München geht Schritt für Schritt Richtung Zero-Waste-City

München möchte abfallfrei werden. Bis 2022 soll der kommunale Entsorgungsbetrieb mit mehreren Partnern ein Konzept erarbeiten, wie die Stadt dieses Ziel erreichen kann

von Daniela Becker
7 Minuten
Reinigungstruppen beseitigen große Mengen an Müll im Englischen Garten in München ab 3 Uhr nachts die durch die Partys der lauen Sommernächte entstanden sind

Aufgeweichte Burgertüten, Pizzakartons. Plastikbecher rollen über den Weg. Abfalleimer quellen über, der Boden liegt voller Glasscherben. Überall steht Leergut.

Es sind die Überreste von geselligem Zusammensein unter freiem Himmel. Wegen der Corona-Pandemie treffen sich die Münchnerïnnen gerne unter freiem Himmel. Sie bringen Getränke mit und feiern. Die unzähligen Lieferdienste liefern Snacks; mit dabei Unmengen von Verpackungsmüll. Der dann allzu oft an Ort und Stelle entsorgt wird.

Betrachtet man diese unschönen Müllhaufen, scheint die Pandemie ein ehrgeiziges Vorhaben noch schwerer werden zu lassen, als es ohnehin schon ist. Denn die bayrische Landeshauptstadt möchte Zero-Waste-City werden – also müllfrei. So hat es der Münchner Stadtrat Anfang Juli 2020 beschlossen.

„Zero Waste“, wort­wörtlich über­setzt „Null Müll“, ist der Überbegriff einer Bewegung, die versucht die Ursachen für die stetig wachsenden Müllberge zu bekämpfen. Die Zero Waste International Alliance definiert darunter den Er­halt aller Ressourcen durch verantwortungsvollen Konsum, nachhaltige Produktion und Wiederverwendung und -verwertung von Produkten und Materialien. Abfall soll, wo immer es geht, vermieden werden.

Über 400 europäische Kommunen wollen müllfrei werden

Die erste Stadt in Europa, die eine Zero-Waste-Strategie entwickelte, war Capannori. Die rund 50.000 Einwohnerïnnen umfassende Gemeinde in der Toskana reduziert seit 2007 stetig ihren Müll. Der Abfall wird dort seither direkt an der Haustür abgeholt, es wurde eine Müllsteuer eingeführt, deren Höhe sich nach der Menge des anfallenden Mülls bemisst, es gibt Fortbildungen für alle Bürger. In zehn Jahren konnte die Müllmenge insgesamt um 40 Prozent von knapp zwei Kilo pro Tag pro Person auf knapp 1,2 Kilo gesenkt werden. Der Restmüll ging sogar um fast 60 Prozent zurück. Der Anteil der Mülltrennung liegt deutlich über dem europäischen Durchschnitt bei 82 Prozent. Mehr als 400 europäische Städte und Gemeinden haben sich inzwischen dem Netzwerk „Zero Waste Europe“ angeschlossen, um dem italienischen Vorzeigeprojekt nachzueifern.

Wie kompliziert das Unterfangen ist, zeigt ein Blick in die Abfallstatistik der bayrischen Landeshauptstadt. Jeder der 1,5 Millionen dort lebenden Menschen produzierte im Jahr 2019 rund 360 Kilogramm Restmüll, insgesamt 559.109 Tonnen. Das entspricht einem Anteil von 40 Prozent der Gesamtmüllmenge, der nicht verwertet wird. Bis 2022 soll nun der kommunale Entsorgungsbetrieb, der Abfallwirtschaftsbetrieb München (AWM), mit mehreren Partnern ein Konzept erarbeiten, wie die Stadt dieses Ziel erreichen kann.

„Die 40 Prozent Restmüll werden kaum von einem Tag auf den anderen wegfallen. Das wird ein stetiger Prozess“, sagt Sabine Schulz-Hammerl, 2. Werkleiterin der AWM. Wie diese Schritte genau bemessen werden, ist noch nicht entschieden. Die Stadt Kiel, die 2019 als erste deutsche Stadt eine Zero-Waste-Strategie verabschiedet hat, will die Restmüllmenge pro Kopf und Jahr bis 2035 zunächst um 15 Prozent reduzieren, Haus- und Geschäftsabfälle um die Hälfte. 107 Maßnahmen sind in der Hafenstadt an der Ostsee vorgesehen, darunter Zero-Waste-Schulen, öffentliche Trinkwasserspender und eine Baumaterialbörse. Zudem will Kiel eine kommunale Verpackungssteuer, wie Tübingen sie bereits beschlossen hat. Dort fallen ab nächstem Jahr 50 Cent pro Einweg-Becher und -Teller sowie 20 Cent pro Besteck-Set an. Es gibt also bereits allerhand Beispiele, an denen sich München orientieren kann.

Zero-Waste-Strategie soll partizipativ entwickelt werden

„Wir wollen diese Strategie nicht im Hinterzimmer entwickeln, sondern partizipativ“, sagt Markus Mitterer, Projektleiter Zero Waste bei Rehab Republic, einer Organisation, die Projekte zur Bildung für nachhaltige Entwicklung umsetzt und gemeinsam mit dem Wuppertal Institut, Stakeholder Reporting und Prognos diesen Prozess begleitet.

