Kohleausstieg 2030: Wie wichtig ist Lützerath für die Energiesicherheit?

Lützerath ist Teil des politischen Kompromisses zum Kohleausstieg 2030 in NRW. Welche Rolle Lützerath für die Energiesicherheit und Klimaschutzziele spielt, dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.

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Der bei Lützerath abgebaggerte Löss wird für Rekultivierung benötigt.

Das FAQ wird laufend aktualisiert.

Mangelnde Transparenz: Was ist problematisch an dem RWE-Deal?

Mangelnde Transparenz ist ein Hauptkritikpunkt des politischen Kompromisses zum Kohleausstieg bis 2030 in Nordrhein-Westfalen. Nur ein äußerst kleiner Kreis habe von den Gesprächen im vergangenen Herbst zwischen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und RWE gewusst, berichtet das Nachrichtenmagazin Spiegel. Was besprochen wurde, bleibt im Detail unklar. Auf Nachfrage des Magazins teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit, dass es von den Treffen keinerlei Gesprächsprotokolle gebe.

Ein weiterer Kritikpunkt lautet: Die angefertigten Gutachten zum weiteren Vorgehen in Lützerath und dem vorgezogenen Ausstieg aus der Kohle seien von Zeitdruck und damit auch mangelndem Zugang zu Fakten und einer gründlichen Überprüfung der Gemengelage geprägt. Laut Spiegel wiesen „alle Gutachter darauf hin, dass sie unter Zeitdruck standen und gewisse Aspekte nicht schnell genug prüfen konnten. Der Bedarf an Kohle spricht am Ende recht knapp gegen einen Erhalt von Lützerath. Und viele der Daten stammten ursprünglich von RWE – oder aus Gutachten, die der Tagebaubetreiber selbst in Auftrag gegeben hatte.”

Ist die Energiesicherheit gefährdet, wenn auf die Kohle unter Lützerath verzichtet wird?

Für die schwarz-grüne NRW-Landesregierung ist die Sache klar. Sie beruft sich auf ein Gutachten, demzufolge die Kohle für Deutschlands Energiesicherheit aufgrund der Gaskrise erforderlich ist. Die Landesregierung sagt, dass bis 2030 noch 187 bis 280 Mio. Tonnen Braunkohle aus dem Tagebau Garzweiler benötigt würden. Würde man auf die Kohle unter Lützerath verzichten, könnten nur noch maximal 170 Mio. t Braunkohle gewonnen werden – das wäre zu wenig.

Es gibt jedoch Studien, die das anders bewerten. So hat die kohlekritische Kampagne Europe Beyond Coal beim Beratungsunternehmen Aurora Energy Research eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Aurora Energy Research sieht den Bedarf dessen, was im Tagebau Garzweiler II noch gefördert werden muss, bei 93 bis 124 Mio Tonnen. Dafür müsste der Tagebau Hambach vollständig ausgekohlt werden. Die Autoren haben dabei ausschließlich die für die Stromerzeugung nötige Menge berechnet, die Braunkohle-Veredelung wurde nicht mit analysiert.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dagegen kommt in seiner Sonderausgabe zum Krieg in der Ukraine im April 2022 zu folgendem Schluss: „Bei Verzicht auf die russischen Energieträger würde es zu einer kurzfristig höheren Auslastung der Braunkohlekraftwerke in den drei Regionen (Rheinland, Leipziger Land, Lausitz) kommen. Jedoch ist gesichert, dass für die noch benötigte Braunkohleverstromung mehr als ausreichend Vorräte in den Braunkohletagebauen im Rahmen der aktuellen Revierpläne und Leitentscheidungen vorhanden sind. Die Abbaggerung weiterer Dörfer wegen darunterliegender Braunkohlevorräte ist für den Braunkohlestrombedarf jedoch nicht notwendig. Dies gilt auch für die Orte Lützerath im Rheinland und Mühlrose in der Lausitz.“

Auch eine Kurzstudie im Auftrag von Europe Beyond Coal, an der unter anderem die TU Berlin und das DIW beteiligt waren, sieht aus Sicht der Energiesicherheit keinen Bedarf an den Kohlevorräten unter Lützerath. Dafür spricht auch, dass die Europäische Union vor Weihnachten 2022 die Mengenbegrenzung im Europäischen Emissionshandel verschärft hat: Stark steigende CO2-Preise und ein sich beruhigender Gasmarkt dürften dazu führen, dass Kohle noch vor 2030 ökonomisch unattraktiv wird.

