Weiße Haie im Mittelmeer: Vom vermeintlichen Monster zur Ikone des modernen Artenschutzes?

Blutrünstiger Killer und gnadenlose Fressmaschine, Monster: Steven Spielbergs „Der Weiße Hai“ hat die Reputation der Raubfische nachhaltig ruiniert. Dabei sind viele Haie und verwandte Arten weltweit und gerade auch im Mittelmeer stark gefährdet. Weil die Zeit drängt, wird die Forschung kreativ – und will uns alle auf Haisuche schicken.

vom Recherche-Kollektiv Ozean & Meere:
9 Minuten
Unterwasserfoto eines schwimmenden Weißen Hais mit charakteristisch hellem Bauch und grauer Oberseite, der von Sonnenlicht bestrahlt wird.


Dieser Text ist Teil unserer Recherche-Serie "Zukunft Mittelmeer – wie wir Natur und mediterrane Vielfalt bewahren"

50 Jahre „Der Weiße Hai"

Ein Zucken, ein Schlagen, einfach jede Bewegung, die sich vom Hintergrundrauschen unter Wasser abhebt. Oder besser noch Blut, das eine verlockende Duftspur im Meer hinterlässt: Kaum ein Signal entgeht dem Weißen Hai. Seine sensitiven Sinnesorgane verzeichnen auch noch so zarte Hinweise auf andere Lebewesen und führen ihn auch über weite Strecken zu seinen Opfern. So fürchten und auch bewundern wir diese Tiere – oder glauben sie seit einem halben Jahrhundert zu kennen. Der US-Autor Peter Benchley brachte vor genau 50 Jahren Jaws, auf Deutsch „Der Weiße Hai“, auf den Markt. Der millionenfache Bestseller basierte zwar auf echten Haiattacken und doch war die Story extrem überspitzt. Ein Jahr später folgte Steven Spielbergs gleichnamige Verfilmung, die den Weißen Hai endgültig als blutrünstige Fressmaschine ins kollektive Angstbewusstsein brannte.

Längst ist klar: komplett zu Unrecht. Weiße Haie (Carcharodon carcharias) sind grandiose Jäger und mit maximal gut sieben Metern Länge die größten Raubfische der Welt. Sie halten sich als marine „Müllentsorger“ aber vor allem an kranke und tote Tiere, ziehen ansonsten meistens so elegant wie diskret durch die Meere. Auch Bullen- oder Tigerhaie sind nicht gezielt hinter Menschen her, wie die Zahlen zeigen: Im Schnitt sterben sechs Menschen pro Jahr an Haiattacken, 2023 waren nach der International Shark Attack File, einer Datenbank der University of Florida, insgesamt zehn Opfer. Dabei springen und planschen wir nur allzu gern und millionenfach in ihrem Lebensraum – dem Ozean. Sogar das Mittelmeer ist ein Hai-Hotspot: für kleinere Arten der Knorpelfisch-Klasse wie für große. Und auch für ganz große: Selbst Weiße Haie leben hier.

Das Foto aus Spielbergs Film „Der Weiße Hai“ zeigt Menschen in Badekleidung im Meer, die panisch ans Ufer flüchten.
Wovor flüchtet die Menge? Der Hai muss gar nicht zu sehen sein, damit wir die Gefahr aus der Tiefe erahnen. Der „Weiße Hai“ – hier eine Szene aus Steven Spielbergs Film – prägt seit einem halben Jahrhundert unser Verhältnis zu den Raubfischen.

Ein Phantom in Gefahr

Bislang sind sie im Mittelmeer allerdings wenig mehr als ein Phantom. „Die Population im Mittelmeer ist einzigartig, aber wenig bekannt“, sagt Jeremy Jenrette von der US-amerikanischen Universität Virginia Techer, der sich mit der Spezies in seiner Doktorarbeit beschäftigt. Gerade weil sie eben nicht als mordlustige Monster durchs Wasser ziehen, sondern lieber unbemerkt bleiben. Zum Leidwesen der Forschung, die für ihre Arbeit bislang auf seltene Sichtungen als verstreute Puzzlestücke angewiesen waren.

