Ohren auf beim Beobachten: Wie Vögel ein klingendes Habitat schaffen

Vögel singen und rufen. Das ist bekannt. Doch sie machen auch noch ganz andere Geräusche. Genau hinzuhören, eröffnet uns nicht nur neue Klangwelten, sondern ist sogar gesund.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
47 Minuten
Die Klangforscherin Patricia Jäggi richtet ihr Mikrophon auf über ihr fliegende Küstenseeschwalben.

Im Herbst ist das Vogelkonzert nicht so vielstimmig wie im Frühling. Dennoch höre ich auf einem kurzen Spaziergang durch den Zürcher Stadtwald Rotkehlchen, Zaunkönig, Hausrotschwanz, Blau- und Kohlmeisen, einen Kleiber, Bund- und Grünspecht sowie einige Rabenkrähen. Habe ich eine Vogelart an ihrer Stimme erkannt, konzentriere ich mich auf den nächsten Gesang oder Ruf.

Für etliche Hobbyornithologen sei dieses Verhalten ziemlich typisch, meint die Kulturanthropologin und Klangforscherin Patricia Jäggi. „Birders“ hörten gerne selektiv, sie richteten ihr Gehör auf eine Art nach der anderen und hakten dabei eine Vogelliste ab.

Kulturell geprägt auf Singvögel

Patricia Jäggi untersucht die Beziehung zwischen Menschen und ihrer klingenden Umwelt zusammen mit weiteren Forschenden an der Hochschule Luzern. Dabei konzentrieren sie sich auf die Lautäusserungen der Vögel. In Anlehnung an „Soundscapes“, was so viel wie „Klanglandschaften“ bedeutet, spricht Jäggi im Fall ihrer Forschungsobjekte von „Birdscapes“: „Uns interessiert, wie wir Menschen die Vögel wahrnehmen und wie diese Wahrnehmung kulturell geprägt ist.“

Denn dass ich auf dem Waldspaziergang vor allem Singvögel wahrgenommen habe, ist möglicherweise nicht nur dem Zufall geschuldet. Viele Wissenschaftler und Künstler hätten ihren Fokus lange Zeit auf die Singvögel gelegt und somit unsere Wahrnehmung der Umwelt mitgeprägt, sagt Patricia Jäggi.

Eine Nachtigall singt mit weit geöffnetem Schnabel.
Eine Meisterin unter den Singvögeln: Gerade in der romantischen Dichtung war die Nachtigall sehr beliebt.

So haben Singvögel in der Literatur bedeutende Auftritte. Man denke an die Nachtigall, den Singvogel par excellence, der in vielen Gedichten auftaucht. Für den romantischen Dichter Percy Shelley stand die Nachtigall gar für den Dichter selbst: „Ein Dichter ist eine Nachtigall, die in der Dunkelheit sitzt und singt, um ihre Einsamkeit mit süssen Klängen aufzuheitern.“

Auch besteht zwischen der Musik und dem Vogelgesang traditionell eine enge Verbindung. Berühmt sind die Kompositionen von Olivier Messiaen, der selbst ein ausgezeichneter Ornithologe war. Er bezeichnete die Vögel als die grössten Musiker, die unseren Planeten bewohnten, und seine Vogelkonzerte wie den „Catalogue d’Oiseaux“, „Le Réveil des oiseaux“ oder Teile seiner Oper „Saint François d’Assise“ als „ein kontrolliertes Zwischterchaos“.

Im 19. Jahrhundert hätten Forscher, die sich dem Vogelgesang widmeten, noch über eine musikalische Ausbildung verfügt, sagt Patricia Jäggi. Sie transkribierten den Gesang in Notenschrift. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dies dank Mikrophonen sowie Sonogrammen, also der grafischen Darstellung von Schallwellen, unnötig. Die Wissenschaft des Vogelgesangs entkoppelte sich von der Musik.

Subjekte Hörgewohnheiten und objektive Mikrophone

Wie stark Hörgewohnheiten und kulturelle Traditionen prägen, erfuhr Patricia Jäggi, als sie im vergangenen Jahr für ihre Forschungsarbeit nach Island reiste. Anders als in der Schweiz sind die dortigen „Birdscapes“ weit weniger von Singvögeln bestimmt. Auf der Insel, wo es kaum Wald gibt, dominieren stimmlich vor allem Meeresvögel und Koloniebrüter wie etwa die Küstenseeschwalbe. Zudem ist die Bevölkerungsdichte vergleichsweise gering, menschengemachte Geräusche sind seltener. „Ich verbrachte bei meinen Tonaufnahmen mehr Zeit mit wilden Vögeln als mit Menschen“, erzählt Jäggi.

Manchmal stellte die Klangforscherin ihr Mikrophon in der Nähe einer Kolonie von Küstenseeschwalben ab und entfernte sich, nicht nur, um die Vögel nicht zu stören, sondern auch den Angriffen der wehrhaften Seeschwalben zu entgehen. Als Jäggi später die Aufnahmen anhörte, nahm sie neben den Rufen der Seeschwalben auch deren Bewegungen deutlich war. Sie hörte deren Flügelschlag und vernahm, wie sie auf dem Wasser landeten und sich darin bewegten.