Ist die Braunkohle-Veredelung der Knackpunkt für Lützerath?

Die unterschiedlichen Angaben in den Studien zu den noch benötigten Kohle-Fördermengen hängen auch mit den unterschiedlichen Nutzungsarten der Kohle zusammen. Der größere Teil wird zur Stromerzeugung verwendet. Ein weiterer Teil werde jedoch laut Gutachten der Landesregierung für die sogenannte Braunkohle-Veredelung benötigt. Veredelungsprodukte sind neben Briketts, die immer weniger genutzt werden, vor allem Braunkohlestaub, der in industriellen Kraftwerken Verwendung findet und gerade in der aktuellen Phase von teurem und knappem Gas intensiv eingesetzt wird. Das landeseigene Gutachten beziffert diesen zusätzlichen Bedarf auf 55 Mio. Tonnen – dieser Argumentation folgend muss die Kohle unter Lützerath abgebaggert werden.

Allerdings geht die Studie im Auftrag der NRW-Landesregierung bereits davon aus, dass der Bedarf an Veredelungsprodukten sinkt. Auch hat der Gutachter den Bedarf lediglich geschätzt. Im Dezember 2022 hat die letzte Brikettfabrik in Westdeutschland geschlossen. Allein das reduziert die Kohlenachfrage um 2,5 Mio.Tonnen.

Das DIW kritisiert die geschätzten 55 Mio. Tonnen als „zu hoch“ und sieht den Bedarf bei eher 41 Mio. Tonnen. „Zur Energiesicherheit trägt dies aber nicht bei, weil die Veredelungsmengen aus Braunkohle im rheinischen Revier nicht mehr den Wärmebedarf der Bevölkerung betreffen“, so Prof. Dr. Claudia Kemfert. Die Zahlen zur Braunkohle-Veredelung seien dabei in die Berechnungen eingeflossen.

Der Kohlenstaub wird nun größtenteils als Brennstoff in der Industrie verwendet, der in der Regel mindestens durch Heizöl ersetzt werden kann. Denn bei Kohlenstaub handelt sich um ein technisch einfach zu ersetzendes Produkt – mit weitaus weniger Emissionen. Etwa ein Fünftel des Kohlestaubs werde exportiert, erklärt Catharina Rieve von der Forschungsgruppe CoalExit an der technischen Universität Berlin. „Letzten Endes entfällt im Bereich der Veredelung aber nach dem Ende der Brikettierung die Verwendung im Sinne des Allgemeinwohls. Ist es da bergrechtlich überhaupt noch legitim den Besitz einzuweisen und einen Weiler zu zerstören, wenn die den Ausschlag gebenden Mengen für den Bedarf der Kohle unter Lützerath als Kohlestaub-Industrieprodukt für den Export und die Herstellung von Asphalt, Zement etc. verwendet werden?“, bemängelt Rieve.

Auch der BUND Landesverband Nordrhein-Westfalen kritisiert die errechneten 55 Mio. Tonnen als “vollkommen unrealistische Annahme.”

Der Streit um Lützerath dreht sich jedoch nicht nur um die Kohle zur Stromerzeugung oder zur Braunkohle-Veredelung. Es geht auch darum, wie das Rheinische Revier nach dem Ende des Tagebaus gestaltet werden kann. Abraum und Löss sollen etwa aus Lützerath, Wasser soll aus dem Rhein kommen. Das wirft viele Fragen auf, mehr dazu hier.