Wo halten sich die Tiere auf? Wo sind ihre Kinderstuben? Wie viele Weiße Haie leben überhaupt noch im Mittelmeer? All diese offenen Fragen will Jenrette nun endlich beantworten. Denn so wenig von den Tieren bekannt ist, lässt vor allem der Vergleich mit historischen Berichten nur eine Schlussfolgerung zu: Die Population im Mittelmeer ist in Gefahr. Sie wird entsprechend auf der Roten Liste gefährdeter Arten als critically endangered geführt, was für „vom Aussterben bedroht“
steht. „Die nächsten zehn bis zwanzig Jahre sind entscheidend für ihren Erhalt“, glaubt Jeremy Jenrette. Er und weitere Haiforscherïnnen haben sich unter der Leitung von Francesco Ferretti von der Virginia Tech zum Team White Shark Chase zusammengeschlossen, das die letzten verbleibenden Weißen Haie im Mittelmeer so schnell wie möglich finden und mit unterschiedlichen Ansätzen studieren will, um sie dann möglichst effektiv schützen zu können. Wie aber hilft man gefährdeten Arten, deren Status unklar ist und die man kaum aufspüren kann? Zum Glück musste das Team White Shark Chase nicht bei Null anfangen.

Sichtungen und Berichte von Weißen Haien lassen sich mindestens bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Die bisher umfassendste Studie stammt aus dem Jahr 2020 und sammelte das gesamte verwertbare Material: 773 ganz unterschiedliche Berichte über den Weißen Hai von ganz verschiedenen Quellen, die bis ins Jahr 1860 zurückreichen. Auf dieser Grundlage konnten sie die Entwicklung der Population räumlich im Meer und über lange Zeit zumindest modellieren. Konkrete Zahlen sind das nicht, aber trotz aller Vorsicht zeigen selbst die niedrigsten Schätzungen in eine beunruhigende Richtung: Die mediterrane Population hat sich stark verändert und wurde allein in den letzten Jahren vermutlich um rund 60 Prozent dezimiert. Vielleicht auch um mehr, vielleicht auch um weniger, aber der starke Rückgang an sich ist unstrittig.

Grafik mit Weltkarte, auf der Haiattacken aus dem letzten Jahr verzeichnet sind. Am schlimmsten waren Australien und Florida betroffen. Die Zahlen dazu: 69 Bisse ohne vorherige Provokation der Tiere. Zahen dieser Attacken endeten tödlcih.
Jedes Jahr werden Menschen von Haien angegriffen. Das „International Shark Attack File“ (ISAF) von der University of Florida ist eine Datenbank, die diese Zahlen sammelt. Die Bilanz des letzten Jahres: 69 Menschen wurden ohne Provokation der Tiere von Haien angegriffen, wobei zehn Attacken tödlich endeten.

Der Hai im Wassertropfen

Um die Tiere aufzuspüren, will Jenrette die Raubfische selbst nachahmen: Nicht nur Beutetiere hinterlassen verräterische Spuren im Wasser, auch die Jäger verbreiten eine Art „genetische Duftspur“. Der Forscher fokussiert auf environmental DNA (eDNA): Eine Methode, die sich mittlerweile als sehr geeignet bei der Suche nach scheuen, seltenen und verborgenen Arten etabliert hat. Die Idee dahinter: So wie Verbrecher an Tatorten hinterlassen auch Tiere verräterische DNA in der Umwelt. Das ist genetisches Material, das sie mit Hautschuppen verlieren, mit Schleim absondern oder mit Kot und Urin freisetzen. Boden-, Luft- und Wasserproben enthalten diese eDNA, die isoliert und analysiert werden kann. In ihrer Gesamtheit bildet sie die Fauna am Standort ab. Eine gezielte Suche zeigt ganz konkret, ob bestimmte Arten vor Ort vertreten sind.

Anders gesagt: Jenrette muss keinen Weißen Hai zu Gesicht bekommen, um ihn im Mittelmeer nachzuweisen. Ein paar Tropfen Wasser genügen. Das Team beschloss, die Suche in der Straße von Sizilien zu starten, weil hier des Öfteren auch Jungtiere gesichtet werden. Das lässt vermuten, dass die Gegend eine Kinderstube für Weiße Haie ist, hier also erwachsene Tiere zur Paarung zusammenkommen und dann der Nachwuchs aufwächst. Wenn irgendwo auf einen schnellen Nachweis Weißer Haie zu hoffen ist, dann wahrscheinlich in dieser Region.