Dazu wurde als erstes eine Gruppe mit Akteuren der Stadtgesellschaft ins Leben gerufen: Politikerïnnen der verschiedenen Stadtratsfraktionen, Verwaltungsmitarbeiterïnnen, Vertreterïnnnen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft vernetzen und tauschen sich über Verbesserungspotenziale aus. BürgerÏnnen konnten über die neu eingerichtete Webseite zerowaste-muenchen.de Vorschläge einreichen. In mehreren Workshops sprachen die Teilnehmenden darüber, wie etwa Littering, also die Vermüllung von öffentlichen Plätzen verringert werden könne oder welche bewusstseinsbildenden Maßnahmen am wirksamsten sein könnten. Rund 400 Ideen kamen zusammen, die nun strukturiert werden. Laut Beschluss sollen dem Stadtrat noch dieses Jahr Eckpunkte mit Kostenabschätzungen der einzelnen Maßnahmen präsentiert werden.

Sharing wird immer selbstverständlicher

Fragt man Sabine Schulz-Hammerl, ob in diesem Prozess bahnbrechend neue Ideen aufgetaucht sind, muss sie ein bisschen schmunzeln. „Nein, in meinen 30 Jahren in der Entsorgungswirtschaft habe ich das meiste davon schon mal gehört. Viel selbstverständlicher als früher ist aber der Sharing- und Wiederverwendungsgedanke“, sagt Schulz-Hammerl.

Angebote für Bürgerïnnen für ein ressourcenschonendes Leben bietet der AWM schon heute: Auf der Webseite finden sich umfangreiche Secondhand- und Reparaturführer in vielen Sprachen. In der „Halle 2“, einem Gebrauchtwarenkaufhaus, werden gute, gebrauchte Waren zu günstigen Preisen feilgeboten. Die Gegenstände stammen von den Münchner Wertstoffhöfen. An vielen Plätzen der Stadt stehen „Bücherschränke“, in die man Bücher legen oder kostenlos mitnehmen kann. In diesen Vitrinen bietet Rehab Republic den neuen Zero Waste Guide (PDF-Download) an, der viele Tipps und Tricks für ein abfallarmes Leben enthält.

Beim Abfallmanagement wird es in München darum gehen, wie Wertstoffe, also Biomüll, Glas und verwertbare Kunststoffe besser vom Restmüll getrennt werden können. In der bayrischen Landeshauptstadt gibt es keine Gelbe Tonne. Hier muss man sich auf den Weg zu einer „Wertstoffinsel“ machen, um den Joghurtbecher, Dosen aber auch Altglas in Containern zu entsorgen. Ein Weg, der vielen zu weit ist, weshalb der Plastikmüll in München oft im Restmüll landet und mit diesem verbrannt wird. „Aus meiner Sicht könnte eine Anhebung der Restmüllgebühren ein Hebel sein“, sagt Markus Mitterer.

Verbesserte Gesetzgebung notwendig

Müllgebühren sind etwas worauf die Kommune direkten Einfluss hat. An vielen anderen relevanten Stellschrauben kann sie aber nicht drehen. „Der Verpackungswahn ist extrem“, sagt Schulz-Hammerl.

Wie in vielen größeren Städten gibt es zwar auch in München zwei kleine Unverpackt-Läden, bei denen Kunden Mehrwegbehälter mitbringen und Lebensmittel aus Containern abfüllen können. Weil das Angebot begrenzt und auch nicht gerade preisgünstig ist, erreichen solche Angebote aber nur einen winzigen Teil der Münchnerïnnen. Schulz-Hammerl wünscht sich, dass der Handel hier weniger zögerlich agiere: „Natürlich muss alles hygienisch bleiben, aber in dem Bereich lässt sich noch viel verbessern.“

„Wenn es um Abfallvermeidung von unnötigen Verpackungen oder Recyclingfähigkeiten von Produkten geht, muss es endlich auf Bundesebene bessere Gesetzgebung geben“, fordert Mitterer.

Ein erster Impuls kommt dazu aus der EU: Seit Juli 2021 ist es in der Europäischen Union verboten Einweg-Kunststoffartikel wie Einwegmesser und -gabeln, To-Go-Becher, Fast-Food-Schachteln, Trinkhalme und auch Wattestäbchen zu verkaufen. Läden dürfen nur noch anbieten, was sie schon eingelagert haben.