Sind Deutschlands Klimaschutzziele zu halten, wenn die Kohle unter Lützerath gefördert und verbrannt wird?

Weil im Gegenzug zum Abbau unter Lützerath der Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen wird, sieht die nordrhein-westfälische Landesregierung Deutschlands Klimaschutzziele nicht gefährdet. Die mit RWE vereinbarte Kürzung um acht Jahre beinhaltet allerdings bereits, dass der Konzern zwei Kohlekraftwerksblöcke 15 Monate länger als geplant, nämlich bis März 2024 betreiben darf. RWE gibt an, dass durch den Deal zum vorgezogenen Braunkohleausstieg rund 280 Mio. Tonnen Kohle in der Erde bleiben und fünf Dörfer um den Tagebau herum gerettet werden.

Jedoch zeigte sich 2022, dass der hohe Gaspreis im Vergleich zum Vorjahr zu mehr Kohlenutzung und damit zu zusätzlichen 6 Mio. Tonnen CO2-Emissionen im Stromsektor geführt hat. Manfred Fischedick rechnet mindestens für 2023 und 2024 damit, „dass die im Klimaschutzgesetz festgelegten Sektorziele im Gegensatz zu den letzten Jahren nicht erreicht werden können”.

Durch den vorgezogenen Ausstieg entstehe nach 2030 noch einmal ein signifikanter Minderungseffekt gegenüber den bisherigen Planungen, der die aktuellen Mehremissionen deutlich überschreiten dürfte, glaubt Fischedick. Denn unter Berücksichtigung der Wirkungen des Europäischen Emissionshandelssystem hätten die Entscheidungen von Bundes- und Landesregierung einen klaren emissionsmindernden Effekt.

Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, beurteilt die Situation ähnlich: „Solange die Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich hart bleibt und sinkt und der CO2-Preis wirkt, können wir vorübergehend auch mehr Kohle verfeuern – weil dies zur Einsparung von Emissionen an anderer Stelle führt, also unterm Strich nicht zusätzliche klimaschädliche Abgase in die Atmosphäre gelangen.”

Die deutschen Klimaziele seien nicht mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar, da sie zu schwach sind, kritisieren hingegen Klimaaktivist:innen wie Luisa Neubauer. „Dieser vorgezogene Kohle-Deal, der da gemacht wurde, ist ein Greenwashing-Deal, könnte man sagen, denn unterm Strich – das zeigen Gutachten – wird damit gar kein CO2 eingespart. Es wird die Menge an CO2, die sonst emittiert würde, in einem kürzeren Zeitraum ausgestoßen”, so Neubauer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.

Die Fragestellung, welche Kohlemenge im Einklang mit dem Pariser 1,5-Grad-Ziel stünde, hat die NRW-Landesregierung nicht untersuchen lassen. Das hat jedoch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) analysiert. Das Ergebnis: Aus dem Tagebauen Hambach und Garzweiler dürften insgesamt nur noch etwa 200 Mio. Tonnen Braunkohle gefördert werden. Das bedeutet, dass sobald der Braunkohleverbrauch 200 Mio. Tonnen übersteigt, das 1,5-Grad-Ziel gerissen wird.

Da das DIW-Gutachten von 2021 ist, dürfte aber die 1,5-Grad-Schwelle erheblich niedriger liegen, da die Sektorenziele bei Gebäude und Verkehr nicht eingehalten wurden und der Kohleverbrauch aufgrund der Energiekrise höher war als geplant. Da die Sektorenziele bei Gebäude und Verkehr vermutlich auch in den nächsten Jahren nicht erreicht werden, dürften aktuelle Korrekturen des erlaubten Kohleverbrauchs auf Sand gebaut sein. DIW-Expertin Claudia Kemfert zeigt sich wohl deshalb sicher: „Das 1,5-Grad-Ziel ist mit der geplanten Abbaggerung von Lützerath nicht zu halten. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die anderen Sektoren in wenigen Jahren die Mehremissionen kompensieren werden." Mehr dazu von ihr auch in ihrem Klima-Podcast (ab Minute 10).