„Feldaufnahmen können unsere Hörerfahrung erweitern“, sagt Jäggi. „Anders als wir Menschen kennen Mikrophone keine Hörgewohnheiten.“ Oder anders gesagt: Mikrophone zeichnen nicht nur die schönen Vogelgesänge auf, die wir so gerne hören, sondern auch alle anderen Klänge und Töne, die ein Vogel erzeugt.

Zwar ist bekannt, dass Vögel nicht nur Rufe und Gesänge, sondern auch andere Geräusche mit Signalwirkung erzeugen. So klappern die Weissstörche mit den Schnäbeln, wenn sie sich am Horst begrüssen, die Ringeltauben klatschen beim Balzflug mit den Flügeln, und die Bekassinen erzeugen mit ihren Schwanzfedern ein Meckern, das ihnen den Namen „Himmelsziege“ beschert hat.

Der Himmel: ein klingendes Habitat

Viele weitere Bewegungsgeräusche blieben aber meistens unbeachtet, sagt Patricia Jäggi. Ihr sei dank der Tonaufnahmen bewusst geworden, dass Vögel in der Luft allein durch ihre Bewegungen ein eigenes „klingendes Habitat“ erzeugten, zu dem wir „Erdlebewesen“ üblicherweise nicht so leicht Zugang fänden.

Wiederum ist es die Kunst, die uns diesen Zugang zu erleichtern vermag. Wie Messiaen die Gesänge der Singvögel für seine Kompositionen verwendete, lassen sich zeitgenössische Komponistinnen wie die deutsche Carola Bauckholt von Fluggeräuschen inspirieren. Ihr Stück „Zugvögel“ beginnt mit fliegenden Schwänen. Auch der Techno-Musiker Dominik Eulberg lässt weit mehr als Singvogelstimmen in seine Stücke einfliessen.

Das wäre dann auch der Ratschlag für den „Birder“: nicht nur selektiv zu hören, sondern die Ohren zu öffnen sowie zu versuchen, die Umwelt ganzheitlich wahrzunehmen, neben den Stimmen und Bewegungsgeräuschen der Vögel auch den Wind in den Blättern der Bäume, das Rascheln eines unbekannten Tieres im Unterholz, aber auch die Schritte eines Spaziergängers oder das Bellen eines Hundes. „Dies hilft uns, mit der Umwelt enger in Kontakt zu kommen“, ist Patricia Jäggi überzeugt.

Bewusstes Hören steigert Wohlbefinden

Diese Verbundenheit, die das bewusste Hören von Vogelstimmen schaffen kann, hat sich auch in den Interviews gezeigt, die Forschende der Hochschule Luzern mit Vogelbeobachterinnen und -beobachtern durchführten. So meinte ein Teilnehmer: „Wunderbar ist das Gefühl, mitten in der Vogelwelt zu sein.“

Dass das Beobachten von Vögeln zur eigenen geistigen Gesundheit beiträgt, bestätigt eine soeben veröffentlichte Studie. Forscherinnen und Forscher des King’s College in London wollten wissen, wie sich das Vogelbeobachten auf die mentale Verfassung auswirkt. Dafür statteten sie knapp 1300 Personen mit einer Smartphone-App aus, die es ermöglichte, die Beobachtungen und das Hören von Vögeln gleichzeitig mit dem aktuellen Gemütszustand zu erfassen. Die Resultate waren eindeutig: Die Begegnungen mit Vögeln steigern das Wohlbefinden – sogar auch von denjenigen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern, die an einer Depression leiden.

Bereits ein kurzer Kontakt mit der Vogelwelt tut uns Menschen also gut. Und wenn die Vögel mal nicht singen oder rufen, so kann man sich an ihren Flug- und Bewegungsgeräuschen, ja, schlicht an ihrem Da-Sein erfreuen.

Eine männliche Amsel am Boden mit leicht geöffnetem Schnabel.
Den Gesang der Amsel möchten viele auch auf einer einsamen Insel nicht missen.

Umfrage: Mit der Amsel auf die einsame Insel

Die Luzerner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsprojekts „Seeking Birdscapes“ fragten rund 30 Personen, die eine besondere Affinität zu Vögeln aufweisen, welche drei Vögel sie auf eine stille, einsame Insel mitnehmen würden. Patricia Jäggi hätte eigentlich erwartet, dass die Nachtigall, der Liebling der Dichter, in der Umfrage des Öfteren auftauchen würde. Doch nur fünf Befragte kürten die Nachtigall zu einem ihrer Lieblingsvögel. Doppelt so häufig wurde die Amsel ausgewählt, dann folgten Mönchsgrasmücke, Zaunkönig und Pirol.

Insgesamt seien 28 Vogelarten genannt worden, darunter auch eher aussergewöhnliche wie Bienenfresser, Rohrdommel und Sepiasturmtaucher, sagt Patricia Jäggi. Von den Lieblingsvögeln gehörten über die Hälfte zu den Siedlungsbewohnern: „Anscheinend tendieren wir dazu, die Vögel unserer näheren Umgebung besonders zu mögen.“

Aber bei weitem nicht alle Arten aus dem eigenen Umfeld sind beliebt: Die Forschenden fragen auch nach denjenigen Vögeln, die man auf keinen Fall auf einer einsamen Insel antreffen möchte. Von 26 Befragten, die eine Antwort gaben, zeigte sich ein Dutzend sehr tolerant: Sie nannten keine zu verbannende Vogelart. Am schlechtesten schnitten Rabenvögel wie Elstern sowie Raben- und Saatkrähen ab.

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