Die EU ist dieses Jahr auch einen wichtigen Schritt gegangen, um den immer schnellerwerdenden und umweltschädlichen Zyklus von Neukauf und Verschleiß von Geräten zur durchbrechen. Anfang März ist der als „Recht auf Reparatur“ bezeichnete Zusatz der Ökodesign-Richtlinie (2009/125/EG) in allen 27-EU-Staaten in Kraft getreten. Sie ist Teil eines größeren Projekts zur Reduzierung der Umweltbelastung durch langlebige und energieverbrauchsrelevante Produkte. Kühlschränke, Spülmaschinen, Waschmaschinen, Fernseher und weitere Produkte müssen künftig so gebaut werden, dass Komponenten mit herkömmlichen Werkzeugen zerstörungsfrei auseinandergebaut werden können. Ziel ist es, dass Produkte eine längere Lebensdauer haben und damit die Menge an Elektroschrott signifikant reduziert wird sowie wertvolle Ressourcen und das Klima geschont werden. Dazu müssen Hersteller Kleinteile wie beispielsweise Sprüharme, Dichtungen oder Besteckkörbe bei Geschirrspülern bis zu zehn Jahre lang verfügbar sein.

Nur Mehrweg auf der Wiesn

Ab 2023 müssen Gastronomiebetriebe und Einzelhändler Lebensmittel und Getränke auch in Mehrwegbehältern anbieten, das hat der Bundestag im Mai entschieden. Das könne aber nur ein Anfang sein, fordert die Deutsche Umwelthilfe. Die besten Abfälle seien die, die gar nicht entstehen. Die DUH setzt sich daher für Mehrwegverpackungssysteme zur Abfallvermeidung ein. Ein gutes Beispiel seien Mehrweggetränkeverpackungen.

Münchens berühmtes Volksfest, die Wiesn, hat sich früh für diesen Weg entschieden. Schon seit 1991 ist auf dem Oktoberfest ausschließlich Mehrweggeschirr und -besteck zugelassen. Der wuchtige, gläserne Maßkrug – das berühmte Aushängeschild des Volksfestes – ist das bekannteste Beispiel hierfür. Aber auch Softdrinks und Wasser werden nur in Mehrwegflaschen mit einem Mindestpfand von einem Euro abgegeben. Getränkedosen sind nicht erlaubt. Auch die Behältnisse, in denen Lebensmittel und Bierkrüge angeliefert werden, müssen wiederverwendbar sein. Was auf dem Oktoberfest seit 30 Jahren selbstverständlich ist, müssen die Münchner Gastronomen erst wieder lernen. Eine Mehrweg-Beratungsstelle wurde vom Münchner Stadtrat auf den Weg gebracht.

Verantwortungsvoller Einkauf im kommunalen Bereich

Laut Umweltbundesamt kauft die öffentliche Hand im Jahr für rund 500 Milliarden Euro ein. Große Kommunen wie München haben durch ihre Kaufkraft enormes Potenzial Nachfrage nach langlebigen Produkten zu schaffen. „Die Beschaffung ist ein Hebel, wo wir als Kommune wirklich etwas bewegen können“, sagt Julia Post, die seit 2020 für die Grünen im Münchner Stadtrat sitzt. Anfang Dezember soll im Münchner Stadtrat ein Hearing zur nachhaltigen Beschaffung stattfinden. Das ist eine Art interne Fortbildung, bei der sich die Verwaltung und Stadträte austauschen können. Dabei kommen Expertïnnen zu Wort, die zum Thema forschen; es werden Best-Practice-Beispiele aus anderen Städten vorgestellt, aber auch Dinge, bei denen sich anderswo gezeigt hat, dass sie sich schlecht umsetzen lassen.

Ein Leitfaden zur nachhaltigen Beschaffung und eine Zero-Waste-Strategie versprechen nicht automatisch Erfolg, meint die grüne Stadträtin. „Wir können uns viele Ziele setzen und abstrakte Beschlüsse fassen. Entscheidend ist letztlich, dass es umgesetzt wird“, sagt Julia Post. „Ich glaube, dass es immens wichtig ist, dass alle Beteiligten ein Gespür dafür entwickeln, wie zentral ihr Wirken ist“, so die Stadträtin weiter. Sie plädiert für flache Hierarchiestrukturen in der Verwaltung, wertschätzende Kommunikation und Fortbildung, wie Vor-Ort-Besuche in produzierenden Gewerken. „Es macht einen großen Unterschied, wenn man mal gesehen hat, welche Bedeutung der Produktaufbau für die Recyclingfähigkeit eines Produktes hat.“

Stolpersteine und Aufbruchsstimmung

Wie zäh Transformationsprozesse sein können, zeigt ein Beispiel aus dem Stadtrat. Die Stadt München verbraucht jedes Jahr sehr viel Papier – legt man alle Blätter aneinander, reicht das zweimal um die Erde. Nach zehn Jahren Debatte gibt es seit kurzem ein Pilotprojekt zur papierlosen Stadtratsarbeit; darunter die Möglichkeit, die Stadtratsanträge digital zu erhalten. Doch blickt man während der Stadtratsversammlungen auf die Tische der Kommunalpolitikerïnnen, stapeln sich dort bei einigen weiterhin Unmengen Papier.

Der Weg zu mehr Abfallvermeidung sei kompliziert und es gebe nicht die eine, einfache Lösung, sagen sowohl Sabine Schulz-Hammerl als auch Markus Mitterer. Aber wenn sie über Münchens Zero-Waste-Strategie sprechen, verwenden beide ein Wort: Aufbruchstimmung.


Eine leicht veränderte Version des Textes erschien in „Das Parlament“.

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