Können die Kohle-Emissionen noch kompensiert werden?

Laut dem Sachstandbericht der Arbeitsgruppe III des Weltklimarats IPCC können CO2-Emissionen von Unternehmen nicht mehr an Land kompensiert werden. Es ist damit mit Blick auf das zu erreichende 1,5-Grad-Ziel nicht mehr möglich, dass Unternehmen CO2-Zertifikate für Waldflächen kaufen, um eigene Emissionen etwa aus Braunkohle zu neutralisieren. Unternehmen müssen vielmehr ihre eigenen Emissionen reduzieren und ihre Wertschöpfungsprozesse klimaneutral gestalten.

Was steckt hinter dem Vorschlag eines Moratoriums für die Abbaggerung von Lützerath?

Die Organisation Scientists For Future hat sich in einem offenen Brief für ein Moratorium ausgesprochen. In der Begründung heißt es: „Wir stellen die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten einer erzwungenen Räumung. Welche Wirkung hat die Räumung im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der deutschen Klimapolitik? Lützerath ist ein Symbol geworden. Es geht um ein aussagekräftiges Zeichen für die notwendige Abkehr vom fossilen Zeitalter.”

Es gebe substantielle wissenschaftliche Zweifel an der akuten Notwendigkeit einer Räumung. Ein Moratorium biete „die Chance für einen transparenten Dialogprozess mit allen Betroffenen zur Entwicklung von zukunftsfähigen Pfaden der gesellschaftlichen Transformation und Zeit für die Überprüfung der zugrunde liegenden Entscheidungsprämissen”.

Auch Niklas Höhne vom NewClimate Institute wies gegenüber dem ZDF darauf hin, dass es inzwischen neue Studien zur aktuellen Versorgungslage gebe und die Entscheidungslage sich daher inzwischen geändert hat. Daher könne man die Entscheidung, die Kohle unter Lützerath abzubaggern, „nochmal überdenken” und einen „anderen Weg finden, die alle Seiten zufriedenstellt”. Lützerath sei ein Präzedenzfall angesichts dessen, dass „noch viele andere sehr schwierige Entscheidungen” anstünden. Denn „wenn wir diese Entscheidung hier nicht hinbekommen, weil es zum Konflikt kommt, dann wird es sehr schwierig, alle anderen genauso schwierigen Entscheidungen zur Klimawandel durchzubekommen."

Muss Lützerath geräumt werden?

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht des Unternehmens RWE ist diese Frage mit einem Ja zu beantworten. Hierbei spielt auch die Gewinnung von wertvollem Lössboden für die Rekultivierung der Tagebaue eine zentrale Rolle. Aus energiewirtschaftlicher und gemeinwohlorientierter Sicht hingegen ist die Kohle unter Lützerath nicht notwendig, argumentieren zahlreiche unabhängige Expert:innen. Weder droht ein Blackout noch ist mit anderen Versorgungsengpässen zu rechnen – trotz des anhaltenden Kriegs in der Ukraine. Die Frage, wie wichtig der Lössboden ist, wurde im öffentlichen Diskurs bisher weitgehend ausgeklammert.

„In Summe betragen die volkswirtschaftlichen Kosten für unsere Gesellschaft durch die Verbrennung der Kohle, die zu zusätzlichen Klimaschäden in Deutschland und weltweit führt, ein Vielfaches der RWE-Gewinne. Es ist daher an der Politik, durch entsprechende Eingriffe gesamtgesellschaftliche Schäden abzuwenden”, kommentiert Nachhaltigkeitsprofessor Pao-Yu Oei und Leiter der Forschungsgruppe FossilExit im Tagesspiegel.

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