Vögel und Kunst unter einem Dach vereint
Das Museum „Ciäsa Granda“ in der Südschweiz ist das Werk eines Universalgelehrten. Von Markus Hofmann
![Ein Vogel steht auf einem Ast mit roten Beeren. [AI]](https://riff.media/images/1100492.jpg?w=3600&h=2025&fit=crop-47-50&s=17b19bd5044252066a9a514b98119003&n_w=3840&n_q=75)
Rund eine halbe Stunde dauert die Fahrt mit dem Postauto vom mondänen St. Moritz entlang der Oberengadiner Seen nach Maloja, dann windet sich der Bus durch Haarnadelkurven hinunter ins wild anmutende Bergell. Es fühlt sich an, wie wenn man einer Riffkante entlang taucht: Plötzlich tut sich unter einem der Abgrund auf, und eine neue Welt beginnt. Der Malojapass liegt auf 1815 Meter über Meer, Castasegna, das Dorf an der Grenze zu Italien, 1200 Meter tiefer. Dazwischen erstreckt sich das Bergell auf lediglich 20 Kilometer. Der Fluss Maira hat sich tief ins Gestein gegraben, beidseits begrenzen Dreitausender das Tal. Und mitten drin in, im 600-Seelen-Dorf von Stampa, steht an der Hauptstrasse ein altes, viergeschossiges Haus. Erbaut wurde es 1581. Mitte des letzten Jahrhunderts stand es kurz vor dem Zerfall. Doch dann erwarb ein Bergeller Kulturverein das Gebäude, sanierte es und verwandelte es ab 1965 in ein Museum.
Heute ist das Museum „Ciäsa Granda“ (was im Bergeller Dialekt „grosses Haus“ bedeutet) in Stampa vor allem ein Ziel für Kunstfreunde. Aus dem Bergell stammt die Künstlerfamilie Giacometti, deren berühmtester Sprössling, Alberto Giacometti (1901– 1966) zu den bedeutendsten Bildhauern und Malern des 20. Jahrhunderts zählt. Zwar zog Alberto Giacometti mit etwas über 20 Jahren nach Paris, wo sich die Crème de la Crème der Kunstszene aufhielt, doch er kehrte immer wieder nach Stampa und in sein dortiges Atelier zurück, das sich gleich neben dem Museum befindet. In der „Ciäsa Granda“ sind Werke Giacomettis und anderer Künstler aus der Region zu sehen. Doch dank eines Mannes, der im besten Sinne des Wortes ein Universalgelehrter war, bietet das Museum noch weit mehr als millionenteure Kunst.
Das „Museo Ciäsa Granda“ ist das Werk von Remo Maurizio, der sich zeit seines Lebens nicht nur für Kunst und Kultur, sondern auch für die Natur des Bergells begeisterte und einsetzte. Maurizio, der diesen Frühling im Alter von 83 Jahren verstorben ist, war von Anbeginn Kurator des Museums, daneben arbeitete er als Lehrer, er schrieb als Naturwissenschaftler Fachartikel über die Fauna und Flora des Bergells, erhielt den Ehrendoktor der Universität Basel verliehen – und war ein ausgezeichneter Ornithologe.
![eine Nahaufnahme eines Vogels [AI]](https://riff.media/images/1100496.jpg?w=3600&s=f1ba7e42aa53d1fe6c3fd896c3845a95&n_w=3840&n_q=75)
Das Talmuseum, das Maurizio bis 2008 leitete, beherbergt deshalb nicht nur Kunst und Zeugnisse der Bergeller Geschichte sowie eine prächtige geologische Sammlung, sondern auch eine umfassende Ausstellung der Vogelarten, die im Bergell regelmässig brüten oder hier durchziehen. Auch Irrgäste haben einen Platz im Museum gefunden. Die Anzahl der ausgestellten Vogelarten, die Maurizio über Jahrzehnte sammelte und meistens in Chiavenna oder Biel präparieren liess, beläuft sich auf gegen 200.
Die Natur des Bergells ist vielseitig. Gebirgs- und Mittelmeerklima liegen nahe beeinander. Hochgebirgsarten wie das Alpenschneehuhn und oder das Steinhuhn sind hier anzutreffen. Und nur wenig entfernt von der Schweizer Grenze brütet in Italien dann auch schon die Blaumerle. Im Tal wachsen Kastanien-, Laubmisch-, Fichten- sowie Lärchen- und Arvenwälder. Steppenartige Abhänge wechseln sich ab mit Felslandschaften und Trockenrasen, sonnenexponierte Lagen kontrastieren mit dunklen Seitentälern. Die Landwirtschaft, darunter auch der Anbau von Wein, wird weitgehend extensiv betrieben.
