den ich mit Harald Lesch entgegennehmen durfte, (…) brennend so gesagt, ja, und warum eigentlich sitzen in den ganzen Talkshows nicht immer mindestens eine Expertin oder ein Experte? Das kann doch nicht sein. Und jetzt ist es ja so und ich muss einfach einsehen, das war total naiv, was ich da dachte, dass man einfach nur das Spotlight auf die Wissenschaft richten muss und dann wird alles gut. Aber ich glaube fast, es wird schlimmer, dadurch, dass das Spotlight viel zu grell, viel zu klein ist und der öffentliche Diskurs viel zu emotional ist, viel zu zugespitzt. Inzwischen glaube ich, dass manche jetzt glauben, sie würden Wissenschaft verstehen, weil man so viel darüber redet und das finde ich fast noch gefährlicher: Dass man glaubt, man kennt sich aus, tut es aber nicht. Das ist noch gefährlicher, als wenn man wenigstens weiß, mit Wissenschaft habe ich nichts zu tun.

Pandemia: Aber gleichzeitig ist es ja schon so, dass ganz viele Leute sich da viel mehr für interessieren, das ist doch erst mal ein erster Schritt, der erst mal schön ist, oder? Glaubst du, das ist einfach so eine überschwängliche Reaktion, weil man halt auch von einem wissenschaftlichen Thema selbst betroffen ist?