Gesagt, getan. Das Team hatte Glück und bekam über das Programm Yachts for Science Zugang zu einer Luxusjacht. Auf einer ausgedehnten Cruise vor Ort konnten sie neben anderen Ansätzen auch an mehreren Standorten von der Oberfläche bis zu einer Tiefe von 100 Metern Wasserproben nehmen. In den darin enthaltenen DNA-Spuren suchten sie dann nach einem spezifischen Genfragment, das nur bei Weißen Haien vorkommt. Und tatsächlich: Vier der 69 Proben waren positiv. Mindestens ein oder auch mehrere Weiße Haie müssen sich in der Zeit vor der Probenentnahme dort oder im Umkreis getummelt haben.

Unterwasserbild einer Seekatze, die zu den Knorpelfischen gehört. das Tier hat einen stumpfen Kopf mit ausgeprägter „Nase“ und großen Augen. Der Körper läuft nach hinten lang und schlank mit fast durchgehender Rückenflosse aus. Das Muster ist hellbraun mit geschwungenen Linien.
Zu den Knorpelfischen gehören neben Haien und Rochen die weniger bekannten Seekatzen – die auch Spöken, Seedrachen, Seeratten oder Geisterhaie genannt werden. Dieses Tier gehört der Art „Chimaera monstrosa“ an.
Unterwasserfoto eines Marmorrochens, der auf sandigem Untergrund ruht. Das Tier fügt sich farblich ein, ist hellgrau mit dunkleren Punkten gemustert.
Im Mittelmeer sind viele Knorpelfische gefährdet, neben Haien auch Rochen. Dieser Marmorrochen (Raja undulata) gehört dazu. Diese Art ist vor allem wegen der Überfischung bedroht.

Überraschungen im Beifang

Auch jenseits der Ikone „Weißer Hai“ interessieren sich Forschende aktuell für die Mittelmeer-Haie und ihre Verwandten aus der Familie der Knorpelfische. Ein internationales Team unter der Leitung britischer Forscherïnnen von der University of Exeter beispielsweise kartierte zwischen 2018 und 2022 für eine Studie, die 2023 publiziert wurde, das Vorkommen von Knorpelfischen als Beifang vor der Nordküste Zyperns. Nicht im Alleingang, sondern zusammen mit den zuständigen Ämtern sowie mit lokalen Expertinnen und Experten aus dem Naturschutz – und mit kleineren Fischereien. Letzteres war entscheidend für den Erfolg, weil die Forscherïnnen auf dem Weg zwar nicht auf Luxusjachten landeten, aber immer wieder von den Fischern in deren Holzbooten mit aufs Meer genommen wurden.

Zumindest in Stichproben konnte das Team so mit eigenen Augen verfolgen, welche Knorpelfischarten wo als Beifang ins Netz gehen. Wichtige Daten, die die Forscherïnnen mit weiteren Beobachtungen vor Ort, auch von Alleingängen der Fischer, und mit Berichten über Knorpelfische aus lokalen und Sozialen Medien ergänzten. Ihr Ergebnis: Insgesamt kamen 36 Knorpelfischarten im Beifang vor, von denen 61 Prozent als global und die Hälfte als regional im Mittelmeer bedroht gelten.


Die Studie unterstrich einmal mehr, wie groß unsere Wissenslücken über Haie sind. Von 24 der gefundenen Arten war bis dahin nicht bekannt gewesen, dass sie in dieser Region überhaupt vorkommen. Eine weitere wichtige Erkenntnis: „Wir haben Jungtiere von verschiedenen Knorpelfischen gefunden“, sagt der auf Zypern lebende Brite Robin Snape, einer der verantwortlichen Autoren der Arbeit. „Die Küstenbereiche im Norden Zyperns sind also möglicherweise wichtige Kinderstuben für die betreffenden Spezies.“

Foto eines toten und mit Blut befleckten Hais, der als Beifang endete. Eine junge Frau mit langem Haar beugt sich über das  Tier und legt ein Maßband an.
Welche Knorpelfische landen vor der Küste Nordzyperns im Beifang? Eine mehrjährige Studie analysierte auch die Vielfalt der gefangenen Haie, untersuchte, bestimmte und vermaß die Tiere.

