Nach Angriff: Kernkraftexperte warnt vor Ausfall des ukrainischen Reaktorpersonals

Uwe Stoll, Chef der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, hält Betrieb von Saporischschja durch Russen nicht für möglich. Längere Laufzeiten in Deutschland „technisch sicher machbar“

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Nachtaufnahme des Kraftwerksgeländes. Zu sehen sind gepanzerte Fahrzeuge und zwei Blitze.

Die Kämpfe um das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja haben die Weltöffentlichkeit in Aufruhr versetzt und die Internationale Atomenergieagentur auf den Plan gerufen. Was genau ist passiert, wie groß sind die Gefahren, worum geht es beim Kampf um die ukrainische Stromversorgung? Und was bedeuten die Entwicklungen im Ukraine-Krieg für die Energiedebatte in Deutschland?

Uwe Stoll ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), nach eigener Beschreibung „Deutschlands zentrale Fachorganisation auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit". Die GRS gehört zu 46 Prozent der Bundesrepublik Deutschland und zu 46 Prozent den Technischen Überwachungs-Vereinen (TÜV). Stoll war ab 1990 als Diplomingenieur und Experte für Kernkraftwerke für Siemens und Areva tätig, bevor er 2016 an die Spitze der GRS rückte.

Herr Stoll, in Deutschland und ganz Europa sorgen sich heute viele Menschen wegen den Vorgängen im ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja, dem größten Europas. Besteht akute Gefahr?

Stoll: Rein technisch gesehen besteht aktuell nach meinem Kenntnisstand keine akute Gefahr. Das Kernkraftwerk selbst ist offenbar nicht selbst getroffen worden. Gebrannt hat ein Schulungsgebäude außerhalb des eigentlichen Kraftwerks. Zudem wurde im Eingangsbereich das Gebäude, in dem die Verwaltung sitzt, offenbar durch eventuelle Querschläger beschädigt. Im Bereich des Zwischenlagers wurden laut ukrainischen Behörden zwei Artilleriegeschosse entdeckt. Aber sonst ist nichts getroffen worden, und die Strahlenbelastung ist den regionalen Messgeräten zufolge nicht erhöht. Was mir mehr Sorgen macht, ist das Schicksal des Betriebspersonals.

Was wissen Sie dazu?

Es gab gerade eine Mitteilung der ukrainischen Betreiberfirma, dass die Betriebsmannschaften seit dem Morgen des 3. März im Dienst sind. Aber so ein Kernkraftwerk braucht, selbst wenn es abgeschaltet ist, aufmerksame Mannschaften, die es bedienen und überwachen. Wenn das Personal übermüdet ist und sich Sorgen um das Überleben ihrer Familien zuhause machen muss, kommt einiges zusammen, was vom Reaktor ablenkt. Die Russen haben zwar das Gelände unter Kontrolle und verhindern unerlaubten Zutritt, aber inwieweit ausreichend Personal, das für diese Reaktoren geschult ist, zur Verfügung steht, ist derzeit nicht bekannt.

Wie bleiben Sie aktuell über das Geschehen auf dem Laufenden?

Wir arbeiten seit vielen Jahren mit der zuständigen ukrainischen Behörde und der Fachorganisation, die der Gesellschaft für Reaktorsicherheit entspricht, zusammen. Wir haben auch direkte Kontakte zum Kraftwerksbetreiber, teilweise auch zum Personal in den Kernkraftwerken. Diese Kontakte nutzen wir natürlich gerade alle, um Informationen zu bekommen.

Es wird immer Waffen geben, deren Geschosse oder Druckeinwirkung größer oder schneller sind als das, wofür ein Kernkraftwerk ausgelegt ist.

Die Ukrainer sprechen von russischem Beschuss des Kernkraftwerks, die Russen sagen, es sei Sabotage gewesen. Was wissen Sie dazu?

Ich kann mich nur auf die Bilder verlassen, die wir gesehen haben. Da standen Panzer vor der Anlage und es gab Schusswechsel. In der Ukraine gibt es die Besonderheit, dass die Nationalgarde die Anlagen bewacht, also anders als in Deutschland durch Militärverbände. Wenn da russische Verbände auf das Kernkraftwerk vorrücken, dann reagiert die Nationalgarde entsprechend ihrem Auftrag darauf, um die Anlage zu beschützen. Das liegt in der Logik des Krieges. Aber genau aus dem Grund sollte man Kernkraftwerke auf keinen Fall in kriegerische Handlungen hineinziehen.

Jetzt wurden das Bildungszentrum- und der Eingangsbereich getroffen – aber was, wenn solche Geschosse im Reaktorgebäude einschlagen?

Die sicherheitstechnisch relevanten Teile solcher Anlagen sind natürlich gegen Einwirkungen von außen geschützt. Das betrifft das Eintreffen einer Explosionsdruckwelle ebenso wie den Aufprall von Objekten. Mein Kenntnisstand ist, dass die Blöcke in Saporischschja für die Einwirkung eines 10 Tonnen schweren Objekts mit 750 Stundenkilometern ausgelegt sind.

Eine Panzergranate…

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Uwe Stoll ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS).
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