So sorgfältig wie hier grösstenteils noch mit der Landschaft umgegangen wird, so umsichtig gestaltete Maurizio die Vogelsammlung. Sein pädagogisches Geschick als Lehrer und seine Liebe fürs Detail brachte er zur Geltung. Viele der Vögel präsentierte Maurizio in Dioramen, die das natürliche Habitat der jeweiligen Art darstellen. Einfache, eigenhändig gemalte Aquarelle bilden den Hintergrund der Schaukästen, die gerade bei Kindern noch immer auf Begeisterung stossen und damit ein Ziel von Maurizio erfüllen: Kindern eine Freude zu bereiten und sie damit zum Naturschutz zu erziehen.
![ein Kaninchen in einer verschneiten Umgebung [AI]](https://riff.media/images/1100523.jpg?w=3600&s=a9fe0a19a7bf213990697cac5b4e6d07&n_w=3840&n_q=75)
So sitzt das Schneehuhn im weissen Federkleid in einer Winterlandschaft, gleich neben einem Hasen, der die Farbe seines Fells ebenfalls der Jahreszeit angepasst hat. Der Mauerläufer klettert eine Felswand hoch, der Tannenhäher sitzt auf einer Arve, das Steinhuhn guckt aufmerksam zwischen künstlichen Felsen hervor, Wespenbussarde beäugen ein Wespennest, die Blaumerle spaziert durch einen Steinbruch, die Haussperlinge tummeln sich im Sandkasten, und der Gartenrotschwanz sitzt auf einem Zaun neben einer Hundsrose und ist nur durch das kunstvoll gesägte Loch einer Holzwand zu entdecken.
Geordnet hat Maurizio die Vogelarten nicht gemäss der klassischen Systematik, sondern nach dem jeweiligen Biotop, in dem sie im Bergell anzutreffen sind: Über knarrende Holzböden und steile Treppen führt einen die Ausstellung durch Wälder, Wiesen, Felsen, Gewässer, Siedlungen und das Hochgebirge. Sklavisch hat sich Maurizio aber nicht an diese Ordnung gehalten. Greifvögel setzte er auf die Sprossen einer Leiter, um so die Vergleichbarkeit der verschiedenen Arten zu ermöglichen.
Weit weniger aufwendig – und damit deutlich von den Brutvögeln abgegrenzt – werden viele der Wintergäste, Durchzügler und Seltenheitsfunde dargestellt. So sind die Wasser- und Watvögel vom Prachttaucher über den Triel bis zum Kampfläufer schlicht in Reih und Glied geordnet. Und auch einige Kuriositäten dürfen nicht fehlen: Etwas versteckt in einem Durchgang findet sich ein Fichtenkreuzschnabel mit deformierten Schnabel sowie eine Albino-Singdrossel. Ebenso lugt ein Rackelhuhn, ein Hybrid zwischen einem Birk- und Auerhuhn, aus einem Schaukasten hervor.
![Vögel auf einer Stange [AI]](https://riff.media/images/1100491.jpg?w=3600&s=e00bad33c0c34579283ec79404ed3750&n_w=3840&n_q=75)
Die Vogelsammlung atmet nicht nur wegen des alten Hauses, in dem sie sich befindet, den Geist längst vergangener Zeiten. Die Beschriftung der Exponate hätte eine Überarbeitung dringend nötig (viele sind nur in italienischer Sprache), und die Ausleuchtung der Schaukästen ist teilweise mangelhaft. Dennoch verströmt die Ausstellung ihren eigenen Charme und hebt sich wohltuend von manch sterilen Präsentationen in modernen Naturmuseen ab.
Derzeit wird gerade ein Konzept zur Erneuerung der Sammlung erarbeitet. Die spezielle Aura, die Maurizio hier geschaffen hat, sollte unbedingt erhalten bleiben. Wer noch das Original erleben will, dem empfiehlt sich aber, einen Besuch des Bergeller Talmuseums nicht zu lange hinauszuzögern.
![eine Gruppe von Vögeln in einer Glasvitrine [AI]](https://riff.media/images/1100478.jpg?w=3600&s=e43d5a7b07d195e5d588d5a6561cb92b&n_w=3840&n_q=75)
Adresse: Museo Ciäsa Granda, Stampa, Val Bregaglia
Telefon: +41 (0)81 822 17 16
info@ciaesagranda.ch; http://ciaesagranda.ch
Öffnungszeiten: 1. Juni bis 30. Juni: 14.00 bis 17.00 Uhr; 1. Juli bis 20. Oktober: 11.00 bis 17.00 Uhr; Dienstag geschlossen
Eintritt CHF 8.00 / 4.00
Das Museum ist mit dem öffentlichen Verkehr sehr gut erreichbar. Die Fahrzeit von St. Moritz beträgt mit dem Postauto rund 60 Minuten.
Literatur:
Remo Maurizio: Führer des Talmuseums Ciäsa Granda, Stampa (Bergell) 1990.
![ein Gebäude mit einer Flagge an der Seite [AI]](https://riff.media/images/MG-1652.jpg?w=2392&s=a53b63cffea588ac71e9976b86c97fef&n_w=3840&n_q=75)