Knorpelfische und ihre Kinderstuben

Die Artenvielfalt und die mögliche Bedeutung der Region für ihre Fortpflanzung beeindruckten auch die zuständigen Behörden. Prompt wurde im Mai 2023 ein Gesetz beschlossen, das den Handel und Fang bestimmter Knorpelfischarten reguliert und zum Teil auch verbietet – unter Berufung auf die Daten der Studie.

Dass das Gesetz keine trockene Vorschrift ist, sondern eine wichtige Handhabe für den Artenschutz, zeigt sich schon jetzt zu Beginn der diesjährigen Angelsaison. „Nach einer ruhigen Winterperiode sind Haie an diesem Wochenende wieder in die lokalen Medien gekommen“, berichtet Snape. „Ein Kurzflossen-Makohai und ein kleiner Sandtiger wurden gefangen. Einige Presseagenturen veröffentlichten Bilder, auf denen die Fischer verherrlicht und die Haie verunglimpft wurden. Aber dank der neuen Gesetzgebung können wir darauf hinweisen, dass der Fang und der Handel mit ihnen jetzt illegal sind. Uns lässt hoffen, dass das auf diese Weise bekannt wird.“

Snape betont: Nicht alle Fischer stellen den Tieren nach. Ganz im Gegenteil. „Es gibt hier rund 350 Schiffe, die in kleinem Maßstab Fische fangen“, weiß der Forscher. „Weniger als ein Drittel der Fischer betreibt das als Full-Time-Job. Sie sind sich der Probleme am meisten bewusst und viele von ihnen wollen die Tiere schützen. Wir beobachten, dass sie immer häufiger in den Sozialen Medien Videos von sich selbst teilen und zeigen, wie sie bedrohte Knorpelfische aus dem Beifang wieder im Meer freisetzen.“

Sie können sich vielleicht auch für ein weiteres Projekt erwärmen, an dem Snape gerade mit Kollegïnnen arbeitet. Es geht darum, Fischernetze mit grünen LED-Lampen zu bestücken. Deren Lichtblitze könnten, wie erste Erfolge vermuten lassen, große Raubfische wie Haie abhalten, also den Beifang reduzieren.

Grafik mit Karte der Straße von Sizilien zwischen Italien und Nordafrika. Verzeichnet sind 16 Standorte, wo Wasserproben genommen wurden. Vier davon sind rot markiert, waren also positiv.
Insgesamt nahm das Team um Jenrette 69 Wasserproben an 16 Standorten. Mit Erfolg: In vier Proben konnte DNA nachgewiesen werden, die von Weißen Haien stammt. Ein vielversprechender Anfang, dem nun ein groß angelegtes Projekt folgen soll – mithilfe von Bürgerwissenschaflterïnnen.

Das Zeug zur Ikone?

Auch Jeremy Jenrette und sein Team White Shark Chase haben beschlossen, sich Helfer außerhalb der Wissenschaftsszene zu suchen. Denn allein können sie nicht das ganze Mittelmeer absuchen. Viele Hände können aber viele Daten produzieren und nicht immer braucht es für wissenschaftliche Arbeit tiefgründige Vorkenntnisse. White Shark Chase zählt daher auf die Unterstützung von Cititzen Scientists, sogenannten Bürgerwissenschaftlerïnnen“. Sie könnten im Mittelmeer eigene Wasserproben nehmen, in denen die eDNA dann von Profis ausgewertet werden. Dafür soll es bald ein benutzerfreundliches Kit geben. „Alle können mitmachen, auch Surfer, Kajaker, Segler und Fischer, die ohnehin auf dem Meer unterwegs sind“, betont Jenrette.

Doch damit nicht genug. Die eDNA-Kits sollen auch an Menschen verschickt werden, die in anderen Regionen der Welt mit Weißen Haien leben. Der globale Ansatz könnte helfen, die Daten aus dem Mittelmeer einzuordnen. Und er könnte helfen, die überall bedrohten Weißen Haie aufzuspüren, um national und international effektive Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Bestenfalls schreiben die eDNA-Kits und andere innovative Ansätze ein neues Kapitel für die lange Geschichte, in der Weiße Haie unsere Imagination beschäftigen – aber nicht als vermeintliches Monster, sondern als Ikone des modernen Artenschutzes.

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